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Wissen in der Naturwissenschaft und in der Religion: philosophische Vermittlung

30. März 2008
Antonov, Konstantin

Bogoslov.Ru bietet den Lesern einen Vortrag von Dr.phil. Konstantin Michajlowitsch Antonow, einem Dozenten an der Orthodoxen St.-Tichon-Universität für Geisteswissenschaften, der auf dem Forum der jungen Wissenschafter gehalten wurde.

Wenn wir von dem Verhältnis sprechen, in dem Wissenschaft und Religion zueinander stehen, vergessen wir in der Regel das dritte notwendige  Element in diesem Verhältnis - die Philosophie. Würde als Ergebnis eines Versuchs, dieses Verhältnis auf die eine oder andere Weise zu interpretieren, eine Theorie entstehen, wäre sie (auf welchen Grundlagen sie auch immer beruhen würde) in sich selbst weder eine wissenschaftliche Theorie noch Teil einer Glaubenslehre, sondern das Ergebnis eines mehr oder weniger bewussten, mehr oder weniger qualifizierten Versuchs der philosophischen Reflexion. Dabei würde ihre Qualität davon abhängen, wie tief die Grundlagen des Glaubens und die Grundlagen der Wissenschaft durchdacht worden wären, bzw. davon, welcher Konzepte von beiden Bereichen man sich bedient hätte und wie tief diese durchdrungen worden wären. I.W. Kirejewskij[1] schrieb in der Mitte des 19. Jahrhunderts: „Philosophie ist weder eine Wissenschaft noch ein Glaube. Sie ist das Gesamtresultat aller Wissenschaften und eine Gedankenbrücke zwischen diesen und dem Glauben"[2]. Die Philosophie erscheint hier als die universale, vermittelnde Tätigkeit unseres Verstandes, die die Daten seiner anderen Tätigkeiten zu einem einheitlichen Ganzen vereinigt. Mit den Worten des bereits erwähnten Kirejewskij „ist sie mit einem ihrer Enden an die höchsten Aspekte des Glaubens gekoppelt, während sie mit dem anderen die Entwicklung der Wissenschaften und der äußeren Bildung berührt"[3].

Wenn wir also nur vom Glauben lebten, würden wir die Philosophie (als Tätigkeit des Verstandes, nicht als eine Menge von Texten) nur als Werkzeug der Selbsterkenntnis, als Aspekt der Asketik oder als Werkzeug zum Verständnis der Heiligen Schrift benötigen. Aber wir, die hier anwesend sind, leben - sei es gut oder schlecht - nicht nur vom Glauben, sondern auch von der Wissenschaft. Diese Lebensweise halten wir für richtig und mit unserem Glauben übereinstimmend. Und mehr noch: wir wollen, dass unser Glaube mit dieser Lebensweise nicht nur übereinstimmt, sondern sie heiligt und vor allem lebendig macht und ihr neues Leben einhaucht. Bei jeder anderen Vorgehensweise wären wir berechtigt, sowohl intellektuelle als auch religiöse Unehrlichkeit zu wittern. Es ist [uns] unmöglich, uns einer Beschäftigung zu widmen, die der Glaube nicht lebendig machen kann. Entweder wäre es dann keine richtige Beschäftigung oder eben kein richtiger Glaube. Gerade daher ist die philosophische Reflexion notwendig, da die Beispiele einzelner Menschen, die ihre Beschäftigung mit der Wissenschaft (Psychologie, Biologie, Geologie, Physik usw.) und die Orthodoxie erfolgreich kombinierten, hier nicht weiterhelfen werden. Auf jeden Fall wäre nur philosophische Reflexion fähig, daraus eine allgemeine Regel abzuleiten, die eine derartige Existenzweise rechtfertigen (oder eben verurteilen) würde.

Üblicherweise denken wir über dieses Thema nicht weiter nach. Wir nehmen einfach an, dass die Wissenschaft eine gute Sache ist, und daher ist es für unseren Glauben unmöglich, sie nicht anzunehmen. Allerdings ist es nicht so, dass der Glaube gute Sachen annehmen soll, sondern die Sachen sind gut, die vom Glauben angenommen wurden. Und überhaupt, ist die Wissenschaft wirklich eine gute Sache? Ich lasse diese Frage erst einmal unbeantwortet, möchte aber anmerken, dass man sie sowohl mit „ja" als auch mit „nein" beantworten kann. Angefangen von Heraklit neigten viele weise Menschen dazu, sie mit „nein" zu beantworten, und in der christlichen Ära sind es noch mehr geworden.

