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Das christliche Verständnis von Kultur

7. November 2008
Kiryanov, Dimitry, Priester

Was ist Kultur? Kann man von „Subkulturen" sprechen? Gibt es eine Wechselbeziehung zwischen Kultur, Zivilisationsprozessen und Geistigkeit? Indem der Autor Dimitrij Kirijanov, Priester und Lehrer des Geistlichen Seminars von Tobolsk, auf diese Fragen antwortet, beschreibt er das Zerfallsmodell der modernen Kultur und macht Vorschläge, wie diese Kulturkrise zu überwinden ist.

Die Antwort darauf, was Kultur ist, erscheint ganz offensichtlich. Und doch ist diese Frage immer noch nicht bis ins Letzte geklärt und strittig. Sogar bei der Definition des Begriffs „Kultur" bestehen Meinungsverschiedenheiten. Dieser Begriff wird auf alles angewandt, womit der Mensch die unterschiedlichen Eigenschaften der Seele und des Leibes entfaltet und vervollkommnet, auf sein Bemühen, durch Wissen und Arbeit das Universum zu erfassen, auf all das, was das soziale, familiäre und auch das bürgerliche Leben in seiner Gesamtheit humaner macht, durch eine Hebung der Moral und eine bessere Organisation. Schließlich vermittelt und bewahrt Kultur die Größe der geistlichen Erfahrung und das innere Bestreben des Menschen im Laufe der Zeit, damit sie der ganzen Menschheit dienen. Der französische Philosoph Emmanuel Mounier sagt: „Kultur ist kein Zweig, sondern die Hauptfunktion des menschlichen Lebens. Für denjenigen, der sich entwickelt, ist alles Kultur... Kultur ist der Mensch... Sie ist Wachstum und Überwindung"[1].

Weit verbreitet ist ein enges Verständnis der Kultur, das sich nur auf das künstlerische Schaffen bezieht. Beide Versuche der Begriffsbestimmung von „Kultur" spiegeln den wahren Sinn dieses Begriffs nicht ganz so wider, wie er sich in der Sprache verfestigt hat. Das Wort „Kultur" ist untrennbar mit dem Wort „kulturell" verbunden: Wenn wir von Kultur sprechen, dann meinen wir vor allem die Kultur des Menschen, seine geistliche Welt. Das lateinische Wort „cultura", das „Bearbeitung", „Erziehung", „Bildung", „Entwicklung" bedeutet, kommt vom Wort „cultus" - „Verehrung", „Anbetung", „Kult". Das weist auf die religiösen Wurzeln der Kultur hin. Nachdem Gott den Menschen geschaffen hatte, gab er ihm seinen Platz im Paradies und befahl ihm, die Schöpfung zu bearbeiten und zu bewahren (Gen. 2,15).

Man kann Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew zustimmen, der sagt, dass man als Zivilisation einen kollektiv-sozialen Prozess bezeichnet, als Kultur aber einen eher individuellen Prozess, der mit dem Inneren des Menschen zu tun hat. Wir können z. B. sagen, dass ein Mensch eine hohe Kultur hat, aber nicht, dass er eine hohe Zivilisation besitzt. Wir sprechen von geistiger Kultur, aber nicht von geistiger Zivilisation"[2]. Iwan Alexandrowitsch Iljin nimmt diesen Gedanken gewissermassen auf: „Ein Volk kann eine alte und verfeinerte Kultur besitzen, aber in den Fragen der äußeren Zivilisation ein Bild der Rückständigkeit bieten. Und umgekehrt: Ein Volk kann auf der höchsten Stufe der Technik und Zivilisation stehen, aber in seiner geistigen Kultur eine Phase des Verfalls erleben"[3].

Kultur ist in erster Linie mit der Persönlichkeit des Menschen verbunden, sie ist ein Abbild seiner inneren Welt. Dagegen spiegelt Zivilisation eher den sozialen Aspekt wider und hat mit den zwischenmenschlichen Beziehungen und den Beziehungen des Menschen zur Natur zu tun. Kultur ist anthropozentrisch. Wie Jean Lacroix sagte, „das Ziel der Kultur ist die Verwirklichung aller menschlichen Fähigkeiten"[4]. Die Verwirklichung der Fähigkeiten setzt jedoch vor allem eine integrale Sicht der Welt und des Menschen in ihr, eine integrale Weltanschauung voraus. Deswegen ist der Begriff „Kultur" im weiteren Sinne als all das, was der Mensch erschaffen hat, ein Synonym für „Zivilisation", und spiegelt nicht den essentiellen Bestandteil der Kultur wider. Unsere Aufgabe ist es, diesen wertvollen Kern in der Kultur aufzuzeigen, der seinen eigentlichen Sinn ausmacht. Von diesem Gesichtspunkt aus steht der Begriff „Kultur" dem Begriff „Geistigkeit" nahe.

Iwan Alexandrowitsch Iljin schreibt, dass Kultur dort beginnt, wo der geistige Inhalt sich die richtige und vollkommene Form sucht. Geistigkeit aber, wie W. Lega bemerkt, „ist das Aufscheinen der umfassenden Einheit der wesentlichen Züge der menschlichen Natur - Verstand, Freiheit, Schaffen, Schönheit"[5]. Geistigkeit ist gleichzeitig das beständige Streben des Menschen zu den höchsten, absoluten, geistigen Werten. Diese Werte sind Wahrheit, Güte und Schönheit. Geistligkeit hat drei Bestandteile - Sittlichkeit, Schönheit und Wissen. Ein geistig hochstehender Mensch zu sein, bedeutet, zu diesen höchsten Werten zu streben, und folglich ihre Existenz anzuerkennen: zu glauben, dass es eine Wahrheit gibt, die vom Menschen erkannt werden kann, dass es das Gute gibt, das man beflissen tun muß. Darin besteht die Schönheit. Also ist das konstituierende Prinzip der Geistigkeit der Glaube an die objektive Existenz der Wahrheit, der Güte, der Schönheit; mit anderen Worten - der Glaube an Gott. Geistigkeit aus der materiellen Komponente der Natur ableiten zu wollen, ist ebenso sinnlos wie der Versuch, angereicherten Atomen freien Willen und Verstand zu verleihen.

Geistigkeit und Kultur sind zwei Aspekte eines wesentlichen Vorgangs: Geistigkeit ist die Tatsache der subjektiven Wahrnehmung des Menschen, und Kultur ist die Erscheinungsform der Geistigkeit für andere. In diesem Zusammenhang wird die untrennbare Beziehung zwischen Kultur und Religion offenbar. Kultur entwickelt sich unter dem unmittelbaren Einfluss religiöser Inspiration, d.h. sie ist „sakral"; sie kommt als religiöse Kunst, Theologie und besondere „geistige" Lebensweise im gesellschaftlichen Dasein zum Ausdruck. Kultur entsteht nur als Folge des Glaubens des Menschen an die Objektivität der Wahrheit, Güte und Schönheit, denn sie ist die Frucht des menschlichen Handelns. Für den Christen ist es verständlich, dass hier nur die Rede von Gott sein kann, der die Wahrheit und Liebe ist, und deswegen ist Kultur das Ergebnis des Glaubens an Gott, seiner Anbetung, des Dienstes an ihm und der Gotteserkenntnis.

Das Christentum war und bleibt die Grundlage und der Motor der Kultur. Wir dürfen auch die Rolle des Christentums in der Kunst, Philosophie, und in der praktischen Organisation des menschlichen Verhaltens, die wir Moral nennen, nicht außer Acht lassen. Die Kirche heiligt und kreiert die wahre Kultur. „Die Kirche ermöglicht es, den Menschen, seine innere Welt und den Sinn seines Daseins neu zu sehen. Als Folge davon kehrt das menschliche Schaffen, wenn es kirchlich wird, zu seinen anfänglichen religiösen Wurzeln zurück. Die Kirche hilft der Kultur, die Grenze des rein irdischen Tuns zu überschreiten, indem sie einen Weg der Herzensläuterung und der Vereinigung mit dem Schöpfer eröffnet. Die Kirche öffnet die Kultur dafür, dass der Mensch mit Gott mitwirken kann»[6].

Die Kultur drückt „Werte" aus, d.h. die Ideale des Lebens und des Denkens, die in den Normen der Urteile und der Handlungen zum Ausdruck kommen. Wenn der Suche und Festigung der „Werte" nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet wird, kann sie in Konflikt mit dem Christentum geraten und ihm den positiven Wert des Wissens, den humanistischen Wert des Fortschritts und der Selbstbehauptung, den Wert des Erfolgs, und folglich den Stolz und das menschliche Vertrauen auf die eigenen Kräfte entgegenstellen. Dies alles ist charakteristisch für die moderne Welt. Für viele Menschen ist die Welt nicht mehr die Schöpfung Gottes, sie ist der Bauplatz des Menschen geworden, und letzterer behauptet sich mehr in seinen eigenen Zukunftsplänen als in seinen Erinnerungen. Kultur wird nun als das Relikt der Vergangenheit wahrgenommen, als etwas, was sich selbst ändern muß infolge der Veränderungen, die der Fortschritt der Menschheit mit sich bringt. Der Mensch legt schon keinen Wert mehr darauf, in derjenigen Kultur verwurzelt zu sein, die ihn erzogen hat und die Wertmaßstäbe der Gesellschaft geformt hat. Der Mensch strebt danach, diese Maßstäbe zu ändern, was unausweichlich zur Zerstörung der Kultur führt. Margaret Mead erklärt die Ursache für die Loslösung des modernen Menschen von der traditionellen Kultur damit, dass der Mensch von einer postfigurativen Kultur, die sich an Modellen der Vergangenheit orientiert, zu einer konfigurativen Kultur überging, für die das soziale Modell überwiegt - das Verhalten der Mitmenschen, und schließlich zu einer prefigurativen Kultur, einer ganz neuen Phase der kulturellen Entwicklung, der die Überzeugung zueigen ist, dass nichts in der Vergangenheit der Menschheit einen Sinn hat, und deswegen für die Zukunft irrelevant ist"[7].

Eine solche Haltung zur traditionellen Kultur führt letztlich zum Verlust der wahren Kultur, zur Veränderung des Begriffs „Kultur" selbst. Heute wird als Kultur nicht mehr nur das bezeichnet, was mit den höchsten Werten des Menschen zu tun hat. Die Begriffe Massenkultur, „Underground-Kultur", Subkultur sind entstanden. Auf einer Konferenz in Tjumen [Stadt in Westsibirien, Anm. D. Übers.], die dem „Tag der slawischen Kultur und Dichtung" gewidmet war, sprach ein angesehener Professor über die Graffiti-Kultur (Aufschriften auf den Zäunen, auf den Schulheften der Schüler). Man nennt auch das heute Kultur. Jedoch widerspricht diese Auffassung der Etymologie des Wortes Kultur. Kultur bedeutet Bewirtschaftung. „Ein Feld umzubrechen, - sagt der französische Philosoph Jacques Maritain, bedeutet menschliche Mühe anzuwenden, um die Natur dazu zu zwingen, solche Früchte hervorzubringen, die sie von sich aus nicht bringen kann. Denn das, was sie selbst hervorbringt, ist nur „wildes" Unkraut"[8].

Der ausgezeichnete russische Religionsphilosoph I. A. Iljin hat zu seiner Zeit angedeutet, dass „man in den ersten Jahrhunderten oft dachte, man müsse Christus annehmen und die Welt ablehnen. Die „zivilisierte" Menschheit unserer Tage nimmt die Welt an und verschmäht Christus... Der richtige Weg aber ist der, dass man infolge der Annahme Christi die Welt annimmt und darauf die christliche Kultur aufbaut, damit wir vom Geist Christi geleitet die Welt segnen, begreifen, und schöpferisch verwandeln..."[9]

Die Aufgabe der Schöpfung einer christlichen Kultur aber fordert den verantwortungsvollen Eintritt in die Welt und „frohes Schaffen" in ihr zur Ehre Gottes, während die moderne säkularisierte und nichtchristliche Kultur nach I. A. Iljin «kreativ überdacht und im christlichen Geist erneuert werden muß»[10].


[1] Zitiert nach: Poupard P., Kirche und Kultur. Mailand-Moskau 1993, S. 10.

[2] Berdjajew N.А., Über die Knechtschaft und Freiheit des Menschen. Paris 1939, S. 108.

[3] Iljin I.A., Grundlagen der christlichen Kultur/ Iljin I.A., Gesammelte Werke in zehn Bdd., Moskau 1993, 1. Bd. S. 300.

[4] Zitiert nach: Poupard P., Kirche und Kultur. Mailand-Moskau 1993, S. 11.

[5] Lega W.A., Über die christlichen Grundlagen der Kultur/ Orthodoxe Kultur: Konzepte, Lehrprogramme, Bibliographie. Moskau 2003, S. 22.

[6] Grundlagen der Sozialkonzeption der Russisch-Orthodoxen Kirche, Moskau 2001, S. 111.

[7] Zitiert nach: Poupar P., Kirche und Kultur. Mailand-Moskau 1993, S. 19

[8] Maritain J., Religion und Kultur/ Maritain J., Wissen und Weisheit, Moskau 1999, S. 39.

[9] Iljin I.A., Grundlagen der christlichen Kultur/ Iljin I.A., Der einsame Künstler. Aufsätze, Reden, Vorlesungen. Moskau 1993, s. 320.

[10] Ibid. S. 323.

Quelle: Портал Богослов.Ru

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Das Christentum als eine Religion der politischen Korrektheit im modernen Europa: Illusionen und realistische Perspektiven

12. März 2009
Shokhin, Vladimir

Dieser polemische Artikel von Dr.Phil. W. K. Schokhin, dem Leiter der Abteilung für Religionsphilosophie des Instituts für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAW), ist der Zukunft des Christentums in Westeuropa gewidmet. Der Autor beschäftigt sich mit der Frage, ob das Christentum es schaffen könne, unter den Bedingungen totaler politischer Korrektheit zu überleben, und beantwortet diese Frage positiv.

Diese Publikation ist polemisch. Die Polemik richtet sich nicht auf das konkrete Konzept irgendeines Autoren, sondern auf eine weit verbreitete Vorstellung oder eher Stimmung: ungeachtet der offensichtlichen Krise, in der sich die gesellschaftliche Autorität des Christentums in Europa befindet, wird angenommen, dass es nicht aus dem Zentrum der Weltzivilisation verloren gehen kann, da Europa immer christlich war und es quasi seinem Sein nach ist,  egal, welche vorübergehende Erscheinungen einen gegenteiligen Eindruck erwecken mögen. Das ist ganz wie in der „Bhagavadgita", in der Krischna sich Mühe gab, Arjuna von folgendem zu überzeugen: „es gibt kein Werden aus dem Nichts, noch wird zu Nichts das Seiende, und die Grenze beider ist erschaut von denen, die die Wahrheit schauen"(II.16)[1]. Diese eternalistische Sichtweise leistet zwar die uneingeschränkte Garantie darauf, was es bereits gibt, widerspricht aber dem, was in der Geschichte zu beobachten ist.

Im ersten Teil dieser Schrift gebe ich meinen bereits veröffentlichen Vortrag „Der interreligiöse Dialog, oder: Verschwindet das Christentum aus Europa?", der auf der internationalen wissenschaftlichen Konferenz der RAW „Christentum, Kultur und moralische Werte" gehalten wurde. Diese Konferenz, die vom 19. bis zum 21. Juni 2007 im Institut für Allgemeine Geschichte in Moskau stattfand, wurde durch das Institut für Allgemeine Geschichte, das Auswärtige Amt der Russischen Orthodoxen Kirche und den Päpstlichen Ausschuss für Kultur (Vatikan) organisiert.

Im zweiten Teil berichte ich über die thematische Fortsetzung dieses Vortrages und teile den Lesern die Eindrücke mit, die ich bei der Beschäftigung mit einigen Internetseiten  (vorwiegend interfax-religion.ru) gewonnen habe. Chronologisch folgen die einbezogenen Materialien dem Vortrag und stammen hauptsächlich aus der Jahreshälfte, die dem Schreiben dieses Textes vorausging.

Ι

Die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen den verschiedenen religiösen Führern und Einrichtungen wird heute in Europa immer mehr bewusst und deutlich. Die Ursachen dafür sind naheliegend: Europa ist längst nicht mehr monokulturell und monoreligiös. Die Anzahl der vielen verschiedenen Religionen angehörenden Einwanderer aus Ländern der Dritten Welt und ihrer Nachkommen wächst in geometrischer Progression, im Gegensatz zur eher abnehmenden einheimischen Bevölkerung. Die finanzielle und zivilisatorische Ungleichheit in dieser multiethnischen und multikulturellen weltweiten Megalopolis führt zu Konfliktsituationen, die durch die religiöse Selbstbehauptung sowohl verschleiert, als auch provoziert werden. Daher ist es ganz normal, dass die interreligiösen Kontakte, die vorher nur mit Unterstützung der politischen Eliten gepflegt wurden, seit Anbruch des neuen Jahrtausends unmittelbar durch den Europarat koordiniert werden.

Die kürzlich stattgefundene Konferenz „Die religiöse Dimension des interkulturellen Dialogs" (San Marino, 23. und 24. April 2007) war nach der Einrichtung von regelmäßigen Begegnungen zur gemeinsamen Arbeit an der praktischen Verwirklichung dessen, was nun als „europäische Grundwerte" bezeichnet wird, bereits das siebte Treffen von säkularen Organisationen und Vertretern der drei traditionellen monotheistischen Religionen Europas. Die Begegnungen wurden durch die UN-Menschenrechtskommission im Jahr 2000 zuwege gebracht. Der genannten Konferenz gingen Tagungen in Syrakus (Dezember 2000), Strasbourg (Dezember 2001), Louvain la Neuve (Dezember 2002), Malta (Mai 2004), Kazan (Februar 2006) und Nischni Nowgorod (September 2008) voraus. Sie haben die Aufgabe, für interreligiöse Konflikte, Extremismus und Terrorismus sowie die multivektoriellen Folgen der Globalisierung, Lösungen zu finden.  Diese sollen mittels der Ressourcen der religiösen Gemeinden umgesetzt werden, die in die Zusammenarbeit einbezogen wurden. Diese Aufgabe als solche ist sicherlich gerechtfertigt und konstruktiv. Nicht weniger Sympathie verdient auch die Hauptidee, die in den interreligiösen Foren und Beratungsstellen, zumindest offiziell, angelegt ist und besagt: auch in der sich globalisierenden Welt verfügt jeder über das Recht auf die eigene Identität, sowie die Pflicht, den Anderen eben als Anderen zu akzeptieren. Ein weiteres wertvolles Ziel dieser Begegnungen, ist die als notwendig erkannte Unterrichtung der Jugend über die Religionen - sowohl die jeweils „eigenen", als auch die „benachbarten".

Allerdings kann ein Dialog - ebenso wie alles andere - seinen Zweck nur dann erfüllen, wenn er (wie Hegel es nennt) seinem Begriff entspricht. Die notwendige Voraussetzung dieser Entsprechung im Falle eines beliebigen Dialogs ist die Gleichberechtigung. Im Falle eines religiösen Dialogs ist es die geistlich-gesellschaftliche Gleichberechtigung der Beteiligten. Diese ist aber nicht gegeben, denn unter den drei monotheistischen Religionen, die stets als gleichberechtigt bezeichnet werden, hat das sich vereinigende Europa (in genauer Übereinstimmung mit dem letzten Gebot der bekannten Parabel von George Orwell) es geschafft, das Christentum als eine eindeutig „weniger gleiche" Religion zu positionieren, die zwei anderen Religionen dagegen als „wesentlich gleichere" (wobei der  Judaismus etwas „gleicher" als der Islam steht, und die ehemaligen Christen, die zum Islam bekehren, etwas „gleicher" als die Juden eingeschätzt werden können [2]). Ich vermute, dass diese Tendenz sich  auch weiter entwickeln wird.

Außer diesen Religionen sind in Europa, dank allseitiger Unterstützung der Rechte der Minderheiten, auch andere nicht-monotheistische östliche Religionen (vor allem Buddhismus und Hinduismus) sich auf dem Wege zur „größeren Gleichheit" gegenüber dem Christentum befinden. Was das Christentum betrifft, stellt es weiterhin die Mehrheit auf dem Europäischen Kontinent dar, doch ist diese Mehrheit in den Worten von P. Buchanan „verängstigt" (in Europa noch mehr als in Amerika)[3].