Ich persönlich betone noch einmal, dass ich noch nicht bereit bin, diese Frage auf die eine oder andere Weise zu beantworten. Ich möchte zunächst einige ihrer Aspekte analysieren und einen Vergleich zwischen Wissenschaft und Religion vornehmen. Diese werden dabei als zwei Institutionen betrachtet, die Wissen produzieren, und der Vergleich wird eben in Bezug auf dieses Wissen angestellt. Danach werden wir schauen, was die Philosophie zur Lösung der hier entstandenen Probleme beitragen kann.

Es ist klar, dass es die unterschiedlichen Formen der menschlichen Aktivitäten bzw. des individuellen und des kollektiven Lebens des Menschen sind, die den unterschiedlichen geistlichen Problemen entsprechen. Beide, sowohl Wissenschaft als auch Religion, verwirklichen sich allerdings durch gewisse Mengen sozialer Institutionen, und diese produzieren das Wissen. Was ist Wissen? Ich möchte zwei Definitionen des Wissens geben - eine schwache und ein starke. Im schwachen Sinne werde ich unter Wissen nur alles Bekannte verstehen. In unserem alltäglichen Leben verfügen wir unmittelbar über die Sicherheit, dass „die Phänomene real existieren und diese oder jene spezifischen Charakteristika haben"[4]. Unter Wissen im starken Sinne verstehe ich eine Gesamtheit von auf eine gewisse Art und Weise organisierten Aussagen, die begründet - d.h., im Ergebnis der Verwirklichung gewisser Standardprozeduren - als wahr oder falsch anerkannt werden können. Im Gegensatz zur subjektiven Meinung ist das Wissen im starken Sinne objektiv. Je nach dem Kontext wird es in der Regel klar, welche Art von Wissen an der jeweiligen Stelle gemeint ist.

Die Institutionen der Wissenschaft sind eigens dazu geschaffen, den Erwerb des Wissens im starken Sinne zu organisieren[5]. Die Institutionen der Religion haben dagegen ihren Hauptzweck in der Organisation des geistlichen Lebens der Menschen und der Praxis ihrer Kulte. Allerdings setzt die Verwirklichung dieses Zieles das Vorhandensein gewisser Kenntnisse über Gott, die Welt und den Menschen voraus. Dabei soll zumindest ein Teil dieses Wissens auch im starken Sinne vorliegen. Das heißt, die Institutionen der Wissenschaft haben in der Produktion von Wissen ihre Hauptfunktion, während Wissen für die Institutionen der Religion ein notwendiges, wenn auch nicht das wichtigste Erzeugnis darstellt. Hier ist Wissen eher Mittel als Zweck. Nichtsdestoweniger entsteht Wissen in beiden Bereichen, und unser Problem besteht darin, dass die Beschaffenheiten dieser beiden Arten von Wissen unterschiedlich sind.

Was ist das Wesen dieses Unterschieds, und wieso ist er entstanden?

In diesem Problem scheint es mir zwei miteinander eng verbundene Aspekte zu geben: den humanitären und den epistemologischen. Der humanitäre Aspekt besteht darin, dass die Hauptmasse des Wissens, über die ein moderner Gläubiger in seinem Alltagsleben verfügt, durch die Institutionen der Wissenschaft produziert worden sind. Dieses Wissen liegt auf einer tiefer liegenden Schicht vorwissenschaftlicher Vorstellungen auf, wobei die letzteren gelegentlich unterdrückt oder verdrängt bzw. ersetzt werden, manchmal aber auch mit ersteren koexistieren. Eine hervorragende Charakterisierung des Verhältnisses zwischen diesen zwei Schichten unseres Wissens finden wir im bekannten Distichon von Pushkin:

Die Sonne geht ja täglich vor uns auf, / Dennoch hat Recht der sture Galilei.

Dieses wissenschaftliche Wissen eignen wir uns nicht nur in der Schule an, sondern auf durchaus vielfältige Weise: durch Kommunikation mit anderen Menschen, einschließlich solchen, die für uns durchaus Autorität besitzen (ich würde hier auch die ersten Fragen der Eltern auf das allseits bekannte kindliche „Warum?" mit einschließen), durch Lektüre, durch die Meisterung dieser oder jener technischen Mittel, was bis zu einem gewissen Maß die Aneignung der Prinzipien impliziert, auf deren Basis sie erschaffen werden, usw. Im Großen und Ganzen ist die Welt unseres Lebens von Elementen des wissenschaftlichen Weltbildes durchsetzt, weshalb wir einige davon als selbstverständlich annehmen. Das heißt, dass sie von Wissen im starken Sinne - zumindest für mich - zu Wissen im schwachen Sinne werden; zu etwas, das allgemein bekannt ist. Die anderen Elemente bewahren aber ihren Charakter des Wissens im starken Sinne völlig oder zum Teil und zumindest ihren Anspruch auf Objektivität und Begründbarkeit.