Um diese These zu untermauern, nenne ich einige Fakten, die meines Erachtens aussagekräftig genug sind. Das sind vorwiegend solche, die auch in den Massenmedien dargestellt wurden, aber auch solche, die ich während der oben genannten San-Marino-Konferenz persönlich beobachten konnte. Dabei möchte ich um Entschuldigung bitten, denn heutzutage wird in der zivilisierten Welt allein deren Erwähnung als unangebracht, taktlos und sogar politisch fehlerhaft angesehen - nicht nur von den Säkularisierten, sondern auch von denen, die sich für Christen halten, aber vor dem „Fundamentalismus" mehr, als vor allem anderen Angst haben. Genauso, wie es zu Zeiten des Autors der „Farm der Tiere" als höchst unanständig galt, die Methoden der Erziehung und der Umerziehung des Volkes im Lande des siegreichen Sozialismus unter der fehlerlosen Leitung „des genialen Führers" objektiv zu bewerten[4].

So steht zurzeit in Deutschland die Veröffentlichung des vielbändigen Opus K. Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums" immer noch weit von ihrer Vollendung (Ende der 1990er Jahre wurde erst der Band für das 11. und 12. Jh. veröffentlicht). Dabei stünde der Autor, hätte er eine ähnliche Darstellung der Geschichte anderer Religionen veröffentlicht (die alle ohne Ausnahme kriminelle Komponenten beinhalten), schon längst wegen Menschenhass und Rassismus vor Gericht (es sei denn, man hätte sein kreatives Schreiben mit anderen, einfacheren Mitteln verhindern können[5]). Jüngst ist in einigen Ländern des Kontinents eine Aufführung der Mozart-Oper „Die Entführung aus dem Serail" wegen dem Respekt gegenüber den Moslems abgesetzt worden (anscheinend wegen der Darstellung des Osmin, des Hüters des Harems von Selim Pascha). Dagegen hat die Vorführung der Filme „Die letzte Versuchung Christi" oder „Der Da-Vinci-Code" in ganz Europa den Behördenvorstellungen über die Rechte der Regisseure auf künstlerische Selbstdarstellung gar nicht widersprochen.

Großbritannien hat sich als ein Land erwiesen, in dem solche Ereignisse besonders häufig vorkommen. Bezeichnend ist die Geschichte darüber, wie der Vorsteher einer methodistischen Kirche in Dudley gezwungen wurde, £75 Steuer auf das im Hof seines Gotteshauses stehende Holzkreuz zu zahlen, mit der Begründung, dass das Kreuz „Werbung für den christlichen Glauben" sei. Es steht außer Zweifel, dass, wenn ein Beamter versucht hätte, eine in irgendeinem Juwelierladen stehende Menora als „Werbung für die jüdische Religion" zu besteuern, wäre er wegen Antisemitismus für lange Zeit hinter Gittern gelandet. Nicht weniger bezeichnend war meines Erachtens die neulich erfolgte blitzschnelle Kündigung eines BBC-Journalisten, der sich dazu äußerte, ob man mit Moslems so zimperlich umgehen solle, wie es zurzeit getan wird. Eine ähnliche Äußerung über Christen wäre für mich kaum noch vorstellbar - denn längst denkt keiner mehr daran, mit ihnen zimperlich zu sein, und wenn irgendein Journalist vorschlagen würde, noch weniger zimperlich zu sein, würde er nur als Befürworter des Pluralismus hochgeschätzt (und was könnte schön besser sein?!)  

In diesem Zusammenhang wundert es einen auch nicht mehr, dass mehrere britische Fluggesellschaften vor kurzem beschlossen haben, sowohl den eigenen Angestellten als auch den Passagieren das Tragen von kleinen Kruzifixen zu untersagen, wenn sie in moslemische Länder reisen, deren Einwohner diese Symbolik nicht mögen (Saudi-Arabien und andere). Auch hier würde ich gerne versuchen, mir etwas „symmetrisches" seitens der arabischen Fluggesellschaften vorzustellen, vermag es aber nicht; denn für derartige panische Angst gegenüber einer fremden Religion bei voller Verachtung der „eigenen" gibt es weltweit keine Präzedenzfälle. Vor diesem Hintergrund ist es kaum noch überraschend, dass zu Weihnachten 2006 fast drei Viertel der Unternehmen und Einrichtungen auf „der Insel" weihnachtliche Symbolik in der Arbeitsumgebung verboten haben - aus Furcht vor erfolgreichen Klagen seitens ihrer nicht-christlichen Mitarbeiter. Dabei haben die letzteren keinerlei Gründe, ähnliche Klagen von christlicher Seite zu befürchten (anscheinend war die genannte „Scheu" auch der Grund dafür, dass die Weihnachtsbriefmarken in jenem Jahr nicht Christus und die Heiligen Drei Könige, sondern Schneemänner und Rentiere zeigten).[6] "

Es wäre jedoch unfair zu denken, dass die regierenden britischen Sozialisten die einzigen wären, die ihre Politik unter dem Zeichen der „differenzierten Gleichheit" der Religionen Europas führen. So werden in Italien, dieser eigentlichen Zitadelle des Katholizismus, wenig besuchte Demonstrationen gegen die Islamisierung des Landes mit Polizeiknüppeln niedergeschlagen, wogegen nicht einmal die Abgeordnetenimmunität schützt. Die Vorstellung einer vergleichbaren Reaktion der sozialistischen Regierung Prodis auf irgendeinen moslemischen Aufmarsch gegen irgendwelche „fundamentalistische" Initiativen oder zumindest „Sprachschnitzer" von, sagen wir, Papst Benedikt XVI., fällt mir genauso schwer, wie, in der Sprache der indischen philosophischen Analogien, an die Möglichkeit der Existenz einer himmlischen Blume oder des Sohnes einer unfruchtbaren Frau zu glauben.

Die christlichen Kirchen in Europa kennen den ihnen jeweils zugewiesenen Platz schon lange. Daher haben sie sich in allen oben genannten (und auch den nichtgenannten) Präzedenzfällen praktisch unsichtbar gemacht (die wenigen schwachen Proteste gegen den „Da-Vinci-Code", die auch nicht mit Aktionen einhergingen, kann man ja kaum als Kundgebung ansehen). Deswegen fällt es der  säkularistischen Gesellschaft des modernen Europas nicht schwer, sich der „Umerziehung" der bereits sehr wenig gewordenen Bischöfe zu widmen, die es immer noch wagen, daran zu erinnern, dass das Christentum noch nicht ganz aus Europa verschwunden ist, und außerdem schon vorher da war. Das bezeugen die knallharten Hetzkampagnen, die neulich in den Massenmedien gegen den Bischof von Verona geführt worden sind, der seine Glaubensgenossen dazu aufgerufen hatte, ihre Töchter nicht allzuschnell an einen Moslem zu geben, wenn sie nicht auf die Möglichkeit verzichten wollen, ihre Enkel christlich erziehen zu können. Ein anderes Beispiel ist der schottische Bischof Joseph Devine, der es gewagt hatte, seinen Mitbürgern darauf hinzuweisen, dass ihr Land nicht immer moslemisch oder hinduistisch war.

Auch in San Marino schien das Reich solcher Doppelstandards vor mir auf. Am beeindruckendsten äußerte es sich im Vortrag des PACE-Vertreters L.-M. de Puig, der es innerhalb eines Satzes fertig brachte, zu den positiven Entwicklungen der modernen Zeit sowohl die Trennung von Kirchen und Staat als auch die zunehmende Bedeutung jüdischer Einrichtungen zu zählen. In einem anderen Vortrag wurde durchaus mitfühlend über die Tragödie der Moslems in Bosnien berichtet, dabei die Tragödie der Christen im Kosovo aber nicht einmal kurz erwähnt. Die in einem dritten offiziellen Vortrag geäußerte Überzeugung, dass die odiöse Geschichte mit den Karikaturen vom Winter 2006 die Gefühle der Moslems gekränkt habe, ging in keinster Weise mit Trauer darüber einher, dass diese äußerst verletzlichen Gefühle ihren Ausdruck gar nicht nur in Demonstrationen gefunden haben, sondern auch in dem Mord eines italienischen Priesters in der „progressiven" Türkei, Brandstiftungen an einigen Botschaften, der Zerstörung einiger Gotteshäuser und Geiselnahmen (was gar nicht selten mit „moslemischer Verletzlichkeit" einhergeht). Während die Unzulässigkeit aller Formen von Juden- und Islamophobie immer wieder konstatiert wurde, gab es kein einziges Wort über die Christenphobie, die in Europa immer mehr zu Mode wird[7].

Zum Helden des ersten Tages des San-Marino-Gipfels wurde schließlich der ethnische Christ Pallavicini, der zum Islam übergetreten war und als neu bekehrter Moslem (und als Haupt der kürzlich gegründeten italienisch-moslemischen Gemeinde) am Dialog mit der jüdischen Gemeinde teilnahm. Seinem Vortrag ging die Vorführung eines Filmes über diese Ereignisse voraus, in dem ein katholischer Priester das „Benefiz" seines ehemaligen Glaubensgenossen mit rührseligen Augen beschaut. Obwohl die Anzahl ethnischer Moslems, die zum Christentum übertreten, immer noch größer ist (entgegen anders lautender Behauptungen), ist es absolut undenkbar, sich vorzustellen, dass ihre Konversion auf einem interreligiösen Forum erwähnt, geschweige denn „verfilmt" würden.

Gegen die Tatsache, dass sowohl die Juden, als auch die Moslems in Europa mit Erfolg ihre Aufgaben realisieren, „die gleichsten zu sein" (jede Religion mit ihren jeweils eigenen Mitteln), soll keinerlei Einwand erhoben werden - diese Bestrebungen sind ganz normal und natürlich[8]. Größere Einwände wären sehr wohl gegen die doppelten Standards in der Religionspolitik angebracht, denen die Gestalter des modernen Europas nachfolgen; aber die Herrschenden hielten sich ja schon immer für berechtigt, darüber zu entscheiden, welche von ihren gleichberechtigten Untergebenen „gleicher" seien. Die größten Einwände werden dabei gegen die Christen selbst vorgebracht, die freiwillig der eigenen „Ungleichheit" zustimmen.

Allerdings gibt es für das Empfinden dieser Ungleichheit auch objektive Gründe. In Europa stützt sich der Judaismus einerseits auf den Staat Israel und sehr einflussreiche internationale jüdische Einrichtungen, andererseits auf das paneuropäische Schuldgefühl wegen dem Holocaust sowie den Kult der „Minderheiten", der die wichtigste Grundlage der Ideologie der modernen westlichen Demokratie ausmacht. Der Islam stützt sich auf die Ölmacht der arabischen Staaten, den ihm gegenüber empfundenen Respekt wegen seiner konsequenten „mittelalterlichen Mentalität" (die den Trägern der „grundlosen" liberalen Ideologie sicherlich imponiert) sowie seiner Entschlossenheit, sich mit ausnahmslos allen Mitteln durchzusetzen, und wiederum den genannten allgemeinen Kult der Minderheiten, der sich auch auf jene ausweitet, die bereits über alle Chancen verfügen, bald die Mehrheit zu stellen. Was das Christentum betrifft: es gibt keinen europäischen Staat, der seine Politik auf den Schutz christlicher Prioritäten aufbauen würde, wobei selbst die„europäischen Werte" gegen das Christentum arbeiten (vorwiegend die Menschenrechtsideologie, die davon ausgeht, dass die wertvollsten Menschen eben „die Minderheiten" seien). Gegen das Christentum sprechen auch die leerstehenden christlichen Gotteshäuser, die nicht selten zu Spottpreisen als munizipale Immobilienobjekte versteigert werden, um dann zuweilen von nicht-christlichen Gemeinden erworben zu werden[9]. Nichtsdestotrotz haben weder die protestantischen Denominationen noch und schon gar nicht die Katholische Kirche ihren traditionellen Einfluss auf die Bevölkerung in solch einem Maße verloren, dass sie es sich erlauben können, all ihre Stellungen aufzugeben und auf jegliche Gleichberechtigung in den interreligiösen Beziehungen zu verzichten, wie es zur Zeit der Fall ist. 

In der Tat, welche Gleichberechtigung kann es in einem christlich-jüdischen Dialog geben, wenn Christen für sich nur das Recht vorbehalten, sich für den tatsächlichen, historischen Antisemitismus zu rechtfertigen und Anschuldigungen wegen angeblichem Antisemitismus von sich zu weisen (als Beispiel nehme man die absurden Vorwürfe an Pius XI. für die angebliche Förderung des Holocausts[10]) und keiner sich zu erwähnen traut, dass nicht die christliche Seite ursprünglicher historischer Urheber der jüdisch-christlichen Konflikte gewesen war, und dass die direkte Herabwürdigung der Person des Christentumsgründers selbst auch heute noch eine durchaus gängige Komponente der „dialogischen Stellungnahmen" des jüdischen Traditionalismus ist? Werden die Katholiken nicht durch die Tatsache irritiert, dass die Juden sich dermaßen „locker" fühlen, dass sie Benedikt XVI. für die „fakultative" Wiedereinsetzung der tridentischen lateinischen Messe ermahnen, die solch "verbrecherische" Passagen wie ein Gebet für die Bekehrung der Juden zum Lichte der Wahrheit Christi enthält? Wobei die Katholiken selbst so „gehemmt" sind, dass sie durch die uralten talmudischen Verfluchungen gegenüber den Minim[11] (vorwiegend Christen jüdischer Herkunft) sowie andere spezielle anti-christliche Gebete, die niemals abgeschafft wurden, keineswegs irritiert werden?[12]

Oder welche Gleichberechtigung kann es in einem christlich-moslemischen Dialog geben, wenn die christlichen Teilnehmer der interreligiösen Kontakte sich nur dazu berechtigt sehen, Beschuldigungen wegen Islamophobie und den Kreuzzügen widerzulegen[13], ohne es zu wagen, den Genozid an den Armeniern in der Türkei zumindest kurz zu erwähnen, der mit antichristlicher Hetze einherging (Mönche und Priester wurden als erste vernichtet)[14], geschweige denn die totale Ausrottung der Assyrer, den „griechischen Holocaust" in Kleinasien unter Atatürk oder auch die gegenwärtigen Verfolgungen und Morde an Christen in einigen moslemischen Ländern in Asien und in Afrika?

Ist die überempfindliche Reaktion der Moslems darauf, dass Papst Benedikt XVI. vor kurzem einen Satz des Kaisers Manuel Komnenos über den Islam (der übrigens nichts falsches enthielt) zitiert hat, vielleicht dadurch zu erklären, dass sie sich während der Zeit des direkt vorangegangenen Pontifikats Johannes Pauls II. an ständige einseitige Annäherung (bis hin zur Relativierung der Unterschiede zwischen den beiden Religionen) gewöhnt haben?[15]

Schließlich kann ich mich nicht erinnern, dass von den christlichen Klerikern, die auf dem San-Marino-Forum über die Erfolge ihrer Gemeinden in der Ausmerzung von Antisemitismus, Islamophobie und Xenophobie berichtet haben, irgendeiner auch nur ein Wort über die Christenphobie gesprochen hat. Dabei ist die Tatsache, dass die Christenphobie in den Dokumenten der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz nicht erwähnt wird, eine der Bürgschaften dafür, dass antichristliche Aktionen (von den allerdreistesten abgesehen) in Europa nicht verhindert werden, da es an einem entsprechenden Artikel fehlt.

Es ist klar, dass ein wirklicher interreligiöser Dialog der Gleichberechtigung seiner Teilnehmer bedarf. Dabei folgt es aus dem oben gesagten, dass die Zukunft dieses Dialogs davon abhängt, in welchem Ausmaß die christliche Seite sich um die Wiederherstellung ihrer „dialogischen Vollwertigkeit" kümmern wird. Deren Verlust ist das Ergebnis der drei großen Niederlagen in der Geschichte des Christentums, die logisch aufeinander folgten und sich bedingten. Die erste Niederlage war die Spaltung zwischen dem christlichen Osten und Westen mit der weiteren Spaltung des Westens. Die zweite war die erfolgreiche Säkularisierung dieser gespaltenen christlichen Welt mit der Folge, dass die christlichen Staaten irgendwann aufgehört hatten zu existieren. Die dritte bestand in der entschlossenen Orientierung der gespaltenen christlichen Konfessionen darauf, sich an die säkularen „Werte" und Ideologien anzupassen, anstatt umgekehrt die säkularisierte Gesellschaft zu christianisieren.

Die letzte dieser Niederlagen, deren entscheidendes Stadium nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hat, stellt sich als die vernichtendste dar - denn, laut Diktum des Protopresbyters Alexander Schmemann, eines der hellsichtigsten orthodoxen Theologien des 20. Jahrhunderts: die Welt rächt sich am Christentum dafür, dass es sie dazu brachte, von sich selbst enttäuscht zu sein.[16] Das ist auch völlig verständlich, denn in der Welt kann nur das Ansehen oder gar Interesse beanspruchen, was auf der eigenen Unterschiedlichkeit zu ihr besteht, anstatt sich an sie und ihre rein irdischen Interessen anzupassen.

Der Ruf nach „Modernisierung" beabsichtigt in Wirklichkeit die Säkularisierung des Christentums selbst, und kulminiert darin, dass politische Korrektheit als Norm angesehen wird, wodurch die Norm des Glaubenbekenntnisses praktisch beseitigt ist. Aus oben genanntem folgt, dass eben diese Modernisierungsrichtlinie Hauptgrund dafür ist, dass das Christentum sich zunehmend mit einer kulturell-historischen oder gar museal-archäologischen Rolle begnügt (in den Fällen, in denen die leerstehenden christlichen Gotteshäuser noch nicht an die Gemeinde anderer Religionen übergeben wurden) und dabei allmählich aufhört, lebendiger Glaube zu sein.

Daher könnte nur eine Bewegung in die genaue Gegenrichtung, hin zu den ureigen Grundlagen jenes Reiches, das, nach dem Wort des Heilands selbst, nicht von dieser Welt ist (Joh.18, 36), dem Christentum das Wichtigste, nämlich die verlorenen inneren Standpunkte zurückgeben. Es bedarf dabei der Befreiung von der Illusion, dass die säkularisierte Welt mehr Verständnis für Anpassung, als für das Glaubensbekenntnis aufbrächte. So wie jede andere Gesellschaft, kann sie nur Stärke respektieren, nicht aber Kapitulation.

Einen weiterer Schritt könnte die Kompensation der zweiten Niederlage bezwecken - nämlich die Bemühungen, durch die Unterstützung konservativ-nationaler Parteien den Einfluss auf die Gesellschaft wiederherzustellen. Das bedarf auch der Befreiung von anderen Illusionen, z.B., dass das Christentum vieles in dieser Welt habe, was eventuell verloren gehen könnte (und sich daher möglichst „vorsichtig" verhalten sollte). Eine andere Illusion besteht in dem Glauben, dass das Christentum sich infolge seiner „ökumenischen" Natur mit der „Neuen Linken" vertragen könne - diese ist nämlich weniger an seiner „Modernisierung", sondern vielmehr an seiner Abschaffung interessiert.[17]

Schließlich sollte es nicht an der Spaltung der Christen gescheitert werden. Hier wäre ein interkonfessioneller Dialog meist angebracht - in erste Linie ein orthodox-katholischer, also apostolischer Dialog zur Erarbeitung gemeinsamer Aktionen zur Erhaltung der christlichen Rechte.  Als erstes könnte eine Koordination der Einwirkungen auf internationale Menschenrechtsorganisationen zwecks Eintragung eines Artikels über die in diesem Vortrag bereits erwähnte Christenphobie in die juristischen Dokumente des vereinten Europa erfolgen. Erst wenn dieser Dialog für das Überleben des Christentums in der modernen Welt positive Ergebnisse erbringt (dank der Teilnahme der Wenigen, deren Verstand noch fähig ist, die Ernsthaftigkeit der sich ergebenen Lage wahrzunehmen), könnte man mit der Zeit auch die Aufgaben des Christentums in einem interreligiösen Dialog erörtern. Anderenfalls würde dieser Dialog in naher Zukunft (zumindest im europäischen Kontext) möglicherweise ohne den Teilnehmer stattfinden, -  der ihn überhaupt erst angeregt hatte.