Schauen wir, was geschieht, wenn, geprägt durch den religiösen Umgang oder die religiöse Erziehung in der Familie, der Mensch die religiösen Bilder der Welt wahrnimmt - also die Elemente des Wissens, das von den Institutionen der Religion produziert wurde. Ich denke, dass im Großen und Ganzen gesagt werden kann, dass das religiöse Wissen eher [bereits] zur vorwissenschaftlichen Lebenswelt des Menschen gehört als das wissenschaftliche Wissen. Nichtsdestotrotz sind sie [rel. Lebenswelt und rel. Wissen] keineswegs gleich. Das religiöse Wissen eignet der Mensch sich meist auf denselben Wegen an wie das wissenschaftliche - also durch Ausbildung und Meisterung entsprechender Fertigkeiten. Es ist ebenso theoretisch und baut ganz ähnlich auf tiefer liegenden Vorstellungen unserer Lebenswelt auf. Das heißt, dass wir es mit drei Kräften zu tun haben, die da sind: das wissenschaftliche und das religiöse Bild der Welt, die sich jedes für sich bemühen, unseren Alltag zu transformieren, und den Alltag selbst, der sich bemüht, ihre Elemente den eigenen Zwecken anzupassen. Als Ergebnis der Wechselwirkung dieser drei Kräfte entsteht in unserem Universum eine Mischung heterogener Elemente, also eine gewisse Dissonanz.

Diese Dissonanz kann entweder bewusst oder auch unbewusst bleiben. Ist sie unbewusst (bzw. ungenügend bewusst), können die Elemente der zwei artverschiedenen Weltbilder einander beeinflussen, einander und die Lebenswelt so verzerren, dass dies dem Bewusstsein des Subjekts selbst verborgen bleibt. Mir scheint, dass dies sowohl zu seelischem Unbehagen als auch zu Verzerrungen des religiösen und wissenschaftlichen Bewusstseins der Subjekte selbst führen kann. Dies ist der Fall, wenn Glaube in Ideologie umgewandelt wird, Wissenschaften in wahrhafte und falsche unterteilt werden, eine private Sichtweise als universelle Wahrheit verteidigt wird usw.

In letzter Zeit gehört es zum guten Ton, die entscheidende Bedeutung des Christentums bei der Genese der gegenwärtigen Wissenschaft zu betonen. Der Streit zwischen geo- und heliozentrischen Konzepten des Sonnensystems wird längst nicht mehr als Konflikt aufgeklärter Wissenschaftler und kirchlicher Dunkelmänner, sondern als Kampf zweier wissenschaftlicher Paradigmen betrachtet. Es ist allgemein anerkannt, dass die christlichen Ideen und Institutionen die Entstehung der gegenwärtigen Wissenschaft beeinflusst haben und dass die meisten großen Wissenschaftler subjektiv gläubig waren und in ihren Forschungsaktivitäten von ihrem Glauben inspiriert wurden. All das ist unbestreitbar wahr. Nichtsdestotrotz sollte aber angemerkt werden, dass die Wissenschaft als Form des menschlichen Lebens und Sphäre des gesellschaftlichen Bewussteins doch außerhalb und neben der Kirche entstanden ist.

Es ist klar, dass die Konfrontation zwischen Wissenschaft und Religion die ganze Neuzeit hindurch und teilweise bis heute (erinnern wir uns an den Brief der zehn Akademiker
[6]) als ein ärgerliches Missverständnis bzw. ein Produkt rein menschlicher Wirren und Fehler von beiden Seiten angesehen werden kann, als Ergebnis der Konkurrenz zwischen den gesellschaftlichen Institutionen in ihrem Kampf um das Bewusstsein der Menschen. Allerdings scheint diese Betrachtungsweise ziemlich oberflächlich zu sein, und zwar bereits wegen der Nachhaltigkeit dieser Konfrontation.

Als sinnvoller erscheint die Sichtweise, dass die Konkurrenz von Wissenschaft und Religion sich im Werk der Transformation des menschlichen Alltags aus dem Unterschied zwischen den jeweiligen konzeptionellen Grundlagen des modernen wissenschaftlichen und religiösen Wissens insgesamt und, unter anderem, dem Wissen der Kirche ergibt. Das Problem liegt weniger darin, dass sich die Inhalte und Bedeutungen dieser oder jener Behauptung unterscheiden, sondern darin, dass die Wege zur Erlangung dieses Wissen, seine empirischen Grundlagen und die Methoden seiner rationalen Verarbeitung prinzipiell unterschiedlich sind[7].