II 

Die Reaktionen auf meinen Vortrag waren ganz und gar nicht eindeutig. Die russischen Geisteswissenschaftler und die Vertreter der orthodoxen Öffentlichkeit begrüßten ihn mit großem Enthusiasmus[18], die anwesenden katholischen Tagungsteilnehmer dagegen mit verlegenem Schweigen, was leicht zu erklären ist. Tagungen werden generell zur Beförderung nützlicher Kontakte organisiert, was meist durch beidseitige Komplimente geleistet wird - abgesehen davon, dass es sich gar nicht schickt, auf freundschaftlichen Treffen schwere Krankheiten zur Sprache zu bringen.

Noch größere Meinungsverschiedenheiten und wirksamere Reaktionen verursachte mein Vortrag bei einem internationalen Runden Tisch zum Thema „Interreligiöse und interkonfessionelle Dimensionen im Kontext des Weißbuchs zum interkulturellen Dialog des Europarats", der durch die Föderation für Frieden und Einigkeit mit Unterstützung des Russischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten am 17. Oktober 2007 stattfand. An der Arbeit dieses Runden Tisches nahm eine Delegation des Europarates teil, die von Frau Gabriella Battaini-Dragoni, Koordinatorin der Angelegenheiten des interkulturellen Dialogs, geleitet wurde. Unter den anderen Teilnehmern waren auch Vertreter der christlichen Kirchen, der moslemischen Gemeinden, der in Russland tätigen öffentlichen Einrichtungen sowie einige wissenschaftliche Experten der Ministerien und Ämter. Die Hauptpunkte meines Vortrags waren wie folgt formuliert:

„Der Paragraph >Die religiöse Dimension eines interkulturellen Dialogs< des vorläufigen Textes des Weißbuchs (S.17f) ist in einer Knappheit gehalten, die dem Umfang der Diskussionen zu dieser Frage, die in den vorangegangenen Beratungen geführt wurden, nicht entspricht. Die letzte dieser Beratungen fand im Rahmen der Konferenz mit dem Titel „Die religiöse Dimension des interkulturellen Dialogs" in San Marino am 23. und 24. April 2007 statt. Sie war bereits die siebte, seit die UN-Menschenrechtskommission im Jahr 2000 begann, regelmäßige Begegnungen zwischen den säkularen Organisationen und Vertretern der drei traditionellen monotheistischen Religionen Europas zu organisieren. Dabei fällt auf, dass einige konkrete Formulierungen des erwähnten Paragraphs nicht eindeutig formuliert wurden. Gewiss muss angemerkt werden, dass die Sichtweisen der Beratungsteilnehmer über das Maß der rationalen Einbeziehung des Europarates zur Lösung religiöser Fragen auseinander gingen und dieser Gesichtspunkt daher weiterer Erarbeitung bedarf. Es wird auch angemerkt, dass angesichts des fehlenden Konsenses in religiösen Fragen zwischen den EU-Staaten, z.B. hinsichtlich der Zulässigkeit religiöser Symbole in öffentlichen Einrichtungen, vor allem im Bildungssystem, relativ große Spielräume eingeräumt werden müssen.

Andererseits stehen diesen ausgewogenen Stellungnahmen einige ganz andere Passagen gegenüber, die Ausdruck von Bestrebungen zur Revision der Karte der interreligiösen Beziehungen in Europa und von Eroberungsgelüsten auf die Territorien benachbarter Religionen sind. So ist die Meinung, dass „das Spektrum sowohl der religiösen als auch der profanen Ansichten über den Sinn des Lebens" ein Teil des reichen kulturellen Erbe Europas sei, wohl berechtigt; aber die Zerlegung dieses Spektrums entspricht keinerlei der objektiven Wirklichkeit. So wird in diesem Text nämlich behauptet, dass „Europa nicht das heutige Europa wäre, wenn der Islam, der Judaismus und die anderen Religionen als ihre Elemente neben den verschiedenen Konfessionen des Christentums nicht angesehen würden" (Hervorhebung von mir - W.Sch.). Selbst die Reihenfolge der hier genannten Religionen, die keinesfalls zufällig zu sein scheint, macht deutlich, dass die Verfasser dieses Textes es bewusst wagen, sowohl die kulturelle Geschichte als auch die Gegenwart umzuschreiben. Ob sie es wollen oder nicht: das Christentum, das hier an die letzte Stelle gestellt ist, deutlich nicht nur hinter den Islam und den Judaismus, sondern auch nach „den anderen Religionen", ist vorrangiger Bestandteil der europäischen Zivilisation (wenn man generell anerkennt, dass diese eine religiöse Dimension hat). Zwei Jahrtausende lang wäre es niemanden eingefallen, das zu bezweifeln. Daher würde die vorgeschlagene Reihenfolge der Farben im Spektrum der Religionen Europas eher zum Beispiel zu den Vereinigten Arabischen Emiraten passen, denn Europa besteht ja weiterhin innerhalb seiner bisherigen geographischen Grenzen.

Dabei lassen die Texterfasser bewusst noch eine offensichtliche Unkorrektheit zu, die diesmal schon religionswissenschaftlich ist. Indem sie das Christentum herabsetzen wollen, um einen Grund zu haben, es an die letzte Stelle unter der Religionen Europas zu stellen, schreiben sie über seine „verschiedenen Konfessionen", denen die monolithe Einheitlichkeit vom Islam, Judaismus und anderer Religionen entgegensteht. Aber es ist ja wohlbekannt, dass es unter den Moslems sowohl Sunniten als auch Schiiten gibt, und unter den Juden sowohl Traditionalisten als auch Konservative, Reformer oder Liberale, und bei den „anderen Religionen" Europas gibt es beispielsweise auch nicht einfach Buddhisten (die entweder Theravada-Buddhisten oder Mahajanisten, Vajrayanisten oder Vertreter anderer buddhistischen Richtungen sind) oder Hinduisten usw. Daher würde ich vorschlagen, unter diesem Gesichtspunkt entweder „die Farben" des dargestellten Spektrums der Religionen in eine objektive Ordnung und ohne Doppelstandards zu bringen, oder aber das pluralistische Bild der Religionen im modernen Europa nur erwähnen, ohne auf die konkreten Religionen hinzuweisen, um begründeten Vorwürfen von Inkompetenz und offensichtlicher Voreingenommenheit zu entgehen.

Obwohl in den Antworten von Frau Battaini-Dragoni an die Russischen Teilnehmer des Runden Tischs keine konkrete Kritik an meiner Person zu hören war, wurde ich danach nie wieder zu den Besprechungen des Weißbuchs und auch nicht zu den anderen EU-Aktionen eingeladen. Das erstaunt mich nicht, da das System der „Europäischen Werte" zwei Dimensionen hat: die exoterische (für die Einfältigen), in der Meinungspluralismus gepredigt wird, und die esoterische (die innere), die dem wirklichen Monoideologismus entspricht.[19] Allerdings trug mir die Auseinandersetzung mit der vorläufigen Redaktion dieses Dokuments großen Nutzen ein, da mir endlich klar wurde, welche Stelle die Erbauer des sich vereinigenden Europas dem Christentum auf der „Werteskala" der Religionen, mit denen sie sich befassen, zuweisen. Der Anfang seiner „Viertklassigkeit" geht zweifellos auf die entschlossene Weigerung des sich vereinigenden Europas zurück, das Christentum im Text des Projektes des Europäischen Grundgesetzes wenigstens zu erwähnen (wobei es die Sicherung der Rechte aller möglichen Minderheiten betont). Also gehört es zur Aufgabe der Christen als Subjekten der Europäischen Union, sich einen solchen Status anzueignen[20], und es muss anerkannt werden, dass sie diese Sachlage immer häufiger als ganz normal wahrnehmen. Wenden wir uns nun einigen Internet-Meldungen zu, die mit konkreten Daten verbunden sind.

Ein Beispiel: nachdem der stellvertretende Bürgermeister der Stadt Or Yehuda in Israel am 20.05.2008 mithilfe der Studenten des jüdischen Seminars (der Jeschiwa) die Konfiszierung und darauf folgende Verbrennung Hunderter Exemplare des Neuen Testaments vor der örtlichen Synagoge organisiert hatte, die vorher von christlichen Missionaren an die Einwohner verteilt worden waren, hatte diese Aktion ein Ermittlungsverfahren in Israel und Kritik in Russland (durch den Kongress der jüdischen Gemeinden und das All-Weltliche Russische Volkskonzil) zur Folge. Es gibt jedoch keine Meldungen, dass die westlichen Christen darauf irgendwie nennenswürdig reagiert hätten. In Wirklichkeit entsprach diese Operation mit den Neutestamentischen Texten genau den traditionellen Einstellungen des talmudischen Judaismus im Bezug auf die Christen[21], aber die westlichen christlichen Führer trauten sich nicht, diese nach ihrem Wesen oder im genannten historischen Kontext zu bewerten - offensichtlich aus Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus (den nicht nur die Juden erhoben hätten) und der mangelhaften Buße wegen dem Holocaust (s. oben)[22]. Sie haben sich gut eingeprägt, dass das, was dem Jupiter erlaubt ist, dem Rindvieh nicht erlaubt ist, sowie dass es ihnen in ihrem „Rindviehstatus" besser zusteht, zu schweigen.

Nicht umsonst war auch die Lehre, die die Moslems Benedikt XVI. erteilt haben. Die Nachrichtendienste berichten darüber, dass er während des Treffens der Vertreter der moslemischen, jüdischen, hinduistischen und buddhistischen Geistlichen in Sydney, das am 21.07.2008 stattfand, ganz entschlossen dazu aufrief, „die mit den Moslems und dem Islam verbundenen Vorurteile" zu verwerfen, aber kein Wort darüber sprach, dass es nicht schlecht wäre, dasselbe mit den Vorurteilen über die Christen und das Christentum zu tun. Von diesen Vorurteilen gibt es jedenfalls kaum weniger, und in ihnen stimmen beispielsweise Juden und Moslems praktisch überein.[23]

Sicherlich könnte nur einer, der über ein reiches Vorstellungsvermögen verfügt, sich vorstellen, dass die panische Angst der Regierungen von Dänemark und Holland vor den Konsequenzen der dänischen Karikaturen und des Films „Fitna"[24] mit irgendeiner möglichen Reaktion Europas auf eine Audioaufnahme vom 20.03.2008 parallelisiert werden könnte, die angeblich vom Al-Qaida Führer stammt. Laut dieser, seien die Karikaturen mit dem Segen des Römischen Papstes nachgedruckt, was ein Teil des von ihm geleiteten „Kreuzzuges" sei, und „die Vergeltung dafür wird hart sein". Dabei wird Bin Laden von 60% der Moslems in Jordanien (das eigentlich als das Land angesehen wird, das dem interreligiösen Dialog am offensten gegenübersteht), 51% in Pakistan, 35% in Indonesien und 26% in Marokko als Führer angesehen. So möge es durchaus plausibel scheinen, dass die Bevölkerung der genannten Länder den internationalen Terrorismus in gewissem Maße unterstützt; jedoch ist mir nicht bekannt, dass deren Botschaften irgendwelche Protestnoten deswegen erhalten hätten.

Die Meldungen von 03.05.2008 berichten über die Beendigung des bereits vierten Gerichtsverfahrens gegen den ehemaligen Filmstar Brigitte Bardot. Sie wurde von französischen Menschenrechtsaktivisten und Tausenden von Moslems wegen ihres übertriebenen Einsatzes zum Schutz der Tierrechte (vor allem im Zusammenhang mit der rituellen Schlachtung von Hammeln zum Kurban-Bairam-Fest) angeklagt. Eine andere Anklage lautete  Xenophobie im Zusammenhang mit der breiten Islamisierung der europäischen Gesellschaft. Die Schauspielerin wurde zu 15.000 € Geldstrafe verurteilt. Der Rechtsanwalt der Liga für Menschenrechte sagte dazu: „nur dank ihrem Alter bleibt ihr das Gefängnis erspart "[25]. Was auch immer in dem von ihr veröffentlichten Buch „Ein Schrei in der Stille" (2004) geschrieben steht - in dem uns interessierenden Kontext ist wesentlich wichtiger, dass es schier unmöglich ist, sich eine Situation vorzustellen, dass in Europa jemand wegen Christenphobie vor Gericht gestellt werden würde. Und wenn wir schon über „Diven" sprechen, sollten wir auch die höchst populäre Madonna erwähnen, die, nachdem sie sich zur Kabbalistin erklärt hat, bei ihren Auftritten für Christen blasphemische Exerzitien einfügt (geschweige ihres Pseudonyms). Würden irgendwelche Christen es wagen, dagegen zu klagen, könnte sie mit allseitiger Unterstützung der „Menschenrechtler" rechnen (für die Einfältigen würde es sofort auf den „Pluralismus" als Grundlage der „Europäischen Werteordnung" hingewiesen). Aber es ist eben unmöglich, sich diese Situation vorzustellen.

Die „Viertklassigkeit" des Christentums in der EU äußert sich auch im Misserfolg der schüchternen Versuche, mit den Moslems eine Vereinbarung über eine Abmilderung der Doppelstandards in den Verhältnissen zwischen diesen zwei Religionen zu treffen. Ein Beispiel dafür sind die mehrmaligen Bemühungen des Vatikans, die Genehmigung für den Bau zumindest eines christlichen Gotteshauses auf dem Territorium von Saudi-Arabien für die fast eine Million der christlichen Einwohner dieses Landes zu erlangen, wobei dort ca. 60.000 Moscheen existieren.[26]  Die genannte „Viertklassigkeit" besteht auch darin, dass selbst die Frage [über eine Abmilderung der Doppelstandards] im interreligiösen Dialog selten gestellt wird.

Davon ist die Antwort des Kardinals Jean-Louis Tauran auf das mitreißende "A Common Word between Us and You" zu nennen, was von über 130 islamischen Prominenten unterschrieben wurde und sich an die christlichen Führer der verschiedenen Konfessionen richtete (dieser Brief wird in liberalen Kreisen durchaus hochgeschätzt). Am 12.10.2007 merkte Kardinal Tauran an, dass die Lage, bei aller Bedeutsamkeit der entsprechenden dialogischen Initiative (er bezeichnete den Appell als „sehr interessant und hoffnungsgebend"), ist, dass Christen in Ländern mit moslemischer Bevölkerungsmehrheit für „Dhimmi" gehalten werden, also in ihren Rechten beeinträchtigt werden, während Moslems in christlichen Ländern über alle Rechte verfügen und nach Belieben predigen können. Als Beispiel nahm er das schon erwähnte Saudi-Arabien, das reichste und einflussreichste Land der arabischen Welt, das den Christen nicht nur alle Arten von Predigten untersagt, sondern sogar, sich zum Gebet zu versammeln, kleine Kruzifixe zu tragen und ein Evangelium zu Hause zu haben. Er hätte aber auch auf das Fehlen jeglicher Garantie [des Rechtes] auf Leben für die Christen im Irak oder, um so mehr, in Afghanistan eingehen können, oder auch auf das Gesetz über Blasphemie in Pakistan, welches die Todesstrafe vorsieht und worunter auch Christen fallen; auf die gerichtlichen Verfolgungen der geringsten Präzedenzfälle und die rasche Schließung und Zerstörung der Kirchen in Indonesien (das der Bevölkerungszahl nach größte moslemische Land der Welt)[27]; auf die Beeinträchtigung der Rechte von Christen in Ägypten und der Türkei; auf die Schließung der christlichen Lehranstalten und die Fälle von Märtyrertum in Palästina[28]; schließlich auf die Fälle, in denen Christen in einigen GUS-Republiken gewaltsam dazu gezwungen wurden, ihrem Glauben abzuschwören, z.B. in Usbekistan. Kardinal Tauran ist aber, wie schon erwähnt, ein „Marginal", denn internationale Symposien sind dazu berufen, überwiegend die vollste Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Stand des „Dialogs" und einen Wortschwall  hinsichtlich seiner brillianten Zukunft darzustellen.

Man könnte den Kardinal auch ergänzen: die „Zerbrechlichkeit" des Christentums zeigt sich mittlerweile nicht nur in den Ländern mit moslemischer Bevölkerungsmehrheit, sondern auch in traditionell christlichen Ländern. Als eine der ersten Warnglocken wäre hier die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen am Heiligen Abend des letzten Jahres in Brüssel im Zusammenhang mit Drohungen seitens radikal-islamischer Gruppierungen zu nennen. Eine Meldung, die am 21.12.2007 vom staatlichen belgischen Radio übertragen wurde, wies auf die Verstärkung der Polizeieinsätze und der Beobachtungsmaßnahmen an vielfrequentierten öffentlichen Orten hin: Weihnachtsmärkten, U-Bahn-Stationen, Bahnhöfen, Flughäfen sowie Gebäuden der staatlichen und europäischen Behörden. Das Ziel dieser Furchterregung ist durchaus klar: die christliche Bevölkerung davon abzubringen, ihre religiösen Traditionen auch bei sich zu Hause zu pflegen.

Gewiss darf das Bild der interreligiösen Verhältnisse, wie auch alles Andere, nicht vereinfacht werden. Einerseits waren die dänischen Karikaturen sicherlich primitiv und der Film „Fitna" vereinfacht provokativ[29], Brigitte Bardot erlaubte sich einige offensichtlich unkluge Taktlosigkeiten, und die radikalen islamischen Einrichtungen repräsentieren nicht den ganzen Islam. Andererseits ist auch bekannt, dass Moslems gemeinsam mit Christen solidarisch gegen die Säkularisierung des Weihnachtsfestes eintreten, gegen den „Da Vinci Code" sogar noch viel entschlossener protestiert haben als Letztere und zurzeit gegen Schwulparaden kämpfen. Es geht aber generell um den Vektor in den Verhältnissen zwischen diesen zwei Seiten, von denen eine sich daheim wie zu Besuch fühlt, wobei die andere sich auch auf Besuch nicht weniger sicher fühlt als bei sich zuhause.

Diese Konstellation zeitigt natürlich entsprechende Ergebnisse. So hat der durch seine extrem liberalen Ansichtsweisen bekannte holländische Bischof Martinus Muskens seiner Herde vorgeschlagen, Gott mit dem Namen „Allah" anzusprechen, denn „Gott kümmert sich in Wirklichkeit nicht darum, wie wir Ihn ansprechen", wobei es zur Förderung des interreligiösen Dialogs durchaus nützlich wäre (es wird allerdings nicht darüber nachgedacht, in welchem Ausmaß ein solcher Dialog interreligiös wäre). Muskens, der von vornherein mit dem jetzigen Papst nicht zufrieden war, prognostiziert, dass sein Vorschlag (dem viele „Konservative" noch nicht gewachsen seien) etwa nach zweihundert Jahren verwirklicht sein könnte und die holländischen Christen dann eben zu „Allah" beten würden.[30] Man könnte aber auch vermuten, dass es gar nicht erforderlich sein wird, so lange zu warten, wenn das Werk der Apostasie weiterhin in dieser Geschwindigkeit voranschreitet (was mehr als realistisch ist).

Dass der holländische Bischof nicht allein dasteht, zeigen auch die Aussagen einer noch viel angeseheneren Person - des Erzbischofs von Canterbury Dr. Rowan Williams, des heutigen Primas der Anglikanischen Kirche. Im Februar letzten Jahres sprach er von der Notwendigkeit der Aufnahme einiger Normen der Scharia in die britischen Gesetze. Und nach einer Meldung vom 17.07.2008 (die Epistel richtete sich an die in Canterbury einmal alle zehn Jahre stattfindende Tagung der anglikanischen Geistlichkeit) sprach er auch davon, dass grundlegende Postulate des Christentums für Moslems kränkend sein könnten. So betonte er unter anderem, dass der Glaube an die Heilige Dreifaltigkeit diesen wenig verständlich sei und „manchmal beleidigend" sein könne. Auch wenn er sich nicht direkt dazu äußerte, welche praktischen Folgen diese Vermutung haben solle, ist seine Andeutung leicht zu durchschauen: um nicht an etwas zu glauben, was für Moslems „kränkend" sein könnte, wäre es für Christen das Beste - Moslems zu werden.

Schließlich sollte man unter den einflussreichsten Führern der Apostasie den Ex-Katholiken, schweizerischen Theologen und Autor einer Menge dicker Bücher, Hans Küng, erwähnen. Er hat auch vor langer Zeit postuliert, dass die Lehre über die Göttlichkeit Jesu Christi das erste Hindernis im interreligiösen Dialog sei. Das zweite, so Küng, sei der aggressive Exklusivismus des Christentums, gegen den sogar Einzelfälle von Intoleranz in der Geschichte des Islam zu vernachlässigen seien.[31] Schon seit langem empfiehlt Küng den Christen, geistliche Freiheit bei Trägern fernöstlicher Religionen zu erlernen[32], und Toleranz bei Vertretern aller Religionen insgesamt. Seine öffentlichen Vorträge sind im heutigen Europa ziemlich populär.[33]

Auf die letzten vorgelegten Fakten werden mir die Optimisten wahrscheinlich entgegnen, dass die Lage nicht hoffnungslos sei; dass im meist „politisch korrekten" Großbritannien über 70% der Befragten die christlichen Prioritäten für ihr Land immer noch für wichtig halten (so wie auch die Erziehung der Kinder im christlichen Geist und die Unterrichtung christlicher Disziplinen in den Schulen), dass, unmittelbar nachdem Williams sich zur Scharia äußerte, Tausende Anglikaner Protestbriefe schrieben (die auch die Bewertung seiner Aussagen durch den Premierminister Brown bestimmten), dass die Römischen Katholiken Muskens einfach für einen Exzentriker halten, und dass sie Küng seit Jahrzehnten polemisieren. All das ist richtig. Aber mir macht eine andere Sache mehr Gedanken, und zwar, dass in den anderen Religionen, die jetzt mit dem Christentum in Europa konkurrieren, Apostaten nicht nur keine Ämter bekleiden dürfen (und schon gar keine hohen), sondern direkt verfolgt werden. Nach ihrem Wesen müssten die theologischen Aussagen der genannten Personen mit der Leugnung des Prophetentums Mohammeds durch einen Moslem, der Leugnung der Unvergänglichkeit des Gesetzes Moses'  durch einen Juden oder der Leugnung der vier „Edlen Wahrheiten" Buddhas durch einen Buddhisten verglichen werden. Es ist aber sehr schwer, sich derartige Vertreter anderer Religionen vorzustellen[34], wobei die genannte Stichprobe einflussreicher Quasi-Christen noch wesentlich erweitert werden könnte.[35]

Die Beurteilung dessen, welche Folgen der jetzige Kurs der politischen Korrektheit und die Kapitulation der Christen in Europa bereits in den nächsten Jahrzehnten haben könnte, überlasse ich den Futurologen. Möglicherweise wird die Hauptaufgabe der Christen in Europa sich auf die Bemühung einengen, wenigstens ihre historischen Hauptdenkmäler zu bewahren (was sich auch als schwierig herausstellen könnte, wenn man die rasche Nutzbarmachung des europäischen Raums durch nicht-christliche Religionen bedenkt). Möglicherweise werden die fortschreitende Krise des öffentlichen Ansehens des Christentums und der Zuwachs der Apostasie auch dazu führen, dass die Erbauer des Neuen Europa Geistliche anderer Religionen zur Weihe neuer christlicher Priester und Bischöfe heranziehen werden, beispielsweise bei deren Prüfung auf „Toleranz" und Ablehnung der „traditionellen Vorurteile", welche es, wie es bereits jetzt vielen scheint, in anderen Religionen schon längst nicht bestehen... Da es auf dieser Welt nichts gibt, was auf der Stelle stehen bliebe, könnte der Status einer „tolerierbaren Religion" auch weiter sinken, und es wäre dann durchaus denkbar, dass das Christentum in eine ähnlichen Lage zurückversetzt findet, wie es sie im Römischen Imperium bis Konstantin innehatte - mit dem einzigen Unterschied, dass sein gesellschaftliches Ansehen damals trotz Verfolgung eindeutig hoch gewesen war.

Aus dem Gesagten folgt die Bestätigung des Hauptleitsatzes dieses Artikels: dass die wohlgefällige Stimmung, die auf der Vorstellung beruht, dass eine Religion ihre Position bewahren könne, ohne sich selbst durchzusetzen, also nur, weil sie bereits existiert, vollkommen illusorisch ist. Denjenigen, die glauben, dass Europa ohne besondere Bemühungen trotzdem nicht aufhören würde, christlich zu sein, weil es schon mehrere Jahrhunderte lang christlich gewesen ist, möchte man daran erinnern, dass auch in Russland vor 1917 keiner außer wenigen Hellsehern vermutet hatte, dass das, was geschah, geschehen könnte - und sogar, nachdem es schon geschehen war, glaubten sehr wenige daran, dass es ernsthaft so bleiben könnte.

Gott gibt niemandem ein Mandat auf immer, und von menschlicher Seite sind bestimmte Bemühungen zur Verlängerung der Verhältnisse mit IHM erforderlich. Das Christentum in Europa mag heutzutage ein um nichts geringeres Bedürfnis nach Reconquista verspüren als im 11. und 12. Jahrhundert. Aber auf die Unerstützung solcher Machthaber wie Alfons dem Kämpfer, Ferdinand dem Großen oder Ferdinand dem Heiligen kann es nicht rechnen, denn solche gibt es nicht mehr. Die letzte Hoffnung kann nur die „Zurückeroberung"[36] des Bewusstseins sein, die damit beginnen sollte, dass Christen aller Konfessionen, die dem Schicksal ihrer Religion Bedeutung beimessen, sich vor allem selbst für Christen zu halten beginnen, und erst danach für Orthodoxe, Katholiken, Evangelen, Fundamentalisten usw., und auch die Interessen des Christentums in jedem Teil des heutigen Welt unmittelbar als eigene erkennen. Es sollte nur der Bemerkung eines sehr bekannten amerikanischen orthodoxen Priesters gedacht werden, der bereits vor drei Jahrzehnten über das Schicksal des Christentums in der säkularisierten Welt besorgt war. Der Satz, der auf viele Situationen, darunter auch auf diese, angewendet werden kann, lautet: „It is later than you think!"[37]

Dieses Artikel wurde in der Zeitschrift „Alpha und Omega", 3/2008 (53), S. 216-236 veröffentlicht.


[1] Nach der Übersetzung von Leopold von Schröder: http://12koerbe.de/hanumans/gita-2.htm, 30.03.2008 (Anm.d.Ü.)

[2] Vgl.: Оруэлл Дж. Скотское хозяйство. СПб., 2005, с. 129 (George Orwell: Animal Farm [in russischer Übersetzung]. St.Petersburg. 2005. S. 129).

[3] S.: Бьюкенен П. Смерть Запада. М.-СПб., 2004, с. 280 (Buchanan P., „The Death of the West [in russischer Übersetzung]. Moskau-St.Petersburg. 2004. S. 280).

[4] Diesen Gesetzen der politischen Korrektheit der Kriegszeit ist „Die Pressefreiheit", die Einleitung zum genannten brillianten Pamphlet, gewidmet. S.: Оруэлл Дж. Скотское хозяйство, с. 139-156 (George Orwell:. Animal Farm [in russischer Übersetzung]. St.Petersburg. 2005. S. 139-156).

[5] Darauf weist das Schicksal von S. Rushdie hin, der lebenslänglichen zur Fahndung ausgeschrieben ist, sowie das einiger Iraner, die sich ihm neulich angeschlossen haben; auch das Ende der Geschichte mit der Islamophobie des holländischen Regisseurs Theo van Gogh.

[6] Während dieser Text geschrieben wurde, stellte ich fest, dass die britische Post (laut Webseite des Radonezh-Vereins) es zum ersten Mal seit vielen Jahren wagte, zu Weihnachten Briefmarken mit christlicher Thematik zu drucken.

[7] Ganz zu schweigen vom „ultraprogressiven" England, wo Präzedenzfälle juristischer Verfolgung von Christen wegen des Nicht-Respektierens gleichgeschlechtlicher Ehen immer häufiger vorkommen. Sogar in Italien, - mal in der einen Stadt, mal in der anderen, -  gibt es immer wieder Streit um die Beibehaltung christlicher Symbole an munizipalen Gebäuden und sogar in deren Nähe.

[8] Auch die Art, wie die europäischen Buddhisten auf der Einhaltung ihrer Rechte bestehen, kann nicht umhin, Respekt zu erlangen. So reichten die örtlichen Buddhisten in Norwich bei der Polizei eine Klage gegen die Besitzer einer Kunstgalerie wegen der Ausstellung einer Buddha-Statue an einem ungeeigneten Platz ein, - und schafften es, dass die Ordnungshüter deswegen ein Verfahren wegen Anstiftung zum interkonfessionellen Streit eröffneten. Das ist besonders respektheischend, denn die örtlichen Christen wollten es nicht (oder wagten es nicht, was das gleiche ist), wegen der Schaustellung einer blasphemischen Figur Jesu Christi auf der gleichen Ausstellung Ärger zu machen.

[9] Innerhalb der letzten 30 Jahre wurde die Hälfte  der Gemeinden in Frankreich aus Mangel an aktiven Mitgliedern geschlossen. In den Niederlanden vermindert sich die Anzahl der funktionierenden Kirchen jährlich um eintausend. In Großbritannien werden regelmäßig Kirchen verschiedener protestantischer Bekenntnisse geschlossen. Was das Tempo der Entchristianisierung  betrifft, konnte im Jahr 2007 auch Tschechien mit den genannten Ländern (zu denen auch Schweden und Norwegen gezählt werden können) mithalten. Experten sagen voraus, dass in Deutschland zukünftig 30-40% der (protestantischen und katholischen) Gebetshäuser verkauft werden, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Kirchen ihre Kirchgänger verlieren, was auch einen Verlust kirchlicher Einnahmen bedeutet, die für den Unterhalt dieser Gebäude erforderlich sind. Ebenfalls wegen „Personalmangel" werden immer mehr Seminare und Klöster geschlossen. 

[10] Es genügt wenigstens darauf hinzuweisen, dass die diplomatischen Bemühungen des Vatikans während des 2. Weltkriegs mindestens 700.000 Juden vor dem Holocaust retteten.

[11] Minim (Hebr. îéðéï - Ketzer, Häretiker, Apostaten) - talmudische Bezeichnung für zum Christentum übergetretene Juden. Gegen die Minim richten sich viele talmudische Verbote bzw. Verfluchungen. (Anm.d.Ü.)

[12] Genannt sei hier das im Talmud enthaltene Charakteristikum Jesu als eines Okkultisten, der seine magischen Fähigkeiten und Magie, die er in Ägypten gelernt habe, dazu benutzt habe, das Volk zu verführen, und der zu Recht zum Tode verurteilt worden sei, sowie die durchaus herabwürdigenden Andeutungen im Zusammenhang mit der Gerechtheit seiner Mutter. S. z.B.: Sanh. 107 б, 43 а (Baraita in den uralten Manuskripten), Schab. 104 б (Baraita), Chag. 4 б. Bis jetzt war es nicht der Fall, dass die Juden auf diese „Formeln" offiziell verzichteten oder sich dafür entschuldigten.

[13] Dabei wird selten erwähnt, dass auch die Kreuzzüge, die in der Tat kaum begeistern können, auch nicht vom Himmel gefallen waren. In die zwei ihnen vorhergehenden Jahrhunderte fallen die Zerstörung Roms und die Ausplünderung und Schändung der Basilika von Petrus und Paulus durch die Sarazenen (846); die Eroberung Siziliens (859) samt 40jähriger Ausplünderung der Bevölkerung; die Verwüstung der Provance und Norditaliens (von der „Zentrale" in der Nähe von Toulon), sowie auch (infolge der Kontrolle über die Alpen) die Beraubung und Ermordung der nach Rom ziehenden Pilger (Ende des 9. Jahrhunderts); die Eroberung Genuas (935), die Okkupation von Sardinien (1015) und schließlich die Eroberung Jerusalems durch die Seldschuken 1076.

[14] Soweit ich weiß, war die einzige Ausnahme der Vortrag von Ilarion, Bischof von Wien und Österreich, auf der Tagung des Weltkirchenrates.

[15] Allerdings hatte auch sein Vorgänger, der ebenfalls "weltoffene" Papst Paul VI., darauf hingewiesen, dass Moslems und Katholiken denselben „wahren Gott" verehren. Über konkrete Formulierungen und „super-ökumenische" Initiativen der römischen Pontifices (die Einseitigkeit dieser Initiativen ist auffällig und dadurch zu erklären, dass an einem Dialog die schwächere Seite immer größeres Interesse hat) s. in der Veröffentlichung: Боррманс М. Павел VI и Иоанн Павел II в диалоге с мусульманами // Новая Европа, 2002, № 15, с.4-18 (Borrmans М. Paul VI. und Johannes Paul II. im Dialog mit Moslems / Nowaja Ewropa, 2002, Nr. 15, S. 4-18).

[16] Laut Meinung dieses russischen Theologen, „ist nichts auf dieser „säkularisierten" Welt ihr zuinnerst dermaßen unterworfen, wie die Kirche selbst..." Dabei kann man nicht umhin, ihm zuzustimmen, dass diese „Unterwerfung" ihren prinzipiellen Ausdruck in der vollkommenen Annahme der Gleichheit (als eines „Grundwertes") gefunden hat, die als solche in der geistlichen Perspektive weniger der Ungleichheit entgegensteht, sondern vielmehr der Liebe. Genau dieser „Grundwert, der auf allen Gesetzestafeln der Europäischen Union niedergeschrieben steht", ermöglicht es den Christen nicht, sich gegen die weibliche Priesterschaft und die Rechte der Homosexuellen in der Kirche entschlossen zu stellen, die heutzutage mit gesetzlichen Mittel durchgesetzt werden, jedoch das Ende des Christentums als solches bedeuten. S.: Прот. Александр Шмеман. Дневники 1973-1983. М., 2005 (Protopresbyter Alexander Schmemann. Die Tagebücher 1973-1983. Moskau, 2005) S. 620, 636 usw.

[17] In dieser Hinsicht sollte es für westliche Christen aufschlussreich sein, die Erfahrung der Legalisierung der Kirche unter den Bedingungen kommunistischer Regime zu betrachten. Ebenfalls lehrreich ist der Stand der Verhältnisse zwischen Kirche und Staat nach der Veröffentlichung der bekannten Deklaration des Metropoliten Sergius (Sergij) (Stragorodskij) vom 30.07.1927, in der geschrieben stand, dass es möglich sei, ein orthodoxer Christ zu sein und gleichzeitig „die Sowjetunion als sein bürgerliches Vaterland anzusehen, dessen Freuden und Erfolge auch unsere Freuden und Erfolge, und dessen Misserfolge unsere Misserfolge sind" (erst in einem viel später geschriebenen Brief ergänzte der Autor, dass die Kirche sich immerhin nicht verpflichtet fühlte, sich über ihre Verfolgung zu freuen) [zitiert nach: Поспеловский Д.В. Русская православная церковь в ХХ веке. М., 1995 (Pospelowskij D.W. Russische Orthodoxe Kirche im 20. Jahrhundert. Moskau, 1995) S.117]. Nach dieser Deklaration hörten die Maßnahmen gegen die Kirche nicht auf, sie schwächten sich nicht einmal ab, sondern nahmen neue Formen an (als Maßnahmen gegen diejenigen, die dieser Deklaration nicht befürworteten).

[18] Unter anderem wurden seine Grundeinstellungen und seine Schlussfolgerung publiziert in: Ответственность за «христианофобию» надо внести в общеевропейские документы, считает философ Владимир Шохин // Радонеж, № 6 (180) („Die Verantwortung für die >Christenphobie< sollte in die einheitseuropäischen Dokumente eingefügt werden", sagt der Philosoph Wladimir Schokhin / Radonezh, № 6 (180)), 2007, S.11.

[19] Das ist wenig verwunderlich, wenn man sich daran erinnert, dass die Politik des sich vereinigenden Europas nach wie vor von den so genannten „Neuen Linken" bestimmt wird, derer marxistische Mentalität im Prinzip keinen Pluralismus zulässt.

[20] Darüber, wie unpopulär selbst die Idee der Anerkennung der christlichen Wurzeln Europas ist, spricht schon die Tatsache, dass sogar jene politischen Führerinnen, die noch vor ein Paar Jahren ihre Förderung befürwortet haben (z.B. Angela Merkel), davon jetzt nur noch schweigen. Wahrscheinlich wollen sie nicht als unrealistisch denkende Menschen erscheinen.

[21] So bestand, laut Talmud, Rabbi Tarfon beispielsweise auf der Verbrennung der Bücher der Minim-Christen, obwohl sie „die Namen Gottes" erhielten, denn sie seien viel schlimmer als die Bücher der Heiden (Gojim), weil sie angeblich eine bewusste Verzerrung des Glaubens enthielten (Schab., 116а).

[22] Über die Ungleichberechtigung der modernen Christen und Juden in Europa s. meine Publikation: Шохин В.К. Иудаизм как «контрапозиция» христианству: К.М.Пилкингтон о двух религиях // Философия религии: альманах, 2006-2007. М., 2007, (Schokhin W.K. Judaismus als Gegenposition zum Christentum": K.M. Pilkington über die zwei Religionen // Religionsphilosophie: Almanach, 2006-2007.Moskau,2007), S. 484-493. Ich wage auch zu vermuten, dass die Scheu vor Hinweisen auf den Genozid an den Armeniern (s. oben) auch dadurch bedingt ist, dass Israel mehrmals zu verstehen gab, dass der „Holocaust" als solcher nur als Massenmord an den Juden während des 2. Weltkriegs geschehen konnte, nicht jedoch in Bezug auf die Armenier und andere Völker. Daher wäre es wiederum „politisch unkorrekt", andere Holocausts zu erwähnen.

[23] Das ist die Weigerung, den trinitaren Monotheismus als echten Monotheismus anzusehen, sowie die Vorstellung, dass der Apostel Paulus die ursprüngliche Lehre verzerrt habe, indem er eine neue Religion erschaffen hätte usw.

[24] Dieser Kurzfilm (dessen Name „Hader" bedeutet), der aus Koran-Zitaten bestand, die auf den Hintergrund von Archivaufnahmen des bekannten Terroranschlages vom 11.September 2001 demonstriert werden, wurde als eine Warnung konzipiert, dass „der Islam eine Bedrohung der Freiheit in den Niederlanden sei". Sein Autor, der konservative Politiker Geert Wilders, platzierte ihn am 28.03.2008 auf der LiveLeak-Webseite (da die holländischen TV-Kanäle sich weigerten, ihn zu zeigen). Nach den ersten Reaktionen von Moslems (die heftigsten kamen aus Pakistan) wurde die Seite aus dem Netz genommen.

[25] Aus dem Russischen übersetzt (Anm.d.Ü.)

[26] Noch 2003 erklärte Sultan Ben Abdul Aziz, Verteidigungsminister des Königreiches Saudi-Arabien, in aller Entschiedenheit, dass er den Bau christlicher Kirchen auf dem den Moslems heiligen Land nicht genehmigen werde.

[27] Nach den Daten der religiösen Nachrichtenagentur Blagowest-Info wurden nur im Zeitraum von 2000 bis 2005 allein in der westlichen Provinz Java 100 Kirchen vernichtet. - Отдел Внешних Церковных Связей. Информационный бюллетень (Das Auswärtige Amt der Russischen Orthodoxen Kirche - Informationsbulletin) 2005, № 7, S. 104.

[28] Bei all den Schwierigkeiten, denen Christen in Israel begegnen, sollte der Unterschied betont werden, dass Attentate auf sie nicht verschwiegen werden, während Fälle von Märtyrertum auf palästinischem Territorium meist nicht einmal erwähnt werden - aus „politischer Korrektheit" und vor allem einfach aus Angst. Das den Andersgläubigen gegenüber liberalste moslemische Land sind die Vereinigten Arabischen Emirate, danach kommt Qatar.

[29] Die Haltlosigkeit solcher Proteste gegen die Islamisierung Europas zeigt nur deren Erfolg. In der Tat ist es streng genommen noch nicht geklärt, wer hinter den Anschlägen vom 11. September steckt. Auch wenn es die Islamisten seien, sollte die Angelegenheit nicht so geradlinig mit dem Koran in Verbindung gebracht werden. Die Unzulänglichkeit dieser ganzen Sache fand ihren Höhepunkt eben daran, dass der dänische Karikaturenzeichner Kurt Westergaard, nachdem er „Fitna" gesehen hatte, den Autor des Films unverzüglich wegen Plagiats verklagte. Daran kann man deutlich sehen, wie die Eigeninteressen einiger Islamisierungsgegner über die Treue zur gemeinsamen Sache überwiegen.