Im Verlauf besagter Konkurrenz versucht die Wissenschaft nicht nur, Wissen zu produzieren, sondern auch, aufgrund dieses Wissens dem menschlichen Leben einen Sinn zu verleihen, das geistliche Leben der Menschen zu organisieren und quasi-religiöse Kultformen zu erschaffen. Die Religion aber versucht nicht nur, dem Leben einen Sinn zu verleihen, sondern auch, Wissen zu produzieren.

Hier muss eine Frage gestellt werden, und zwar: ist es generell möglich, von religiösem Wissen als Wissen im starken Sinne zu sprechen? Die naheliegendste Antwort auf diese Frage wäre negativ und damit für uns inakzeptabel. Religiöses Wissen, also der Inhalt einer Glaubenslehre, kann  erstens nicht beanspruchen, die Bedingung der Begründbarkeit zu erfüllen. Zweitens widerspricht es inhaltlich dem, was als „wissenschaftliches Bild der Welt" bzw. „wissenschaftliche Weltanschauung" bezeichnet wird.

Entspricht das religiöse Wissen den Hauptbedingungen (die übrigens durch Wissenschaft bzw. Philosophie aufgrund wissenschaftlicher Tätigkeit erarbeitet wurden), die es uns ermöglichen, Wissen von Nicht-Wissen zu unterscheiden? Laut der von mir dargestellten Definition des Wissens im starken Sinne ist diese Bedingung eben die Begründbarkeit, also die Abhängigkeit der Anerkennung der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen, davon, ob sie bestimmte Standardprozeduren bestehen, vor allem die Verifikation und den Beweis. D.h., dass eine Aussage sich auf Wissen beziehen wird, wenn wir (also jeder Mensch, angenommen, dass er über gewisse Basisinformationen verfügt) ihre Wahrheit oder Falschheit begründet behaupten können.

Durch die Jahrhunderte hindurch haben sich die wissenschaftlichen Institutionen darum bemüht, in die Erkenntnispraxis des Menschen die Prozeduren der Verifizierung, des Beweises, der Formalisierung, der Kritik, der Polemik und der Kontrolle einzuführen. Diese Prozeduren bezweckten die Gewährleistung unserer Behauptungen und die Zuverlässigkeit unseres Wissens. Die Philosophie strebte ihrerseits die Gewährleistung der Begründbarkeit und der Zuverlässigkeit dieser Prozeduren an. Ein klassisches Beispiel sind die Philosophen des 17. Jhs.: Descartes, Bacon, Locke, Leibnitz. 

Die Forderung nach Begründbarkeit des Wissens ist mit dem Anspruch auf Objektivität eng verbunden. Um sich von einer subjektiven Meinung zu unterscheiden, soll das Wissen objektiv sein. Es soll die reale Sachlage der Welt widerspiegeln, unabhängig davon, von wem diese Sachlage festgestellt wird. Die Entwicklung der Prozeduren zur Begründung und zur Kontrolle der Begründbarkeit hat zum Ziel, aus der Erkenntnis alle Faktoren auszuschließen, die das Wissen subjektivieren, also die Ergebnisse der Erkenntnis von einer Autorität, einer Willkür, einer Meinung bzw. einer persönlichen Überzeugung oder auch einer politischen Konjunktur abhängig machen könnten. Dieser Prozess ergibt sich in der Annahme der Prämisse über die Autonomie der Vernunft. Diese ist der Kirche absolut fremd und scheint mir den tiefsten Grund der Konfrontation zwischen Wissenschaft und Religion zu bilden.

Wissenschaftliche Erkenntnis stützt sich auf Erfahrung und Vernunft. Die Entwicklung des Strebens nach Begründbarkeit und Objektivität des Wissens hatte zur Folge, dass Erfahrung hauptsächlich als Information der Sinnesorgane verstanden wird (entweder unmittelbar oder durch Geräte vermittelt), und Vernunft als mathematische und logische Regeln der Verarbeitung dieser Informationen. Emotionale, volitionale und wertgebundene (ethische und ästhetische) Kräfte des menschlichen Geistes werden dabei aus dem Erkenntnisprozess weitestgehend ausgeschlossen. Das betrifft sicherlich auch das „Licht Christi, welches jeden in die Welt kommenden Menschen erleuchtet"[8]. Das Problem der Ursünde, das für die christliche Wissenstheorie wesentlich ist, wird auch nicht behandelt.

Wir sind uns selten dessen bewusst, welche Folgen dieses Streben nach Objektivität hat. Das von der Wissenschaft angestrebte Wissen soll in zweierlei Sinn objektiv sein. Erstens darf es von keinen „persönlichen Einstellungen und Sichtweisen" abhängig sein, und zweitens soll es die objektive Realität abbilden, d.h. die Realität, die unabhängig von uns existiert[9]. Ich denke, dass viele Leser bereits erkannt haben, dass der zweite Teil des vorhergehenden Satzes die leninistische Definition von Materie ist. Es ist kein Zufall, dass sie hier auftaucht. Die Annahme dieser zwei Bedeutungen des Wortes „Objektivität" führt unvermeidlich zu der Annahme, dass die einzige Realität, die unserer Erkenntnis zugänglich ist (und eventuell die einzige Realität, die existiert), die physikalische Realität sei. Die Gesetze ihrer Existenz sind damit die einzigen Gesetze unseres eigenen Seins. Das bedeutet, dass die Methodologie der modernen Wissenschaft, auch wenn sie möglichst allgemein verstanden wird, gewisse Konsequenzen für die Weltanschauung zeitigt. Daher ist es kein Zufall, dass die moderne wissenschaftliche Weltanschauung zwei von Kirchenmenschen ungeliebte Theorien als Basisprinzipien beinhaltet, nämlich die korpuskuläre und die evolutionäre Theorie. In einer sehr verallgemeinerten Form besagen sie, dass erstens alle komplexen und großen Dinge Systeme seien, die aus einfacheren und kleineren Dingen bestehen, und zweitens, dass komplexe Systeme von Dingen allmählich als Ergebnis der Interaktion aus einfacheren Dingen entstanden seien[10]. Das Problem besteht, wie gesagt, darin, dass all diese Vorstellungen in einer durchaus scharfen Konkurrenz der wissenschaftlichen Forschungsprogramme nicht zufällig gesiegt haben, sondern weil sie jenen methodologischen Prinzipien am besten entsprechen, die in der modernen Wissenschaft durch ihre Gründer (Galilei, Descartes, Newton) angelegt sind.

Dieser Gang der Dinge hat seinerzeit in Europa Pascal, Kierkegaard und Schelling sowie in Russland P.J. Tschaadajew[11], I.W. Kirejewskij und F.M. Dostojewski entsetzt. Es ist wohl offensichtlich, dass seine Ergebnisse für die Kirche nicht annehmbar sind.

So erklärt sich auch, dass umgekehrt die Wissenschaft das kirchliche Wissen nicht als Wissen anerkennt. Obwohl sich ursprünglich (sagen wir, im Mittelalter) die wissenschaftlichen Institutionen (z.B. Universitäten) als Zweige der Religionsinstitutionen entwickelt hatten, haben sie es seit der Säkularisierung geschafft, den gegenwärtigen Stand der Entwicklung der grundsätzlichen Erkenntnisprozeduren und der Kontrolle ihrer Ausführung seitens der wissenschaftlichen Gemeinschaft (und nur dieser Gemeinschaft) zu setzen. Den Religionsinstitutionen (mit einigen wichtigen Ausnahmen in Form diverser Varianten der so genannten Religionsphilosophie) ist es nicht gelungen, den Wissenschaftsinstitutionen bedeutende Konkurrenz zu machen. Es ist aber auch möglich, dass sie sich dies gar nicht als Ziel gesetzt haben.

Als Folge entsteht (trotz bewusster Überzeugungen und Wünsche der Wissenschaftler selbst)[12] ein tiefliegender Widerspruch zwischen wissenschaftlicher und religiöser Weltanschauung. Während erstere die Elemente des Mysteriösen und des Unbegreiflichen und des Fremdartigen systematisch aus der Welt ausschließt, hat letztere als prinzipielle Grundlage eben die Anwesenheit dieser Elemente in der menschlichen Erfahrung. „Der Gott der Philosophen und der Gelehrten ist nicht der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" -  dieses Fazit von Pascal ist sowohl auf die Welt als auch auf die Menschen selbst mit Erfolg anwendbar: die Welt und der Mensch der Philosophen und Gelehrten ist nicht die Welt bzw. der Mensch von Abraham. .

Wie sind denn dann aber die Welt und der Mensch der Gelehrten?

Von der Welt habe ich bereits gesprochen. Ferner sollte der Mensch der Wissenschaft ein Teil der objektiven physikalischen Welt sein, die der Forschung durch Wissenschaft zugänglich ist, und nicht mehr. Das bedeutet, dass ihre innerliche Realität - sogar wenn wir annehmen, dass die Welt über sie verfügt - in denselben Begriffen beschreibbar sein muss, in denen die Realität der Natur zu beschreiben ist; bezeichnen wir sie als „äußerliche Realität". Diese Begriffe können biologisch, behavioral oder sozial sein - allerdings unter der Bedingung, dass die letzteren, ihrerseits, auf die eine oder andere Weise auf erstere reduzierbar sind. Dementsprechend sollte jede innerliche Realität als psychische Funktion behandelt werden, die der mehr oder weniger breit verstandenen Adaption des Organismus und der Art im allgemeinen an die Realitäten der Natur und der Gesellschaft dient. Dabei wird die Adaption selbst nicht teleologisch, sondern technisch und funktional verstanden. Das bedeutet, dass im Menschen, so wie in jedem anderen System auch, das dieser Welt angehört, lediglich mehr oder weniger komplex funktionierende Mechanismen existieren, die mit der Außenwelt interagieren. Die Adaptionsgrade unterscheiden sich nur dadurch, dass diejenigen Organismen überleben, deren funktionelle Systeme den Umweltbedingungen optimal entsprechen.