[30] Interfax-religion.ru (mit der Referenz auf Catholic World News Site) von 15.08.2007.

[31] S.: Küng H. Projekt Welt-Ethos. München-Zürich, 1990, S. 109-110.

[32] In der auch von ihm geschriebene Reihe spekulativer Dialoge zwischen Christentum und nicht-christlichen Religionen (da bezieht er sich auf namhafte Spezialisten für die anderen Religionen), macht Küng dem Leser weis, dass die empfangende Seite im Dialog mit dem Buddhismus (es geht um die Praktik der Zen-Meditation) die christliche sein müsse, da sie unvergleichbar mangelhafter sei, nämlich infolge dessen, dass „Christen sogar im Gebet durch die kirchliche Dogmatik, die lähmenden Regeln und die geistliche Dressur reglementiert sind" [übersetzt aus dem Russischen]  S.: Küng, Hans und Behert, Heinz. Christentum und Weltreligionen. Buddhismus. München und Zürich, 1999, S. 204.

[33] Der Evolution der Ansichten Küngs ist ein besonderer Artikel von mir gewidmet: Шохин В.К. Ганс Кюнг и предлагаемый им проект глобального этоса // Вопросы философии (Schokhin W.K, Hans Küng und das von ihm vorgeschlagene Projekt des globalen Ethos / Fragen der Philosophie) 2004, № 10, С. 65-73.

[34] Und wenn sie auftauchen (wobei sie keinesfalls die Stellen der religiösen Führer einnehmen), sind ihre Schicksale, im Gegenteil zu denen der Apostaten des Christentums, gar nicht beneidenswert. Es genügt, sich an die Maßnahmen gegen einige ehemalige britische Moslems zu erinnern (s. oben, Anm. 4) bzw. an Mohammed Scharik, den neulich in Pakistan hingerichtet wurde (Meldung von 19.06.2008).

[35] Hier könnte beispielsweise an den bekannten ex-katholischen deutschen Prediger E. Drewermann erinnert werden, oder auch an die britischen Nachfolger des berühmtern J. Hicks (der z.Z. Professor in Kalifornien ist), des Gründers des Konzepts des religiösen Pluralismus (das auf der Leugnung der Göttlichkeit Jesu Christi basiert), der seine Karriere als Priester der Vereinigten Reformatorischen Kirche in England begonnen hat.

[36] Das ist die wörtliche Bedeutung des Wortes reconquista.

[37] Monk Damascene Christenson. Not of This World. The Life and Teaching of Fr. Seraphim Rose, Pathfinder to the Heart of Ancient Christianity. Forestville, CA, 1993, S. 603

Quelle: Портал Богослов.Ru

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Die religionsphilosophischen Aspekte der Ideen von Kurt Gödel

26. Februar 2009
Kiryanov, Dimitry, Priester

Dieser Artikel von Dimitrij Kirjanow, Dozent des Geistlichen Seminars zu Tobolsk, ist einer wenig bekannten Richtung der Werke von Kurt Gödel, eines bedeutenden Logikers und Mathematikers des 20. Jahrhunderts, gewidmet, - und zwar, den religionsphilosophischen Aspekten.

Kurt Gödel, der bedeutende Logiker und Mathematiker des 20. Jahrhunderts (1906-1978), ist in der wissenschaftlichen Welt hauptsächlich für seine Unvollständigkeitssätze bekannt, welche Meisterstücke der Mathematik darstellen. Einen anderen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag leistete er mit seinem Modell des rotierenden Universums, wo sich ferne Vergangenheit und ferne Zukunft überschneiden. Experte im Bereich der Beweistheorie, machte er die Modallogik[1] durch die Demonstration der Nützlichkeit der Modaloperatoren in der mathematischen Grundlagenforschung zu einem seriösen wissenschaftlichen Instrument.

Allerdings bleiben Gödels Ideen in Bezug auf die Theologie in der Wissenschaft meist unbeachtet. Sein Lebenslauf, zusammengefasst von Hao Wang[2], der mit Gödel lange Zeit in Kontakt stand, bezeugt, dass Gödel sich auch für religiöse Fragen interessierte. Wang betont, dass der wissenschaftliche Antrieb Gödels von den damit verbundenen Fragen zur Religion nicht zu trennen war. Gödel selbst beschrieb seine persönliche Philosophie als „rationalistisch, idealistisch, optimistisch und theologisch"[3]. Nach Aussage von J. W. Dawson, einem anderen Gödel-Biographen, gab es einige Überzeugungen, die für dessen Leben und Denken ausschlaggebend waren, und zwar:
1) Das Universum ist rational organisiert und erkennbar.
2) Außerhalb der physikalischen Welt existiert ein mentaler Bereich.
3) Konzepte werden durch Introspektion begriffen[4].
Die Überzeugung von der rationalen Erkennbarkeit des Universums war die Grundlage des philosophischen Theismus Gödels, „laut dem die Weltordnung die Ordnung des sie leitenden obersten Bewusstseins widerspiegelt"[5].

Zu den Wissenschaftlern, die unter dem Einfluss Gödels standen, gehörte auch sein Freund Albert Einstein. Von 1940 bis 1955 arbeiteten sie zusammen am Princeton-Institut für Angewandte Forschung. Oskar Morgenstern, einer der Begründer der Spieltheorie berichtet, dass Einstein, als er das Interesse an seiner eigenen Arbeit verlor, trotzdem zur Arbeit erschien, um „das Privileg zu genießen, zusammen mit Kurt Gödel nach Hause zu gehen"[6]. Und E. Straus, Assistent Einsteins in Princeton, schrieb: „Die einzige Person, die in den letzten Jahren eng mit Einstein befreundet war und sich ihm auf eine seltsame Art einigermaßen anglich, war Kurt Gödel, der große Logiker. Eigentlich waren sie in fast jeder Hinsicht sehr unterschiedlich; Einstein war gesellig, wirkte glücklich, lächelte viel und glaubte an die Vernunft. Gödel  dagegen wirkte immer sehr ernsthaft, absolut einsam und äußerst skeptisch, was die Vernunft als Mittel zur Erreichung der Wahrheit anging. Aber beide hatten etwas gemeinsam: sie begaben sich geradlinig und wahrhaftig zu den Schlüsselfragen des Seins"[7]. Aber Gödel pflegte, auch wenn er mit Einstein befreundet war, seine eigene, besondere Betrachtungsweise von Religion und Theologie.

Wie sein Briefwechsel mit B. D. Grandian zeigt, war Gödel ein eigenständiger Denker der theistischen[8] Richtung, der besonderes Interesse an der Erforschung der ontologischen Argumente für die Existenz Gottes hatte. Ein wichtiger Aspekt von Gödels philosophischem Denken ist die Tatsache, dass er nicht nur Theist, sondern auch Personalist war. Er verwarf die Vorstellung, dass Gott ein unpersönliches Wesen sei, wie Einstein es glaubte. Über sich selbst berichtete Einstein, dass er an den „einen Gott von Spinoza" glaube, der sich in der Harmonie von allem, was existiert, zeige, nicht aber an einen Gott, der sich um das Schicksal und die Handlungen von Menschen kümmere[9]. In diesem Zusammenhang sagte Gödel: Einsteins Glaubenslehre sei allzu abstrakt, so wie auch bei Spinoza und in der indischen Philosophie. Der Gott Spinozas sei geringer als eine Person, während sein persönlicher Gott größer als eine Person sei und somit auch als Person agieren könne. Es könnten Geister existieren, die körperlos sind, aber sich mit uns unterhalten und auf die Welt Einfluss ausüben könnten"[10].

Nach Meinung Gödels wäre ein Gott ohne die Fähigkeit, „als Person zu agieren", nicht allmächtig, was der gängigen Auffassung von Gott nicht entspräche. Folglich sollte Gott, wenn er existierte, auch fähig sein, als Person zu agieren.

Wie bereits erwähnt, leistete Gödel nicht nur einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Mathematik und der Logik, sondern auch zur kosmologischen Theorie bei. 1949 stellte er seine Ideen in einem Essay dar, der sich laut Einstein als wichtiger Beitrag zur allgemeinen Relativitätstheorie erwies, insbesondere zur Analyse des Zeitkonzepts. Das von Gödel vorgeschlagene Modell des rotierenden Universums, in dem sich ferne Vergangenheit und ferne Zukunft überschneiden, hatte rege Diskussionen über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Existenz eines solchen Universums zur Folge. Faktisch zeigte Gödel, dass bestimmte Modelle des Universums, die den Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie entsprechen, die theoretische Möglichkeit von Zeitreisen eröffneten. Gödel war der Meinung, dass die Zeit, „diese rätselhafte und dabei auch sich selbst widersprechende Substanz, die die Grundlage der Welt und unseres eigenen Daseins bildet"[11], sich letztendlich als größte Illusion herausstellen würde. Zeit im klassischen Sinne des „irgendwanns" würde aufhören zu existieren, und es müsse eine andere Form des Seins kommen, die als „Ewigkeit" bezeichnet werden könne. Es ist wohl nachvollziehbar, dass eine solche Vorstellung über das Wesen der Zeit Gödel zu der Überzeugung brachte, es müsse ein Leben nach dem Tod geben. Er schrieb: „Davon, dass die Existenz auch post mortem weiterbesteht, bin ich überzeugt, unabhängig von der Theologie. Wenn die Welt rational aufgebaut ist, sollte auch die Existenz post mortem geben"[12].

Üblicherweise betonen moderne Atheisten und Agnostiker, dass ihre Philosophie rational sei, verwerfen aber die theistischen Schlussfolgerungen, die sie als psychologische Flucht der Ignoranten oder als Selbstlüge bezeichnen. Das kann man am Beispiel solcher Wissenschaftspopulisten wie R. Dawkins und D. Dennett sehen. Befürworter einer solchen Sichtweise betrachten den Theismus als eine höchst irrationale Überzeugung, die im radikalen Konflikt mit den Argumenten der Vernunft stehe. Gödel dagegen war Angehöriger einer langjährigen Tradition europäischer rationaler Theologie, die auf R. Descartes und G. W. Leibniz zurückging, und hielt eine solche rationale Theologie für möglich.

Eine aufmerksame Beschäftigung mit den Grundlagen der Physik und Mathematik und der Geschichte dieser Disziplinen lässt darauf schließen, dass der Glaube den gemeinsamen Nenner von Wissenschaft und Theologie darstellt. Betrachten wir die Natur der Axiome eines beliebigen, z.B. mathematischen Formalsystems. Sobald ein Axiom gewählt ist, können zwar die angenommenen Output-Regeln in einen Rechner eingegeben werden, um die Richtigkeit eines jeden Arguments zu prüfen. Aber die Axiome selbst bleiben dabei willkürlich, in dem Sinne, dass ihre Wahl auf einige ziemlich willkürliche Annahmen zurückgeht. Axiome sind von Nutzen, aber sie müssen nicht notwendig wahr sein. Werden die Axiome geändert, ändert sich auch das System und die Gesamtheit der Annahmen, die als wahr angesehen werden. Wird die Tatsache berücksichtigt, dass Mathematiker derzeit „ein System der Axiome verwenden, dessen logische Folgerichtigkeit niemand überzeugend demonstrieren kann"[13], wird die Situation noch überraschender. Nichtsdestoweniger glaubt die Mehrheit der Denker unserer Zeit nach wie vor, dass die Mathematik das zuverlässigste Mittel zur Wissensgewinnung sei. Edward Nelson, ein Wissenschaftsphilosoph, bezeichnet diese Überzeugung als „pythagoreische Religion"[14].

Auch in der Naturwissenschaft hat der Glaube entscheidende Bedeutung. Werden die Naturen der Energie oder der Materie betrachtet, werden die Gesetze der Physik als axiomatisch angenommen. Glauben wir, dass „die Welt rational" und wohlgeordnet ist, so wie Gödel es sah, dann mag die Annahme der Gesetze der Physik als Axiomatik akzeptabel sein - der Glaube bleibt dabei aber Voraussetzung des Verstehens, wie auch in der Theologie. Die meisten Wissenschaftler, auch wenn sie weder die Entstehung des Universums und des Lebens noch die Natur des Bewusstseins oder der Zeit vollständig erklären können, weigern sich heutzutage, bei der Beantwortung solcher Fragen auf Gott zurückzugreifen. Allerdings beruht diese Denkweise, die den Glauben an das Transzendentale verneint, wiederum auf einem anderen Glauben - nämlich daran, dass der Erkenntnisvorgang früher oder später positive Ergebnisse bringen müsse. Genau betrachtet bedeutet dies, dass der Glaube wesentliche Bedeutung in der Entwicklung des Wissens hat - oder umgekehrt - seiner Zerstörung.  Gödel war der Meinung, dass der Glaube nicht als überflüssige Voreingenommenheit angesehen werden dürfe, und betonte die positiven Inhalte der Religion. Für ihn aber bedeutete die Präsenz des Glaubens in der intellektuellen Erkenntnis keinen Verzicht auf eine rationale Begründung des Glaubens. Sehr ernsthaft nahm er die Herausforderung von L.Wittgenstein, der die Notwendigkeit einer rationalen Argumentation für die Existenz Gottes betonte. Als Instrumentarium zur Beurteilung des ontologischen Arguments, das zuerst von Anselmus von Canterbury im „Proslogion" vorgeschlagen war, benutzt Gödel die Formallogik. Allerdings veröffentlichte Gödel, der Angst hatte, von seinen Kollegen verspottet zu werden, zu Lebzeiten keine Artikel zum ontologischen Argument der Existenz Gottes.

Wie kam es dazu, dass ein Mathematiker begann, sich mit der Frage der Existenz Gottes zu beschäftigen? Gödel war ein Mystiker, dessen mathematische Forschung durch die neoplatonische Philosophie inspiriert war. In dieser Hinsicht hatte Gödel sowohl mit mittelalterlichen Theologen und Philosophen als auch mit Mathematikern des 20. Jahrhunderts vieles gemeinsam.  Aber der tiefere Grund dafür, dass Gödel begann, sich mit dem ontologischen Gottesbeweis zu beschäftigen, liegt darin, dass dessen meist komplizierten Versionen mit den Begriffen der sogenannten Modallogik dargestellt wurden. Dieser Bereich der Logik war den mittelalterlichen Scholasten bekannt und von C. I. Lewis axiomatisiert worden. Die Modallogik erwies sich nicht nur als nützliches Instrument, mit dessen Hilfe die Frage über die Existenz Gottes diskutiert werden konnte, sondern erwies sich auch als geeignete Sprache für die Beweistheorie. Für die Erforschung dessen, was im Rahmen mathematischer Systeme bewiesen werden kann und was nicht, ist sie ebenfalls nützlich.

Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen war Gödel davon überzeugt, dass die rationale Theologie genauso axiomatisiert werden könne wie etwa eine mathematische oder physikalische Theorie. Beispielhaft in diesem Zusammenhang ist ein Dialog zwischen Kurt Gödel und Rudolf Carnap am 13. Oktober 1940. In dieser Diskussion betonte Gödel, dass es möglich sei, „ein präzises System von Postulaten festzulegen, die Konzepte benutzen, die normalerweise als metaphysisch betrachtet werden: Gott, Seele, Idee"[15]. Dabei, so Gödel, würde diese „Theorie" beobachtbare Folgen haben. Faktisch schlägt er vor, eine Metatheorie zu bilden, die auch die rationale Theologie miteinschließt: „Solche Theorie sollte zu Folgen führen, die empirisch wahrnehmbar sein können. Aber die Form der zentralen theoretischen Konzepte, die innerhalb dieser Theorie existieren, sollte sich viel weiter als auf das objektiv Verifizierbare ausbreiten".[16] Im Rahmen dieser Diskussion gibt Carnap zu, dass die moderne Physik die gleiche logische Struktur hat, wie die von Gödel für die Theologie vorgeschlagene. Die physikalischen Theorien beinhalten also solche Konzepte wie Elektron, Wellenfunktion und elektromagnetisches Feld. Diese abstrakten Konzepte ermöglichen die Ausgabe von beobachtbaren und messbaren Fakten - auch wenn sie empirisch, also in den Begriffen der Beobachtungsmethoden und -ergebnisse, selbst nicht direkt gemessen werden können[17]. Carnap gibt zu, dass die Behauptung Gödels korrekt ist, aber nur in einer rein formalen Sichtweise. Rein logisch oder epistemiologisch widerspreche sein Verständnis der theoretischen Konzepte der Theologie nicht länger dem Verständnis der theoretischen Begriffe in anderen Bereichen, z.B. in der Physik. Aber nach der Meinung Carnaps reicht diese formale Betrachtungsweise nicht aus, weil sie nicht entscheide, welche Konzeptualisierung für den Wissensfortschritt ergiebig ist und welche eben nicht. Für Carnap ist die Wissenschaft jeder Theologie überlegen, die in der von Gödel vorgeschlagenen Richtung entwickelt werden kann. Gödel antwortet Carnap, dass diese Frage empirisch sei und die Antwort nicht a priori bekannt sein könne. Carnap stimmt dem zu, behauptet aber nach wie vor, dass kein Wissenschaftler derartige Bemühungen als ernsthaft ansehen würde. Gödel ist damit nicht einverstanden und betont, dass der entscheidende Fortschritt in der Wissenschaft häufig von einer Änderung der Richtung abhängt. Er weist darauf hin, dass paradigmatische Richtungsänderungen häufig eine Weiterentwicklung der Wissenschaft zur Folge hatten. Ebenfalls besteht er darauf, dass solche Bemühungen auch in Bezug auf die Theologie sinnvoll wären. So ist es auch kein Wunder, dass Gödel bereits 1940 versuchte, die Existenz Gottes ontologisch zu beweisen.

Den ontologischen Gottesbeweis hatte als erster Anselmus von Canterbury in seinem Werk namens „Proslogion" zu führen versucht. Anselmus hatte Gott als dasjenige bestimmt, worüber hinaus nichts Größeres (Vollkommeneres) gedacht werden kann. Er hatte behauptet, dass sogar ein Atheist zustimmen müsse, dass die Existenz Gottes möglich sei; jedoch sehe ein Atheist diese Existenz einfach als eine mögliche Lüge an. So wie sich ein Maler sein Werk vorstelle, bevor er es auf ein Bild banne, so könne ein Atheist auch behaupten, dass er sich eine Welt vorstellen könne, in der Gott existiert, auch wenn diese Welt nicht wirklichkeitsgetreu sein möge. Kurz gefasst kann das ontologische Argument des Anselmus folgendermaßen dargestellt werden: „nach der Bestimmung ist Gott das, größer als das nichts zu denken ist. Gott existiert im Denken. Aber die Existenz in der Wirklichkeit ist größer als die Existenz nur in Gedanken. Folglich sollte Gott existieren".

Im 17. Jahrhundert entwickelte René Descartes den ontologischen Beweis weiter, indem er eine Analogie zur Euklidischen Geometrie herstellte. Er behauptet, dass „die Vorstellung des Höchsten, Perfekten Wesens, dem es an Existenz fehlt", nicht weniger widersprüchlich sei als „die Vorstellung eines Dreiecks, dessen Winkelsumme nicht gleich 1800 ist"[18]. Nach Meinung von Descartes bedeutet die Idee eines höchsten, perfekten Wesens, das nicht existiert, einen logischen Widerspruch. Im 18. Jahrhundert versuchte G. W. Leibniz die Argumentation Descartes' zu verbessern. Er behauptete: da Vollkommenheiten nicht objektiv analysiert werden könnten, könne auch nicht demonstriert werden, dass die Vollkommenheiten unkompatibel seien. So schloss er, dass alle Vollkommenheiten in einer Entität existieren könnten - nämlich in Gott.

Kurt Gödel beschäftigte sich mit der Erarbeitung seiner Version des ontologischen Gottesbeweises im Kontext dieses philosophischen und historischen Rahmens. Von Leibniz inspiriert, versuchte er, einen strengeren Beweis unter Verwendung der Modallogik vorzulegen. Leider ist die Darstellung der Gödel'schen Argumentation ohne eine Einführung in die Grundlagen der Modallogik unmöglich und bleibt damit außerhalb des dargestellten Artikels.