Ein Beispiel für solch eine Reduktion wird von dem bekannten amerikanischen Philosophen John Searle in seinem Buch „Die Wiederentdeckung des Geistes" angeführt:
Die teleologische Erklärung: „Pflanzen drehen ihre Blätter zur Sonne hin, um zu überleben" (die in dieser Form den Pflanzen einen Hang zum Überleben zuschreibt, also einen innerlichen Zustand, über den wir in Wirklichkeit durch unsere Standardprozeduren nichts erfahren können) wird durch eine Summe mechanisch-technischer und funktionaler Erklärungen ersetzt:
„Die sich ändernden Sekretionen von Auxin dienen als Ursache dessen, dass Pflanzen ihre Blätter zur Sonne hin drehen" + „Pflanzen, die ihre Blätter zur Sonne hin drehen, haben mehr Überlebenschancen als solche, die es nicht tun".

Das Ergebnis dieser Prozedur ist, dass der innerliche Zustand der Pflanzen verschwunden ist, da er durch die tatsächlich registrierbaren und überprüfbaren Außenfakten ersetzt wurde. Das Ziel, das die Pflanzen sich gesetzt haben, nämlich das Überleben, ist in ein teleologisch zufälliges, aber kausal regelmäßiges Ergebnis verwandelt worden.

Um konsequent zu sein, müssten wir als Wissenschaftler dieselbe Operation für die Erklärung des menschlichen Verhaltens ausführen.

Dagegen steht „der Mensch Abrahams" „der Geist und der Leib" und „ein Wesen, das zur Vergöttlichung berufen ist"[13]. Der Zweck seiner spirituellen und körperlichen Existenz liegt außerhalb dieser Welt. In Bezug auf die rein spirituellen  Aufgaben, erweist sich die Adaption an die Welt der Natur in diesem Falle als zweitrangige (wenn auch notwendige) Aufgabe. Die oben genannten biophysischen Mechanismen, die den menschlichen Körper ausmachen und seine Lebensfunktionen gewährleisten, sind dann in Bezug auf die Aufgabe, die der Mensch sich stellt, dienlich. Es ist also offensichtlich, dass eine Prozedur der Reduktion, die der oben beschriebenen ähnlich ist, völlig unangebracht und sinnlos wäre. Entsprechend stellt sich uns sowohl die Welt Abrahams als auch die Welt eines heute gläubigen Menschen als lebhaftes und harmonisches Ganzes dar, als die Schöpfung des lebendigen Gottes[14].

Meiner Ansicht nach besteht das Problem darin, dass die Sichtweise „der Philosophen und der Gelehrten" sich als begründet, objektiv und allgemeingültig (also als Wissen), die Sichtweise Abrahams sich dagegen als subjektiv und persönlich (also als Meinung) darstellt. Den Patriarchen hat sich diese Frage sicherlich nicht gestellt. Sie stellte sich allerdings Pascal und auch uns, denn wir sind einerseits um die Harmonisierung unserer Innenwelt und andererseits um die christliche Aufklärung und Mission bemüht. Sie fordert uns heraus, die Frage nach der Begründbarkeit, der Objektivität und der Allgemeingültigkeit des religiösen Wissens aufzuwerfen.

Es wäre möglich, mehrere philosophische Auswege aus der sich ergebenden Situation einzuschlagen. Jeder von ihnen verfügt über gewisse Vor- und Nachteile.

Der einfachste, am wenigsten von philosophischer Reflexion belastete Weg, besteht in einer einfachen Umgestaltung der wissenschaftlichen Theorien und der Ergebnisse, so dass sie letztendlich unseren Vorstellungen über unseren Glauben formal entsprechen. So entstehen z.B. der kosmologische, der biologische und der anthropologische Kreationismus. Der Hauptnachteil dieses Weges ist seine Fruchtlosigkeit. Die jedem unvoreingenommenen Menschen deutliche Bodenlosigkeit dieser Konzepte wird dadurch verursacht, dass sie nicht aus einem natürlichen Gang wissenschaftlichen Denkens entstanden sind, sondern in diesen Gang willkürlich hineingezogen wurden, wobei sie aus Prämissen hervorgehen, die der Wissenschaft völlig fremd sind. Menschen, die solche Konzepte erzeugen, interessieren sich in der Regel nicht für Philosophie und sind der Meinung, dass sie das Problem lösen können, ohne aus dem Rahmen der Methoden der einzelnen Wissenschaften herauszutreten.