B. Russell hat zu Recht bemerkt, dass „es viel einfacher ist, anzunehmen, dass die ontologischen Argumente nicht so gut seien, als genau zu sagen, was an ihnen fehlerhaft sei"[19]. Die logische Makellosigkeit der Schlussfolgerungen von Kurt Gödel verpflichtet niemanden dazu, seine Argumentation zu akzeptieren. Bereits Kant hatte eingewandt, dass Existenz kein Prädikat sei. Wäre aber die Kantsche Kritik am klassischen ontologischen Argument in der Interpretation des die Aussagenlogik nutzenden Descartes auch berechtigt gewesen, verliert sie doch ihre Kraft, wenn sie auf einen Beweis angewandt wird, der auf der Sprache der Modallogik formuliert ist. So wie schon bei den Argumenten von Anselmus, Descartes und Leibniz, stellten auch die Gegner Gödels entweder die Glaubwürdigkeit der Modallogik als solche in Frage, oder sie äußerten Einwände gegen den im Beweis aufgestellten Satz von Axiomen und Definitionen. Diese Angriffe begannen sofort nach der Veröffentlichung des ersten Artikels, in dem Gödel sein ontologisches Argument vorgestellt hatte.

Selbstverständlich sollte man nicht so naiv sein, zu glauben, dass wir jeden vernünftigen Menschen mithilfe von ontologischen Argumenten oder anderen Existenzbeweisen vom Theismus überzeugen könnten. Wir können aber zumindest einen Menschen benennen, der durch den ontologische Gottesbeweis zum religiösen Glauben gebracht wurde: den Schriftsteller Clive Staples Lewis.[20] Gleichzeitig sollten diejenigen, denen das ontologische Argument verdächtig erscheint, sich selbst fragen, worauf ihr Verdacht beruht - auf wirklichen Fehlern im Beweis oder auf ihrer eigenen Unwilligkeit, die endgültige Schlussfolgerung dieses Arguments zu akzeptieren.

Obwohl Gödel bereits 1941 die ersten Entwürfe seiner Version des Arguments ausarbeitete, sprach er bis 1970 aus Angst vor Spott von Seiten seiner Kollegen nicht darüber. Im Februar 1970, als er seinen Tod nahen spürte, erlaubte er Dana Scott, seiner Assistentin, von einer Version seines Beweises eine Kopie anzufertigen. Im August 1970 sagte Gödel zu Oskar Morgenstern, dass er mit seinem Beweis jetzt zufrieden sei. Allerdings schrieb Morgenstern am 29. August 1970 in sein Tagebuch, dass Gödel den Beweis nicht veröffentlichte, weil er meinte, andere könnten denken, dass „er wirklich an Gott glaubte, während er sich nur mit der logischen Forschung beschäftigte (d.h., er bemühte sich zu zeigen, dass ein solcher Beweis mit den klassischen Behauptungen (über die Vollkommenheit usw.) bzw. seine richtige Axiomatisierung möglich seien)"[21]. Nach dem Tode Gödels 1978 wurde in seinen Papieren eine etwas andere Version des ontologischen Arguments gefunden. Beide Versionen wurden 1987 veröffentlicht.

Das Tagebuch von Oskar Morgenstern ist zwar eine wichtige und normalerweise zuverlässige Quelle, was die letzten Lebensjahre Gödels angeht, aber die Behauptung, dass Gödel nicht an Gott geglaubt habe, stimmt mit anderen Aussagen nicht überein. In einem Brief an seine Mutter, die ihren Sohn für einen Freidenker hielt, schrieb Gödel über seinen Glauben an eine Existenz nach dem Tode. Adele, die Frau von Gödel, erzählte Hao Wang zwei Tage nach dem Tod ihres Mannes, dass dieser, auch wenn er die Kirche nicht besucht hatte, doch religiös gewesen war und „jeden Sonntagmorgen im Bett die Bibel gelesen hatte"[22]. Gödel hatte gesagt: „Mein Glaube ist theistisch und nicht pantheistisch[23], er folgt eher Leibniz als Spinoza"[24].

Das ontologische Argument der Existenz Gottes und das moderne wissenschaftliche Wissen sind sich in gewisser Weise ähnlich. Das ontologische Argument versucht, alle existierenden Dinge auf das notwendige Sein, also auf Gott zurückzuführen. Auf ähnliche Art und Weise versucht die Wissenschaft, die Ereignisse dieser Welt auf fundamentale Notwendigkeiten zurückzuführen. Die physikalischen Gesetze sind, logisch gesehen, nicht notwendig, sind aber notwendiger als einfache Tatsachen, weil sie nämlich als wahr für alle Zeiten und Orte angenommen werden. Das heißt, dass die Suche nach einer fundamentalen, einheitlichen physikalischen Theorie der Zurückführung der gesamten geschaffenen Welt auf das notwendige Sein angeglichen werden kann. Beide Bestrebungen sind geistesverwandt. Allerdings sollte, was die Suche nach einer fundamentalen Theorie betrifft, auch erwähnt werden, dass der Optimismus der Aussage von Steven Hawking, dass der Mensch „das Bewusstsein Gottes erkennen" könne, ziemlich grundlos ist, und zwar infolge der Unvollständigkeitssätze, die von Gödel aufgestellt und bewiesen wurden. 2004 wurde auch von Hawking anerkannt: „Ich möchte die Frage stellen, wie weit wir in unserer Suche nach Verständnis und Erkenntnis sind. Werden wir am Ende die endgültige Form der Naturgesetze herausfinden? Unter vollständiger Form verstehe ich einen Satz von Regeln, der uns zumindest im Prinzip ermöglicht, anhand des Zustands des Universums zu einem beliebigen Zeitpunkt die Zukunft exakt vorherzusagen"[25]. Hawking ist der Meinung, dass es aufgrund der Sätze Gödels unmöglich erscheint, eine Theorie des Universums mittels einer endlichen Menge von Behauptungen zu formulieren.

Die Gödelschen Unvollständigkeitssätze beweisen, dass es in jedem axiomatischen und schlüssigen System (wie z.B. der Arithmetik) Wahrheiten gibt, die im Rahmen dieses Systems nicht bewiesen werden können. Diese Schlussfolgerungen haben weitgehende philosophische Folgen, die die Hoffnungen vieler früherer Mathematiker und Philosophen (u.a. Dan Gilbert, Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein)  zunichte gemacht haben. Gödel führte den Beweis seine Unvollständigkeitssätze, da er eine strikte Trennung zwischen reiner Mathematik und metamathematischen Annahmen durchführen wollte. Die Formalisierung bzw. die Axiomatisierung der Arithmetik (und im Grunde genommen jeder deduktiven Theorie) besteht darin, dass die Arithmetik auf einen kleineren Satz primärer Formeln und Regeln zur Manipulation mithilfe von Symbolen zurückgeführt werden kann. Ein formales System wird als deduktives System interpretiert, wenn die primären Formeln als logische Ausgaberegeln ausgelegt werden können, die die Axiome der Theorie und die Regeln zur Manipulation mithilfe von Symbolen darstellen. Der erste Unvollständigkeitssatz Gödels besagt, dass „jedes formale System, das so komplex wie Arithmetik, endlich und konsequent ist, eine Behauptung enthält, die im Rahmen dieses Systems nie bewiesen oder widerlegt werden kann. Damit ist dieses System unvollständig"[26]. Ein Beweis der Übereinstimmung erfordert notwendigerweise die Hinzuziehung einiger Annahmen, die nicht im Bereich der Arithmetik liegen. Jede deduktive Theorie, die eine elementare Arithmetik beinhaltet (also die Begriffe der Naturalzahlen und der Operationen Addition und Multiplikation), ist damit Erbin dieser Unvollständigkeit. Darüber hinaus zeigte Gödel, dass praktisch jede metamathematische Annahme formal auf einfache arithmetische Ausdrücke zurückgeführt werden kann. Das heißt, die philosophische Bedeutung der Unvollständigkeitssätze geht weit über den Rahmen der reinen Mathematik hinaus. Laut positivistischer[27] Wissenschaftsphilosophie ist jede physikalische Theorie ein mathematisches Modell, also in der Sprache der Mathematik darstellbar. Wie Steven Hawking zu Recht hinweist: „Wenn es mathematische Ergebnisse gibt, die unbeweisbar sind, dann gibt es auch physikalische Probleme, die nicht vorhersagbar sind"[28]. Wir und unsere Modelle sind ein Teil des Universums, das wir beschreiben. Das heißt, eine physikalische Theorie ist in sich selbst geschlossen, so wie in den Gödelschen Sätzen. Folglich kann davon ausgegangen werden, dass sie entweder unkompatibel oder unvollständig ist. Faktisch bezweifelt Steven Hawking heutzutage, so wie vorher auch Murray Gell-Mann, dass eine endgültige Theorie formuliert werden kann. Aber, wie Stanley Jaki postuliert, das Problem bestehe nicht in der Unmöglichkeit, die endgültige Theorie zu formuliert, sondern in der Unmöglichkeit, davon auszugehen, dass diese von uns formulierte Theorie wirklich endgültig sei[29]. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Physik am Ende wäre. Der Gödelsche Satz impliziert nicht, dass ein Physiker nicht zu einer Theorie von Allem gelangen könnte. Wissenschaftler können Theorien aufstellen, die zum Zeitpunkt ihrer Formulierung alle bekannten physikalischen Ereignisse erklären. Aber in den Begriffen des Gödelschen Satzes kann eine solche Theorie nicht als zweifellos wahr angesehen werden. Eine solche Theorie kann nicht ausschließen, dass in der weiteren Zukunft im Universum neue Entdeckungen gemacht werden könnten, die daraufhin  einer anderen „endgültigen" Theorie bedürfen würden usw. Der Gödelsche Satz bedeutet auch, dass Wissenschaftler, die sich zum Ziel setzen, das Bewusstsein Gottes zu begreifen, keinen Erfolg haben können.

Kurt Gödel hat bis in seine letzen Tage etwas von seinem kindlichen Glauben an Gott bewahrt. Er hat das negative Pathos des materialistischen Positivismus bis tief ins Herz verspürt und seinen Satz als vernichtende Waffe dagegen angesehen.


[1] Die Modallogik ist ein Zweig der Logik, der sich mit den Folgerungen um die Modalbegriffe möglich und notwendig befasst. (Anm.d.Ü)

[2] Wang H. Reflections on Kurt Gödel. MIT Press, 1987.

[3] Ibidem. S. 316.

[4] Dawson J.W. Logical Dilemmas. The Life and Work of Kurt Gödel. A.K. Peters, Wellesley, 1997. S. 261.

[5] Yourgrau S. A World without Time: The Forgotten Legacy of Gödel and Einstein. NY, Basic Books, 2005. S. 104-105.

[6] Morgenstern O. Letter to Bruno Kreisky. 1965. // Wang H. Reflections on Kurt Gödel. MIT Press, 1987. S. 31.

[7] Wang H. Reflections on Kurt Gödel. Massachusetts, MIT Press, 1987. S. 115.

[8] Theismus ist der Glaube an Gott nicht nur als an den Schöpfer und die Grundursache von allem, aber auch als an den Fürsorger und Bewahrer des Universums, mit dem es möglich ist, in den Sakramenten und Gebeten zu kommunizieren. Die perfekteste Art des Theismus ist das Christentum. (Anm.d.Ü.)

[9] Zit. nach: Frankenberry N. Faith of Scientists in Their Own Words. Princeton University Press, 2008. S. 151.

[10] Wang H. A Logical Journey: From Gödel to Philosophy. Massachusetts, MIT Press, 1996. S. 152.

[11] Yourgrau S. A World without Time: The Forgotten Legacy of Gödel and Einstein. NY, Basic Books, 2005. S. 111.

[12] Davis S.J. A Brief Look at Mathematics and Theology. URL: http://www2.hmc.edu/www_common/hmnj/davis2brieflook1and2.pdf (Abfrage vom 20.02.2009).

[13] Nelson E. Mathematics and Faith. URL: http://www.math.princeton.edu/~nelson/ (Abfrage vom 20.02.2009).

[14] Ibid.

[15] Gierer A. Godel meets Carnap: A prototypical discourse on science and religion// Zygon, 1997. V. 32. S. 214.

[16] Ibid.

[17] Ibid. S. 215.

[18] Hick J. Ontological Argument for the Existence of God// Encyclopedia of Philosophy. NY., Gale, 2006. V. 7. S. 16.

[19] Zit. nach: Oppy G. Ontological Arguments // Stanford Encyclopedia of Philosophy. URL: http://plato.stanford.edu/entries/ontological-arguments/ (Abfrage vom 20.02.2009).

[20] Edwards B.L. C.S. Lewis: Life, Works and Legacy. Volume 1. An Examined Life. London, Praeger, 2007. S. 36.

[21] Sobel J.H. Logic and Theism. Arguments For and Against Beliefs in God. NY. Cambridge University Press. 2004. S. 115-116.

[22] Ibid. S. 116.

[23] Pantheismus ist der Glaube daran, dass Gott und Natur eins seien. (Anm.d.Ü.)

[24] Ibid.

[25] Hawking S. Godel and the End of Physics. URL: http://www.damtp.cam.ac.uk/strtst/dirac/hawking/ (Abfrage vom 20.02.2009).

[26] Srikanth R., Srikanth H. Godel Incompleteness and the Black Hole Information Paradox.  URL: http://www.arxiv.org.0705.147v1/ (Abfrage vom 20.02.2009).

[27] Positivismus ist die Behauptung, dass die Menschheit in ihrer Entwicklung drei Stadien durchläuft: ein theologisches Stadium, in dem der Glaube vorherrscht; ein metaphysisches Stadium, in dem die spekulative Philosophie vorherrscht; und ein positives Stadium, in dem das wissenschaftliche Wissen vorherrscht. (Anm.d.Ü)

[28] Jaki S.L. A Late Awakening to Godel in Physics. URL: http://pirate.shu.edu/~jakistan/ (Abfrage vom 20.02.2009).

[29] Ibid.

Quelle: Портал Богослов.Ru

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Der geistliche Kampf in der modernen Welt

8. Oktober 2009
Ware Kallistos, (Ware Timothy), Metropolit

Der folgende Vortrag des Metropoliten Kallistos (Ware) von Diokleia, wurde am 12. September 2009 vor den Teilnehmern der 17. Internationalen Ökumenischen Tagung gehalten. Diese jährliche Tagung in Bose (Italien) ist traditionell den Angelegenheiten des geistlichen Lebens in der orthodoxen asketischen Tradition gewidmet. In dem Vortrag werden die Ansichten verschiedener Heiliger Väter über die Erscheinung der Leidenschaften sowie sechs Aspekte des geistlichen Kampfes in der modernen Welt erörtert.

Vorwort

Ich betrachte es als eine Ehre, auf dieser Tagung das Schlussplädoyer halten zu dürfen. Heute morgen werde ich zweierlei Themen behandeln. Erstens werde ich, eingedenk der Tatsache, dass wir während dieser Tagung mehrmals über „Leidenschaften" gesprochen haben, diesen Begriff näher betrachten und versuchen, das, was wir damit meinen, näher zu spezifizieren. Zweitens werde ich über das im Titel meines Vortages bezeichnete Thema sprechen, nämlich über „den geistlichen Kampf in der modernen Welt".

 

Keine neuen Sünden?

Vor über fünfzig Jahren sagte mir Vater Algy Robertson (von der Society of Saint Francis), der gewohnt war, jede Woche viele Stunden mit dem Anhören der Beichten zu verbringen, mit leichter Ermüdung in der Stimme: „Wie schade, dass es keine neuen Sünden gibt!" Im Gegensatz zur vorherrschenden säkularen Sichtweise ist es nicht die Frömmigkeit, die ermüdend und immergleich daherkommt, sondern die Sünde. Das Böse ist grundsätzlich unkreativ und monoton, während die Heiligen unerschöpfliche Vielfalt und Originalität aufweisen.

Wenn die Sünde grundsätzlich etwas immer wiederkehrendes ist, dann folgt daraus, dass der geistliche Kampf, verstanden als der unsichtbare Kampf[1] gegen unsere bösen Gedanken und sündhaften Leidenschaften, in der modernen Welt derselbe bleibt, der er in der Vergangenheit gewesen ist. Seine Außenformen können sich ändern; sein Innencharakter bleibt aber unverändert. Ein Buch wie „Klimax tu paradeísu"[2], geschrieben vom Heiligen Johannes Klimakos, kann im einundzwanzigsten ebenso wie im siebten Jahrhundert als praktischer Leitfaden dienen. Heute, so wie auch in der Vergangenheit, geht unser Gegner, der Teufel, wie ein brüllender Löwe umher und sucht, wen er verschlinge[3]. Heute, so wie auch in der Vergangenheit, verwandelt sich der Satan in einen Engel des Lichtes[4]. Heute, so wie auch in der Vergangenheit, beruft Gott uns zu jenem Geist der Wachsamkeit, den die asketischen Väter des christlichen Orients mit dem Wort nepsis „nüchtern", „wachend"[5] bezeichnet haben.

 

"Abtöten" oder "verklären"?

Im Laufe unseres heutigen Dialogs haben wir immer wieder von den Leidenschaften gesprochen. Was ist aber mit diesem Begriff genau gemeint? Leider ist es so, dass das Englische Wort passion („Leidenschaft"), das normalerweise zur Übersetzung von pathos benutzt wird, grundsätzlich nicht ausreicht, die Vielfalt der Bedeutungen zu transportieren, die in dem griechischen Begriff präsent sind. Pathos, das von dem Wort paschein („leiden") abgeleitet ist, bedeutet generell einen passiven Zustand, im Gegensatz zu dynamis, einer aktiven Kraft. Es kennzeichnet etwas, dem eine Person oder ein Objekt unterworfen ist, ein passiv erlebtes Ereignis oder einen passiv erlebten Zustand. Daher werden Schlaf und Tod bei Clemens von Alexandria als pathos bezeichnet, und der Heilige Gregor von Nazianz beschreibt die Mondgesichter als pathē. Angewandt auf unser Innenleben, hat pathos daher die Bedeutung eines Gefühls oder einer Emotion, die von einer Person erlitten oder erlebt wird.

Bereits in der vorpatristischen griechischen Philosophie können zwei unterschiedliche Haltungen zu den Leidenschaften unterschieden werden. Da gibt es einerseits die Sichtweise der frühen Stoiker, bei denen pathos einen chaotischen und übermäßigen Impuls bedeutet, horme pleonazousa in der Definition von Zeno. Das ist eine pathologische Persönlichkeitsstörung, eine Krankheit (morbus), wie Cicero es ausdrückt. Der weise Mensch bezweckt also apatheia, die Freiheit von Leidenschaften.

Neben dieser ungünstigen Sichtweise auf die Leidenschaften gibt es allerdings auch eine positivere Einschätzung, die bei Plato und, in einer weiterentwickelten Form, bei Aristoteles gefunden werden kann. Im Phaidros benutzt Plato die Analogie mit dem Wagenlenker und den zwei Pferden. Hier wird die Seele als Wagen betrachtet, mit der Vernunft (to logistikon) als Wagenlenker, und zwei Pferden, die an den Wagen gespannt seien; eines sei von edler Rasse, das andere ungezogen und rebellisch. Diese bezeichnen die höheren Emotionen des „begeisterten" oder „umfassenden" Teils der Seele (to thymikon) einerseits und die niedrigen Emotionen des „begehrenden" Teils (to epithymitikon). Soll der zweispännige Wagen in Bewegung gesetzt werden, brauche er beide Pferde; ohne die Lebenskraft, die von den pathē bereitgestellt wird, werde der Seele die Mächtigkeit und die Handlungsmacht fehlen. Außerdem benötige der zweispännige Wagen, um in die richtige Richtung zu fahren, nicht nur eines, sondern beide Pferde. Daher könne die Vernunft weder auf die edlen Gefühle noch auf die niedrigen Leidenschaften verzichten, sondern bemühe sich, sie unter Kontrolle zu halten. Also impliziert diese Analogie, dass der weise Mensch nicht die totale Unterdruckung der Leidenschaften bezwecken müsse, sondern ihre Kontrolle in Gleichgewicht und Harmonie.