Es gibt aber auch Wege, die reflexiver und produktiver sind. Diese werde ich im Folgenden gemäß den entsprechenden philosophischen Schulen bezeichnen, und zwar als positivistisch, kantianisch, thomistisch, platonisch und existentiell (radikal).

Die positivistische Vorgehensweise, die im 20. Jh. z.B. durch Duhem[15] vertreten wird, stützt sich auf eine strenge Trennung zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich bzw. zwischen Fakt und Wesen. Von ihnen werden die jeweils ersteren durch die Wissenschaft erkannt, die jeweils zweiten dagegen sind den wissenschaftlichen Mitteln prinzipiell unbegreiflich und unzugänglich und damit der Domäne der Religion zuzuordnen[16]. In der Psychologie entspräche dem, zum Beispiel, die Abgrenzung zwischen Seele und Psyche. Meiner Ansicht nach beweist diese Vorgehensweise - obwohl sie in der Praxis bequem zu sein scheint - viel mehr, als sie beweisen will. Akzeptieren wir diese Unterscheidung als Postulat, dann bleiben Seele, Gott und Welt so, wie sie in Wirklichkeit sind, als Dinge an sich außerhalb unserer möglichen Erfahrung. Nur psychische und physikalische Erscheinungen bleiben dann der Forschung zugänglich. Der Anspruch des religiösen Weltbildes, einen Status des Wissens zu haben, bleibt bei dieser Vorgehensweise unverwirklicht, da jede religiöse Behauptung über Gott, Mensch und Welt sich hier als Ergebnis dogmatischer Postulierung darstellt. Es ergibt sich, dass es unmöglich wäre, diese Postulierung durch einen Verweis auf die Erfahrung oder die Vernunft zu begründen.

Die genannte Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich geht bekanntlich auf Kant zurück. Behauptungen über Dinge an sich (Gott, Welt, Seele) sind im Rahmen der reinen theoretischen Vernunft unmöglich, im Rahmen der praktischen Vernunft jedoch möglich. Ideen wie Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Existenz Gottes werden hier als Postulate der praktischen Vernunft behandelt, d.h. als Prämissen, ohne die die Verwirklichung des moralischen Bewussteins des Menschen nicht möglich sei. Aber erstens bleiben diese Prämissen „nur Prämissen", und, zweitens begründen sie sich hier durch den Wert ihrer Konsequenzen: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt", wie Dostojewskij diese Postulate prägnant zusammenfasst. Natürlich führt dies dazu, dass, nach Kant, „die Religion sittlich (...) sein soll, nicht umgekehrt".[17] In anderen Worten, existiert die Religion um der Sittlichkeit willen und wird als Methode zur Unterwerfung der Menschen unter deren Forderungen wahrgenommen. Das Sezieren der „menschlich, allzu menschlichen" Natur dieser Forderungen durch den Marxismus, den Nietzscheanismus und den Freudianismus zieht auch den Sturz der kantischen ethischen Religion nach sich.

Der Kantianismus erweist sich manchmal als ein sehr bequemer Anlass zur Erhebung der Religionsfrage (so wie es in der russischen Philosophie des 20. Jhs. geschah), aber der Übergang von der „Idee Gottes in der menschlichen Seele" zum reichhaltigen Glauben an „den lebendigen Gott"[18] erweist sich für ihn als unerfüllbar.

Im Gegenteil zu Positivismus und Kantianismus behauptet der Thomismus entschlossen die Rechtmäßigkeit und Unvermeidlichkeit der metaphysischen Analyse der physikalischen Realität. Außerdem stellen sich, vom Standpunkt der Thomisten, der Positivismus und der Kantianismus selbst als misslungene Formen einer solchen Analyse dar[19]. Laut Thomas von Aquin könne die richtige metaphysische Analyse, zumindest die einiger empirischer Fakten (Bewegung, Entstehung und Niedergang von Dingen usw.) deren Abhängigkeit von einer transzendenten Ursache, d.h. von Gott, aufdecken[20]. Darauf stützt sich seine „natürliche Theologie", also die Theologie durch die natürliche Vernunft.