Eine ähnliche Sichtweise hat Aristoteles in der Nikomachischen Ethik weiterentwickelt. Seiner Meinung nach schließe pathē nicht nur solche Dinge wie Lust und Ärger ein, sondern auch Freundschaft, Mut und Freude. An sich seien Leidenschaften, schrieb er, „weder Tugenden noch Laster", in ihrem Wesen weder gut noch böse, und wir seien wegen ihnen weder kritisiert noch zu beschuldigen. Sie seien neutrale Impulse, und alles hänge davon ab - wie Metropolit Philaret von Minsk in seinem Plädoyer deutlich gemacht hat - wie sie benutzt werden. Unser Zweck sei also nicht (wie es im Stoizismus der Fall ist) die totale Eliminierung der Leidenschaften, sondern ein Mittel, to meson, sozusagen ihr gemäßigter und vernünftiger Einsatz. Das Ideal sei nicht apatheia,  sondern metropatheia (dieser letztere Begriff wurde allerdings von Aristoteles selbst nicht verwendet).

Welche dieser zwei Auffassungen von Leidenschaft ist in die patristische Theologie aufgenommen worden? Am Anfang steht eine wichtige Gruppe Autoren, die der negativistischen stoischen Anschauung folgt. So wiederholt Clemens von Alexandria die  Definition Zenos von pathos als pleonazousa horme, ein „übermäßiger Impuls (...) der Vernunft ungehorsam" und „naturwidrig". Leidenschaften seien „Krankheiten", und eine wirklich gute Person habe keine Leidenschaften. In ähnlicher Weise folgt auch Nemesius von Emesa der stoischen Ansicht. Evagrius von Pontus assoziiert Leidenschaften eng mit Dämonen, der Zweck des geistlichen Kämpfers sei daher apatheia; aber Evagrius verleiht dieser einen positiven Kontext, indem er sie eng mit Liebe assoziiert. In den Homilien von Makarius werden die Leidenschaften fast immer im abwertenden Sinne verstanden.

Es gab jedoch auch Väter, die die Leidenschaften im allgemeinen negativ beurteilten, aber auch deren positive Seiten herausstellten. So war der Heilige Gregor von Nyssa der Meinung, dass pathos ursprünglich nicht Teil der menschlichen Natur sei, sondern „später, nach der ersten Schöpfung in den Menschen hineingebracht worden ist", also bilde es keinen Teil der Definition der Seele. Der Charakter der Leidenschaften sei bestialisch (ktenodes) und verwandle uns in unverständige Tiere. Indem sich Gregor aber dem Aristotelischen Standpunkt annähert, fügt er hinzu, dass die Leidenschaften auch zum Guten dienen könnten: das Böse liege nicht in den pathē als solchen, sondern in der freien Wahl (proairesis) der Person, die ihnen ausgesetzt ist.

Der Heilige Johannes Klimakos stimmt dem heiligen Gregor von Nyssa auf ganzer Linie zu. Manchmal spricht er in negativen Begriffen, indem er pathos den Lastern oder dem Bösen (kakia) gleichstellt und darauf besteht, dass pathos „ursprünglich nicht ein Teil der menschlichen Natur" wäre. „Gott ist nicht der Schöpfer der Leidenschaften", sagt er. Sie gehörten speziell dem Menschen, der sich in einem gefallenen Zustand befindet, und sollten als „unheilig" angesehen werden. Keiner sollte versuchen, Theologe zu werden, sofern er nicht die apatheia erreicht habe. Aber er gibt zu, dass Leidenschaften auch zum Guten verwendet werden können. Der Impuls, der jeder Leidenschaft zugrunde liege, sei nicht an sich böse; böse seien wir, die wir durch unsere Ausübung der freien Wahl, die „unsere natürliche Impulse genommen und sie in Leidenschaften verwandelt haben". Es ist beachtenswert, dass Klimakos den eros, also den Sexualtrieb, nicht als in seinem Wesen sündhaft verurteilte, ihn aber für etwas hielt, was zu Gott hin gerichtet werden könne.

Dann haben wir noch die Autoren, die sogar noch weiter gehen und es für möglich zu halten scheinen, dass die Leidenschaften nicht nur gut verwendet werden können, sondern Teil unserer ursprünglichen Natur seien, so wie Gott sie erschaffen hat. Das ist besonders bei Abba Isaias (d. c. 491) zu sehen. In seinem zweiten Logos nimmt er die Dinge, die üblicherweise für Leidenschaften gehalten werden, solche wie Lust (epithymia), Neid oder Eifersucht (zēlos), Ärger, Hass und Stolz, und behauptet, dass sie alle grundsätzlich kata physin, also „im Einklang mit der Natur" seien und zum Guten dienen könnten. Dementsprechend richten wir oft Lust, die ihrer Natur nach auf Gott hin gerichtet sein sollte, in einer falschen Richtung, zu „allen Arten der Unreinheit". Neid oder Eifersucht, die uns zum Streben nach Heiligkeit anleiten sollten - „Eifert aber um die größeren Gnadengaben", sagte der Heilige Paulus (1 Kor:12,31) - haben wir so verdorben, dass wir verführt werden, einander zu beneiden. Ärger und Hass, die gegen den Teufel und seine Werke gerichtet sein sollten, haben wir in die falsche Richtung gegen unsere Nächsten geleitet. Sogar Stolz könne zum Guten dienen: es gäbe die gute Selbstachtung, die es uns ermöglicht, zerstörerischem Selbstmitleid und Schwermut zu widerstehen. Solche Dinge wie Ärger und Stolz - die Evagrius als „Dämonen" oder speziell als böse Gedanken ansehen würde -  sind für Abba Isaias also im Gegenteil natürliche Teile unserer Persönlichkeit, wie Gott sie erschaffen hat. Lust oder Ärger an sich seien nicht sündhaft; entscheidend sei der Weg, auf dem sie verwendet werden - entweder kata physin oder para physin. Es ist unwahrscheinlich, dass Isaias von Plato oder Aristoteles, die er vermutlich nie gelesen hatte, direkt beeinflusst war; aber er konnte auf die Koptische Tradition zurückgreifen, wie sie z.B. in den Briefen zu finden ist, die dem Heiligen Antonius dem Großen zugeschrieben werden.

Auch bei späteren Autoren können positive Haltungen zu den Leidenschaften gefunden werden. Als der Heilige Dionysius Areopagita den Hierotheos beschreibt als "einen, der nicht nur über die göttliche Dinge gelehrt, sondern sie auch erlitten hat"  (ou monon mathon alla kai pathon ta theia) , deutet er sicherlich an, dass mystische Erfahrung im gewissen Sinne pathos sei. Der Heilige Maximos der Bekenner, obwohl er der Ansicht des Heiligen Gregor von Nyssa zuneigte, berichtete doch (wie Vater Andrew Louth[6] angemerkt hat) von der „gesegneten Leidenschaft der heiligen Liebe" (makarion pathos tes theias agapes); und er scheute sich nicht, von der Vereinigung mit Gott in erotischen Begriffen zu sprechen. Er bestand darauf, dass die Leidenschaften sowohl „löblich" als auch „tadelnswert" sein  könnten. Laut dem Heiligen Gregorios Palamas sei der Zweck des christlichen Lebens nicht die Abtötung (nekrosis) der Leidenschaften, sondern ihre Umstellung bzw. Umleitung (metathesis).

Das heißt, es gibt ausreichend Beweismaterial dafür, dass die griechischen Kirchenväter nicht nur von der negativen stoischen Haltung, sondern auch (direkt oder indirekt) von der eher positiven Aristotelischen Bewertung beeinflusst waren. Die Väter, die eine positive oder zumindest neutrale Sicht auf die Leidenschaften einnahmen, sind zwar in der Minderheit, aber diese Minderheit ist durchaus bedeutsam. Es könnte natürlich argumentiert werden, dass der Streitpunkt hauptsächlich semantischer Natur sei, also in der Frage kumuliere, welche Verwendung des Wortes „Leidenschaft" wir wählen. Aber ist es nicht so, dass verschiedene Verwendungen eines Wortes viel tiefere Folgen haben? Wörter verfügen über große symbolische Kraft, und ihre Verwendungsart hat entscheidenden Einfluss auf die Weise, wie wir die Realität wahrnehmen. So ist es mit dem Wort  pathos. Sollen wir der negativen Verwendung der Stoiker oder der freigiebigen Verwendung von Aristoteles folgen? Dies kann eine weitreichende Wirkung auf die pastoralen Ratschläge haben, die wir anderen geben - und auf uns selbst. Sagen wir „abtöten" oder sagen wir „umgestalten"? Sagen wir „ausmerzen" oder „kultivieren"? Hier gibt es riesige Unterschiede.

Was unseren geistlichen Kampf in der modernen Welt betrifft, bin ich völlig davon überzeugt, dass wir viel effektiver sein werden, wenn wir von einer „Umgestaltung" statt von einer „Zerstörung" der Leidenschaften sprechen. Die moderne Welt, in der wir leben, ist, zumindest in Westuropa, eine stark säkularisierte, von der Kirche entfremdete Welt. Wollen wir diese Welt für Christus zurück gewinnen, und wollen wir unsere christliche Identität in dieser entfremdeten Umgebung bewahren, würden wir uns wacker schlagen, wenn wir unsere christliche Botschaft lieber in positiven als in verdammenden Begriffen präsentieren. Wir sollten eine Kerze anzuzünden, anstatt die Dunkelheit zu verfluchen.

 

Drei traurige Themen

Indem ich mich jetzt dem zweiten Teil meines Plädoyers zuwende, möchte ich sechs Aspekte des geistlichen Kampfes in der modernen Welt hervorheben. Meine Liste ist nicht systematisch und beansprucht nicht, vollständig zu sein. Ich werde in den Begriffen von Dunkelheit und Licht sprechen. Drei der von mir gewählten Aspekte sehen auf den ersten Blick trist aus, die drei anderen erweisen sich eher als leuchtend. Aber alle sechs sind in letzter Hinsicht nicht negativ, sondern positiv anzusehen.

(1) Abstieg in die Hölle

Die Hölle kann als Abweseinheit Gottes betrachtet werden; ein Ort, an dem Gott nicht ist (es ist wahr, dass in einer schärferen Perspektive die Hölle nicht ohne Gott ist, denn, wie der Heilige Isaak der Syrer behauptet: die Liebe Gottes ist überall). Es wundert nicht, dass die Christen im zwanzigsten Jahrhundert, die in einer Welt leben, die vom Gefühl der Abwesenheit Gottes geprägt ist, ihre Berufung möglicherweise als descensus ad inferos (Abstieg in die Hölle) interpretieren. Paul Evdokimov[7] entwickelte diese Idee in Verbindung mit dem Sakrament der Taufe, die wohl der Grund des christlichen geistlichen Kampfes ist (wie Bruder Enzo in seiner Eröffnungsansprache behauptet hat). „Sprechen wir von der Zeremonie der Eintauchung bei der Taufe", erläutert Evdokimov, „es bemerkt der Heilige Johannes Chrysostomos: ‚Die Handlung der Eintauchung ins Wasser und der darauf folgenden Wiederheraushebung  symbolisiert den Abstieg Christi in die Hölle und seine Rückkehr von der Hölle.' Die Taufe zu erleben bedeutet also nicht nur, zu sterben und aufzuerstehen mit Christus: es bedeutet, dass wir in die Hölle hinabsteigen, dass wir die stigmata von Christus dem Priester tragen: seine pastorale Fürsorge und seinen apostolischen Schmerz für das Schicksal derjenigen, die für sich die Hölle erwählen." Die Gedankenlinie Evdokimovs hat viel mit den Ideen von Hans Urs von Balthasar gemeinsam. Aber es darf nicht vergessen werden, dass der Erzpriester Hilarion Alfeyev in seinem letzten Buch demonstriert hat, dass der Abstieg Christi in die Hölle vor allem der Akt des Siegens ist.

Ein orthodoxer Heiliger des zwanzigsten Jahrhunderts, der den Abstieg in die Hölle besonders betonte, ist der Heilige Siluan von Athos. „Halte dich mit Bewusstsein in der Hölle auf und verzweifle nicht", lehrt er und sagt weiter, dies sei der Weg zur Erreichung der Demut. Vater Sophronij, sein Jünger, behauptet, dass „er vom wirklichen Erlebnis der Hölle gesprochen hat". In seinen Andachten erinnert sich der Heilige Siluan an den vom Heiligen Antonius besuchten Schuster in Alexandria, der gewöhnt war zu sagen: „Alle werden errettet[8] - nur ich werde untergehen." Siluan wendet diese Worte auch auf sich an: „Bald werde ich sterben und werde in einem dunklen Verlies der Hölle wohnen. Und dort werde ich allein brennen".

Doch wäre es ein Fehler, den Standpunkt von Siluan ausschließlich in negativen und düsteren Begriffen zu interpretieren. Volles Gewicht sollte auf beide Teile seiner Aussage gelegt werden: nicht nur sagt er „Halte dich mit Bewusstsein in der Hölle auf", sondern er fügt sogleich hinzu: „und verzweifle nicht". An einer anderen Stelle behauptet er, dass der Glaube an die eigene Verdammnis eine Verführung durch den Bösen sei. Es gäbe, sagt er, zwei Gedanken, die vom Feinde kommen: „Du bist ein Heiliger" und „du wirst nicht errettet werden". Siluan war zutiefst beeinflusst durch die Lehre vom Heiligen Isaak dem Syrer über den unbesiegbaren Charakter der Liebe Gottes. „Wenn die Liebe nicht da ist", sagt er, „ist alles schwer".  Umgekehrt aber, wenn die Liebe da ist, sei alles möglich. Der Abstieg Christi in die Hölle und seine triumphale Auferstehung von den Toten bilden ein ungeteiltes Ereignis, den einen und einheitlichen Akt.

(2) Märtyrertum

Eine Sonderform, die der Abstieg in die Hölle im Rahmen des geistlichen Kampfes der orthodoxen Christen während des zwanzigsten Jahrhunderts angenommen hat, war das Erlebnis von Verfolgung und Märtyrertum . Für den christlichen Orient ist das vergangene Jahrhundert tatsächlich vor allem ein Jahrhundert des Märtyrertums gewesen. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass - obwohl der Kommunismus in Russland in Osteuropa gefallen ist - es auf der Welt noch viele Orte gibt, an denen Christen - orthodoxe wie auch nicht-orthodoxe - nach wie vor verfolgt werden (denken Sie an die Türkei, den Irak, Pakistan, China ...). Mit den Worten von Vater Alexander Elchaninov[9], eines russischen Priesters der Emigration (gestorben 1934): „die Welt ist krumm, und Gott begradigt sie. Das ist der Grund, warum Christus gelitten hat (und immer noch leidet), sowie auch all die Märtyrer, Bekenner und Heiligen - und wir, die wir Christus lieben, können nicht anders, als auch zu leiden". Der Heilige Siluan weist darauf hin, dass Märtyrertum  sowohl innerlich als auch äußerlich stattfinden kann. „Für andere zu beten", sagt er, „bedeutet Blut zu vergießen". Zugleich spricht er, so wie auch in seinem Lehrspruch „Halte dich mit Bewusstsein in der Hölle auf und verzweifle nicht", von der Mitwirkung der Dunkelheit und des Lichts, der Verzweiflung und der Hoffnung. Das Leid der Märtyrer sei also auch ein Quell der Freude, oder wie er es ausdrückt: „das höchste Leid geht über in die höchste Seligkeit".

Eine Märtyrerin, deren geistlicher Kampf das orthodoxe Denken der letzten sechzig Jahre besonders geprägt hat, ist die Heilige Maria Skobtsova, die am 13.März 1945 in der Gaskammer von Ravensbrück starb, wobei sie eventuell den Platz einer anderen Gefangenen eingenommen hatte. Sollte das wirklich der Fall gewesen sein, zeigt es, wie Märtyrer und Märtyrerinnen - wie Christus, der Protomärtyrer selbst - stellvertretende Funktionen ausüben, indem sie im Namen der Anderen sterben; indem sie sterben, damit die Anderen leben dürfen. Märtyrerinnen und Märtyrer erfüllen, auf ultimative und endgültige Weise, die Aufforderung des Heiligen Paulus: „Einer trage des anderen Last" (Gal:6,2). Das war tatsächlich ein Thema, das Mutter Maria in ihren eigenen Schriften betonte. In einer Anthologie von Heiligenvitae, die sie zusammenfasste, schrieb sie auch eine Geschichte über den Heiligen Ioannikios den Großen und das besessene Mädchen nieder: „Er legte seine Hand auf den Kopf der leidenden Patientin und sagte ruhig: ‚Mit der Kraft des lebendigen Gottes nehme ich, sein unwürdiger Diener, deine Sünde auf mich, wenn du gesündigt hast... denn meine Schultern sind stärker als deine Schultern; denn ich will deine Prüfung um der Liebe willen aufnehmen.' Das Mädchen wurde geheilt; Ioannikios trat ihren Todeskampf an und war dem Tod nahe, bevor er aus dieser Auseinadersetzung mit der Kraft des Bösen als Sieger hervorging".

Das ist ein sehr wichtiger Aspekt des geistlichen Kampfes: das Märtyrertum zu ertragen und sichtbar oder innerlich Blut um der Anderen willen zu vergießen.

(3) Kenosis

Eng verbunden mit den zwei Elementen, von denen wir eben gesprochen haben (Abstieg in die Hölle und Märtyrertum), ist das dritte, kenosis oder Entäußerung. Derjenige, der sich im geistlichen Kampf engagiert, identifiziert sich mit dem gedemütigten Christus (hier erinnere ich mich an ein ausgezeichnetes Buch namens „Der gedemütigte Christus im modernen russischen Denken", vor siebzig Jahren von der russischen Autorin Nadejda Gorodetsky[10] geschrieben und immer noch lesenswert). Vor ihrer Inhaftierung zeigte die Heilige Maria Skobtsova diesen kenotischen Geist auf die bemerkenswerteste Art und Weise, indem sie bedingungslose Solidarität übte mit den Notleidenden und Verstoßenen, mit all denen, die von der Gesellschaft ins Abseits gedrängt wurden, und, als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, mit den Juden. „Die Körper unserer Mitmenschen", schrieb sie, „müssen fürsorglicher als unsere Eigenen behandelt werden. Die christliche Liebe lehrt uns, unseren Brüdern nicht nur geistliche, sonder auch materielle Geschenke zu bescheren. Sogar unser letztes Hemd, unser letztes Stück Brot müssen wir ihnen geben. Persönliches Almosengeben und möglichst weitreichende Sozialarbeit sind gleichermaßen berechtigt und notwendig."

Ein Heiliger aus der griechischen Tradition, der diesen kenotischen Geist in beachtlichem Ausmaß aufwies, war Nektarios von Pentapolis, der 1920 starb. Über seine Demut gibt es zahlreiche Geschichten. Als er ein junger Bischof in Alexandria war und von anderen zu Unrecht angegriffen wurde, verzichtete er darauf, sich zu wehren oder für die Verleumdung zu rächen. Als er Direktor der theologischen Schule Rizareion in Athen war und einer der Putzmänner krank wurde, stand der Heilige Nektarios, damit die Stelle dieses Putzmannes nicht an einen anderen vergeben wurde, Tag für Tag morgens früh auf, um selbst die Flure zu fegen und die Toiletten zu putzen, bis der Mann bereit war, an seine Arbeit zurückzukehren. In den letzten Jahren seines Lebens verwechselten ihn die Besucher, die ihm im Garten des Klosters, das er gegründet hatte, bei der Arbeit sahen, mit einem Gärtner; und sie errieten nie, dass er der Bischof war. Auf diese und viele andere Weisen erfüllte der Heilige Nektarios die Worte des Heiligen Paulus: „Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war... Er machte sich selbst zu nichts" (Phil: 2,5 und 2,7).

 

Das Licht in der Dunkelheit

In seiner Beschreibung des geistlichen Kampfes unterstreicht der Heilige Paulus dessen antinomischen Charakter: "... durch Ehre und Unehre, durch böses Gerücht und gutes Gerücht (...) leben wir; als Gezüchtigte und nicht getötet; als Traurige, aber allezeit uns freuend; als Arme, (...) als nichts habend und alles besitzend. (2 Kor. 6,8-10). Mögen wir nun diese drei tristen Elemente des geistlichen Kampfes mit drei freudigeren Elementen vergleichen, die in der modernen Welt besonders wichtig sind.

 (1) Verklärung

Vorher, bei der Analyse der verschiedenen möglichen Weisen der Auffassung des Kampfes gegen die Leidenschafen, habe ich vermutet, dass es im heutigen kritischen Augenblick weiser wäre, nicht von „abtöten" oder „ausmerzen", sondern „verklären" zu sprechen. Tatsachlich ist das Geheimnis der Verklärung für uns jetzt von besonderem Wert. Unser geistlicher Kampf schließt sicherlich Verzicht, asketische Anstrengung, Schweiß, Blut und Tränen, inneres und eventuell auch äußeres Märtyrertum mit ein; aber all das hat keinen wahren Wert, solange es nicht mit dem ungeschaffenen Taborlicht  beleuchtet wird. In dieser Verbindung ist es sicherlich kein Zufall, dass der Heilige, der mit seinem Leben und seiner Erfahrung den größten Einfluss im zwanzigsten Jahrhundert ausübte, Seraphim von Sarov war, der eben ein Verklärungsheiliger ist. Als ich vor fünfundfünfzig Jahren zum ersten Mal Griechenland besuchte, war der Heilige Seraphim praktisch unbekannt. Wenn ich dagegen jetzt griechischen Boden betrete, sehe ich seine Ikonen in vielen Kirchen und Häusern, und in den Klöstern begegne ich oft Mönchen und Nonnen, die zu seiner Ehre die Namen Seraphim bzw. Seraphima tragen. All das ist genau so, wie es sein soll, da er wirklich ein Heiliger für unsere Zeit ist.

Zugleich möchten wir diesen Heiligen aus Sarov weder verkitschen noch seinen geistlichen Kampf versimplifizieren. Es ist richtig, dass wir uns daran erinnern, dass er weiße Kleider anstatt dem gewöhnlichen monastischen Schwarz trug; dass er seine Besucher „meine Freude" nannte und sie das ganze Jahr hindurch mit der österlichen Begrüßung „Christus ist auferstanden" begrüßte; dass sein Gesicht in Gegenwart seines Jüngers Nikolaj Motowilow[11] in Herrlichkeit erstrahlte. Aber mögen wir nicht die dämonischen Seelen vergessen, die er zu ertragen hatte, wenn er auf dem Stein hinter seiner Einsiedelei betete und die Höllenflammen um sich herum prasseln hörte. Mögen wir nicht den physikalischen Schmerz vergessen, den er erlitt, nachdem er, von drei Räubern im Wald angegriffen, verkrüppelt worden war. Mögen wir nicht das Missverständnis vergessen, das er seitens seines eigenen Abtes zu ertragen hatte, sowie die üble Nachrede, die ihn bis zu seinem Tode verfolgte. Er verstand wirklich, was der Heilige Paulus meinte, als dieser gesagt hatte: „Traurige, aber allezeit uns freuend". Im geistlichen Kampf sind die Verklärung und das Tragen des Kreuzes untrennbar.

(2) Eucharistie

Es ist behauptet worden, dass die Taufe die Grundlage des christlichen geistlichen Kampfes bildet. Aber die Taufe darf nicht von der Heiligen Kommunion getrennt werden. Damit hat die Eucharistie ebenfalls fundamentale Bedeutung in unserem geistlichen Kampf. In der früheren patristischen Periode hatten viele asketische Autoren, wie beispielsweise der Heilige Johannes Klimakos oder der Heilige Isaak der Syrer, wenig Bezug zur Eucharistie. Aber in unserem geistlichen Kampf von heute muss der eucharistische Aspekt deutlich gemacht und in den Vordergrund gestellt werden. Bezeichnenderweise ist dies genau das, was vom Heiligen Johannes von Kronstadt, dem größten Priesterzelebranten des Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts, gemacht wurde. „Die Eucharistie ist ein andauerndes Wunder", sagte er immer wieder. Und er trat in dieses Wunder in vollen Ausmaß ein, indem er jeden Tag die Göttliche Liturgie zelebrierte. Seine Zeitgenossen bewunderten die Intensität seiner Eucharistischen Zelebrierung . Der Heilige Siluan sprach beispielsweise von „der Kraft seines Gebets" und sagte auch, dass „sein ganzes Sein die Flamme der Liebe [war]". Er bestand darauf, dass alle im Gottesdienst Anwesenden mit ihm zusammen die Kommunion empfangen sollten, gleich ihm. Unter seinem und anderer Einfluss wurde der Empfang der Kommunion in der Orthodoxen Kirche des zwanzigsten Jahrhundert tatsächlich häufiger; dennoch gibt es immer noch viele Orte, an denen die Gläubigen zu diesem Sakrament nur drei oder vier Mal pro Jahr antreten. Dies ist sicherlich bedauerlich. In der modernen Welt ist es notwendig, dass unser geistlicher Kampf, so sehr es nur möglich ist, ein Eucharistischer Kampf ist.

Im Mittelpunkt der Göttlichen Liturgie, gleich nach der Epiklese der Heiligen Geistes, erhebt der Diakon die Heiligen Gaben, während der Priester sagt: „Das Deine vom Deinen Dir darbringend, gemäß allem und wegen allem (ta za ek ton zon soi prospherontes, kata panta kai dia panta)". Das bringt uns zu einem Aspekt der Göttlichen Liturgie, der für unseren geistlichen Kampf in der gegenwärtigen Welt von besonderer Relevanz ist, nämlich die kosmische Dimension der Eucharistie. Es ist bedeutend, dass wir in der Eucharistie die Gaben nicht einfach „wegen den Menschen" (dia pantas) darbringen, sondern „wegen allem" (dia panta). Das Eucharistische Opfer umfasst in seinem Umfang nicht nur die Menschheit, sondern das ganze Reich der Natur. Es ist allumfassend. Also erlegt uns die Eucharistie ökologische Verantwortung auf. Sie verpflichtet uns, nicht nur unsere Mitmenschen, sondern alle Lebewesen zu schützen und zu lieben - und nicht nur diese, sondern auch Gras, Bäume, Gebirge, Wasser und Luft zu lieben und zu schützen. Feiern wir die Eucharistie mit vollem Bewusstsein, betrachten wir die ganze Welt als Sakrament.

Unser geistlicher Kampf ist also nicht anthropozentrisch. Wir werden nicht von, sondern mit der Welt errettet; und so kämpfen wir darum, nicht nur uns selbst, sondern die ganze Schöpfung zu heiligen und zu Gott zurückzubringen. Diese ökologische Reichweite in unserem geistlichen Kampf ist vom Patriarchat von Konstantinopel in den letzten zwei Jahrzehnten besonders betont worden. Patriarch Dimitrios und sein Nachfolger, der jetzige Patriarch Bartholomeos, haben den 1. September, den Anfang des Kirchenjahres, zu einem „Tag des Umweltschutzes" erklärt, der (hoffentlich) nicht nur von der Orthodoxen Kirche, sondern auch von anderen Christen eingehalten wird. „Mögen wir uns", sagte Patriarch Dimitrios in seiner weihnachtlichen Botschaft 1988, „ jeder nach seiner und jede nach ihrer Position, persönlich verantwortlich für die Welt fühlen, die Gott unseren Händen anvertraut hat. All das, was der Sohn Gottes angenommen und durch seine Fleischwerdung zu seinem Leib gemacht hat, darf nicht untergehen. Es sollte aber zur Eucharistischen Gabe an den Schöpfer werden, zum lebensspendenden Brot, in Gerechtigkeit und Liebe mit den Anderen geteilt, zum Hymnus des Friedens für alle Geschöpfe Gottes." Mit den Worten des Heiligen Siluan: „ein Herz, das gelernt hat zu lieben, hat Mitleid mit allen Geschöpfen". Diese kosmische Zärtlichkeit ist auch, wie Dom André Louf[12] uns erinnert, das Leitmotiv in den Werken des Heiligen Isaak.

(3) Das Herzensgebet

Jenseits der eucharistischen und liturgischen Aspekte des geistlichen Kampfes muss auch das innere Gebet ausdrücklich betont werden. Im geistlichen Kampf des zwanzigsten Jahrhunderts war das innere Gebet für die Orthodoxen hauptsächlich, aber keineswegs ausschließlich, gleichbedeutend mit dem Jesusgebet. Die Wichtigkeit der Anrufung des Heiligen Namens begann im Laufe des letzten Jahrhunderts vor allem dank des Einflusses zweier Bücher: Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers und Philokalia. Beide haben im Westen völlig unerwartet großen Erfolg. Das Jesusgebet wird heute wahrscheinlich von mehr Menschen praktiziert als je zuvor. Unser Jahrhundert ist nicht nur säkular!

Diese sind also die einigenden Elemente des geistlichen Kampfes in der gegenwärtigen Welt: einerseits der Abstieg in die Hölle, das Märtyrertum und die kenosis; andererseits die Verklärung, die Eucharistie und das Herzensgebet. Diese zwei Triaden stehen neben-, nicht gegeneinander - so, wie es der Heilige Johannes Klimakos meinte (und hier erinnere ich mich an das Plädoyer von Vater Ioustinos), als er das Wort charmolype, "Leid-Trauer" bildete, und von charopoion penthos, "Leid, das Freude schafft" sprach. Diese zwei komplementären Aspekte des geistlichen Kampfes sind in zwei knappen Aussagen des Heiligen Seraphim von Sarov gut zusammengefasst, die ich ständig im Herzen trage; diese lauten: „Wo es kein Leid gibt, gibt es kein Heil.", und: "Der Heilige Geist erfüllt alles mit Freude, was er berührt."


[1] „Der unsichtbare Kampf", ein vom Russischen Heiligen Hierarchen Feofan (Theophanes) dem Einsiedler übersetztes Werk des Heiligen Nikodemos Hagioreites (1748-1809), Mönch am Berg Athos, ist seit langem ein wichtiges Buch der Orthodoxie. Es berichtet über den unsichtbaren Kampf, den jeder Christ gegen die Feinde seines Heils führen soll. Das Buch wurde wesentlich durch die westliche Tradition beeinflusst, namentlich durch das Werk „Combattimento spirituale" („Der geistliche Kampf") von Lorenzo Scupoli (1530-1610), das der Ehrwürdige Nikodemos ins Griechische übersetzte, mit vielen Verweisen auf die griechischen Kirchenväter ergänzte und als Buch „Der geistliche Kampf" überarbeitete. (Anm.d.Ü.)

[2] „Klimax tu paradeísu" („Treppe zum Paradies") ist ein asketisches Traktat über die Vermeidung des Bösen und Praktizierung der Tugend zwecks Erreichung des Heils. Der Autor des Werkes, das seinen Namen nach Jakobs Traum von der Himmelsleiter (Gen 28, 10-19) erhielt, ist der Heilige Johannes Klimakos (ca. 579 - 649), ein Abt des Katharinenklosters auf dem Sinai. Ursprünglich für das Mönchstum geschrieben, wurde es für die Gläubigen zu einer der bedeutendsten und wichtigsten Anleitungen zur Erreichung des theozentrischen Lebens. Auf Englisch erschien das Werk unter den Titeln „The Ladder of Divine Ascent" (übersetzt von Colm Luibheid, mit dem vom Metropoliten Kallistos (Ware) von Diokleia geschriebenem Vorwort) und "Ascending the Heights: A Layman's Guide to the Ladder of Divine Ascent" (übersetzt von John Mack). (Anm.d.Ü.)

[3] „Seid nüchtern, wachet; euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge." (1Petr:5,8, hier und im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, folgt der Text der unrevidierten Elberfelder-Bibelübersetzung; Anm.d.Ü.)

[4] „Denn der Satan selbst nimmt die Gestalt eines Engels des Lichts an." (2 Kor:11,14; Anm.d.Ü.)

[5] „Also laßt uns nun nicht schlafen wie die übrigen, sondern wachen und nüchtern sein." (1 Thess: 5,6 Anm.d.Ü.)

[6] Andrew Louth ist christlicher Theologe und Professor für Patristik und Byzantinistik in der University of Durham, England. Er befasst sich intensiv mit Geschichte und Theologie des Östlichen Christentums. (Anm.d.Ü.)

[7] Paul Evdokimov (russ.: Павел Николаевич Евдокимов) (1901 (oder 1900)-1970), Dr. phil. und Dr. theol., wurde in St.Petersburg in die Familie eines Offiziers hineingeboren und absolvierte ein Kadettencorps. 1918 nahm er sein Studium an der Kiewer Geistlichen Akademie auf. 1920 verließ er Russland und ließ sich schließlich in Paris nieder. Dort absolvierte er 1928 das Institut de Th←ologie Orthodoxe Saint-Serge. Er nahm an der Arbeit der Russischen Studentischen Christlichen Bewegung (RSCM) teil und unterrichtete in französischen Schulen. Seine Dissertation verteidigte er zum Thema „Dostojewski und das Problem des Bösen". Während des Zweiten Weltkriegs nahm er an der Résistance teil und war 1941 einer der Gründer des interkonfessionellen Wohlfahrtausschusses für Flüchtlingshilfe (CIMADE). Seit 1953 war er Professor für Moraltheologie im Institut Saint-Serge. Unter anderem war er auch Direktor des Zentrums für französischsprachige orthodoxe Studien in Paris, einer der Organisatoren der All-Welt Föderation der orthodoxen Jugend „Sindesmos" und Teilnehmer der ökumenischen Bewegung. (Anm.d.Ü.)

[8] Unter Rettung, Errettung oder Heil (russ.: спасение) versteht man in der Orthodoxen Theologie die Vereinigung mit Gott, die die Vergöttlichung des Menschen zur Folge hat. Die Voraussetzungen dafür sind aufrichtige Bemühungen des Menschen, sich von den  Leidenschaften freizumachen, nicht zu sündigen und sein Herzen Gott zu widmen. Sünden werden in erste Linie als Selbstverletzungen verstanden, die der Mensch sich antut, und Gott nicht als Bestrafer, sondern als liebender Arzt angesehen. Da Gott die Quelle der absoluten Liebe und des absoluten Wohls ist, ist die ewige Vereinigung mit ihm das Hauptwohl, wobei die Trennung von ihm, die für einen Menschen, wenn er sich von Gott abkehrt, nach dem Tod endgültig sein kann, die absolute Qual ist, die auch als Hölle, als quälende Versklavung durch den Teufel bzw. als der ewige Untergang bezeichnet wird. Die Rettung von diesen wird eben als christliche Rettung verstanden, die auch als Heil der menschlichen Natur von der Verdorbenheit (Leidenschaften) bezeichnet wird. (Anm.d.Ü).

[9] Priester Alexander Elchaninov (russ.: Александр Ельчанинов, 1881-1934) wurde in Nikolajew (in der heutigen Ukraine) in die Familie eines Offiziers hineingeboren. Nach der Absolvierung der Fakultät für Geschichte der Universität St.Petersburg verzichtete er auf eine akademische Karriere und fing ein Studium an der Moskauer Geistlichen Akademie an, welches er aber vorzeitig abbrach. Er nahm an den Aktivitäten der Christlichen Kampf-Brüderschaft (russ.: Христианское братство борьбы) teil, die von Erzpriester Wladimir Swenzizki und Wladimir Ern gegründet worden war und sich aktiv für den Aufbau der christlichen Öffentlichkeit und gegen die Monarchie engagierte (da diese in den Augen der Gesellschaftsgründer die Kirche hemmte). Der Geist der Bruderschaft war der Ideologie des christlichen Sozialismus grundsätzlich entgegengerichtet: Wirtschaft und Politik wurden nur für äußere Formen der Einrichtung des geistlichen Lebens gehalten, und Liebe und Freiheit in Christo wurden als Grundlage der menschlichen Beziehungen angesehen. Dabei wurde nicht der Staat, sondern die Kirche als Ideal behauptet. Ein legaler Ableger der Christlichen Kampf-Brüderschaft war die „Moskauer Gesellschaft für Religion und Philosophie zum Gedenken an W.Solowjow", die Elchaninov 1905 zu ihrem Sekretär wählte. Seit 1910 befasste sich Elchaninov aktiv mit Pädagogik. Er hielt Vorlesungen über Religionsgeschichte und neue russische Religionsideen an den Höheren Kursen für Frauen  in Tiflis (heutige Tbilissi, Georgien). Seit 1912 unterrichtete er in einem dortigen Gymnasium und wurde 1914 dessen Direktor. Nachdem er 1921 aus Russland ausgewandert war, lebte er in Nizza, wo er Russisch unterrichtete. Er war einer der Führer der Russischen Studentischen Christlichen Bewegung (RSCM). Vater Sergij (Bulgakow) sagte über ihn, er sei „eine außergewöhnliche und einzigartige Erscheinung, da er in sich eine organische Einheit der demütigen Treue zur Orthodoxie und der Schlichtheit des Glauben eines Kindes mit der ganzen Raffiniertheit der russischen kulturellen Überlieferung verkörperte." 1925 empfing er die Priesterweihe. 1934 wurde er in den St.-Alexander-Newski-Dom in Paris ordiniert, wo er jedoch nur eine Woche diente und nach kurzer schwerer Krankheit verstarb. (Anm.d.Ü.)

[10] Nadejda  Gorodetsky (russ.: Надежда Даниловна Городецкая, 1901-1985),Dr.phil, Theologin, die erste Frau, die an der theolgogischen Fakultät einen Vorlesungskurs hielt, wurde in Moskau in die Familie eines Schriftstellers hineingeboren. Nachdem sie Russland 1919 verließ, lebte sie in Jugoslawien und seit 1924 in Frankreich, wo sie zur geistlichen Tochter von Archimandrit Lev (Gillet) wurde. Sie engagierte sich für Literatur und Journalistik. In den 1930er Jahren zog sie nach Großbritannien, wo sie seit 1934 Theologie-Kurse am Ascension College, Birmingham, abhielt. 1938 publizierte sie in London ihr Buch „The Humiliated Christ in Modern Russian Thought" („Der gedemütigte Christus im modernen russischen Denken"), anhand dessen sie 1944 ihre Dissertation verteidigte. Nadejda  unterrichtete Russische Sprache an der der University of Liverpool  wo sie später auch Leiterin der Abteilung für Slawiskti war. Sie engagierte sich aktiv für die Erziehung der Studenten in orthodoxer Geistlichkeit. Von 1945 bis 1956 unterrichtete sie russsiche Literatur, von 1956 bis 1968 war sie Professorin an der University of Liverpool und seit 1968 (Anm.d.Ü.)

[11] Nikolaj Alexandrowitsch Motowilow (russ.: Николай Александрович Мотовилов, 1809-1879) war ein russischer Landbesitzer, Friedensrichter, Geschäftsmann und Narr in Christo. Er ist hauptsächlich als erster Biograph des Heiligen Seraphim von Sarov bekannt. Er wurde in Simbirsk in eine adlige Familie hineingeboren und absolvierte die Kasaner Universität. Nach seinen Memoiren versuchte er einmal, Selbstmord zu begehen, wurde aber durch die Erscheinung der Allheiligsten Gottesgebärerin davon abgehalten. 1827 begann Motowilow seine Beamtentätigkeit in Simbirsk, wo er in einen Konflikt mit Freimaurern geriet und wegen falscher Anschuldigungen verhaftet wurde. Nach seiner Freilassung 1832 waren ihm alle Wege im staatlichen Dienst versperrt. Später lernte Motowilow, der nach dem Sinn des religiösen Leben suchte, den Heiligen Seraphim kennen und wurde zu einem seiner Jünger. Er schrieb mehrere von seinen Gesprächen mit dem Hl. Seraphim nieder, von denen eines, das „Gespräch des Hl. Seraphim von Sarov über das Ziel des christlichen Lebens", auf mehreren Ikonen dargestellt ist und einen der wichtigsten Schätze des gegenwärtigen Christentums darstellt.

Nach dem Dahinscheiden des Hl. Seraphims 1833 engagierte sich Motowilow unermüdlich, dessen Vita und Lehre weiterzuverbreiten. Die meisten seiner Werke wurden lange nach seinem Tod publiziert und bekamen ausschlaggebende Bedeutung für die Heiligsprechung des Ehrw. Seraphim, die 1903 stattfand. (Anm.d.Ü.)

[12] P. André Louf OSB, geboren 1929 in Lovanio, trat 1951 in die Zisterzienserabtei Mont-des-Cats (Frankreich) ein, der er als Abt von 1963 bis 1997 vorstand. Von ihm stammen zahlreiche Publikationen zum Thema "Geistliches Leben". (Anm.d.Ü)

Quelle: Портал Богослов.Ru

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Aktualisiert: 21.07.2010

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