Das wissenschaftliche Wissen bleibt hier unverändert. Das religiöse Bild der Welt erhält quasi eine rationale und sogar empirische Begründung (empirisch, da die Beweise der Existenz Gottes von beobachtbaren Fakten ausgehen). Allerdings ist hier die Sphäre des Natürlichen selbst ausreichend. Dabei schließt sie auch das Sein Gottes (zumindest in einem bestimmten Aspekt davon) ein. Sie weist auf das Übernatürliche hin, aber dieser Hinweis darf nicht für notwendig gehalten werden. Damit fällt das Übernatürliche wegen seiner „Nicht-Notwendigkeit" leicht ab. Zugleich wurde das Konzept der natürlichen Theologie bereits in der Scholastik (zum Beispiel durch Ockham) kritisiert, und zwar wegen seines übertriebenen Optimismus. Wird die natürliche Vernunft sich selbst überlassen, strebt sie eher danach, sich vom Glauben zu emanzipieren, als ihn zu begründen. Der Übergang vom Gott (sowie auch vom Menschen und von der Welt) Abrahams ergibt sich keineswegs als etwas Selbstverständliches. Es bedarf einer Anstrengung, um die Vernunft in den Dienst des Glaubens zu stellen. Diese Anstrengung kann sich aber nicht in der Struktur der rationalen Aktivität selbst widerspiegeln.

Gerade dieser Moment wird aber im Platonismus (in seinen diversen Variationen) berücksichtigt.

Der religiöse Platonismus berücksichtigt die relative Abgesondertheit der Sphären der Wissenschaft, der Philosophie und der Religion, strebt aber ihre organische Übereinstimmung im Ideal des ganzheitlichen Wissens an. Konkrete wissenschaftliche Ergebnisse als solche werden nicht extra revidiert. Hier wird die Notwendigkeit der Rationalität (als einer erforderlichen Form des menschlichen Wissens) auch nicht abgelehnt, auch wenn ihre Sphäre etwas eingeschränkt ist. Die Kritik richtet sich hauptsächlich auf das mittlere Niveau. Angefangen von Platon selbst (ich meine vor allem den Dialog „Gorgias") wird der herrschende Typ der Wissen erzeugenden wissenschaftlichen Rationalität einer systematischen Kritik unterzogen. Diese Kritik richtet sich gegen den Anspruch, eine reine Form zu sein (also von keinem Inhalt abhängig und ohne implizite weltanschauliche Schlussfolgerungen), sowie gegen den Anspruch, die gesamte mögliche Realität zu erfassen. Die oben skizzierte Auffassung der Begründbarkeit und Objektivität wissenschaftlichen Wissens wird vom Platonismus als eine Sichtweise wahrgenommen, die unter Einwirkung bestimmter historischer oder psychologischer Faktoren entstanden ist.

Dadurch aber entsteht auch ein bestimmter Typ der Kritik der Vernunft als solcher. Es existieren Realitäten, deren Erkenntnis nur durch die Begründung ihrer Unbegreiflichkeit möglich ist. Dieser Apophatismus bezieht sich hier nicht nur auf Gott, sondern auch auf den Menschen und auf die Welt, also letztendlich auf jedes Fragment jeder Realität. S.L. Frank[21] schrieb: „Das Sein ist immer und in jedem seiner Abschnitte erkennbar und gleichzeitig unbegreiflich. Alles, was erkannt und bekannt ist, bleibt für uns nach wie vor ein unbegreifliches Geheimnis"[22]. In diesem Sinne ergibt sich der Platonismus als philosophisches Abbild der religiösen Wahrnehmung des Lebens. Schließlich hört das [rationale] Wissen auf, die entscheidende Beziehung des Menschen zur Welt darzustellen, und seine Erzeugung ist nicht länger die Hauptbeschäftigung des Menschen. Die Sphäre der möglichen Erfahrung des Menschen wird breiter, und es entsteht die Möglichkeit, die Kriterien der Begründbarkeit und Objektivität des Wissens zu modifizieren.

Für unser Thema ist es prinzipiell wichtig, dass diese Ergebnisse mit Hilfe begründbarer Prozeduren gewonnen werden, deren Einsatz sich ebenso philosophisch begründbar ergibt. Sie stellen sich als Wissen dar, das einen Weg zur Begründung des epistemologischen [J1] Status des religiösen Weltbildes eröffnet.

Zu den Vertretern dieser Tradition würde ich solche Denker wie Nikolaus von Kues, Schelling, Bergson, W. Solowjow[23], N.Losskij[24] und S.L. Frank zählen.

Schließlich gibt es als radikalste Lösung der oben beschriebenen Situation auch die vollständige Ablehnung jeglicher Errungenschaften der Wissenschaft. Solch eine Ablehnung kann sich entweder als einfache Ignorierung oder auch als totale Kritik verwirklichen. Sie bemüht sich darum, der Rationalität als solcher in jeder ihrer möglichen Formen einen negativen Wert zuzumessen: Die Rationalität bestimmt und verankert die Herrschaft des Allgemeinen über das Persönliche und den Einzelnen, sie nivelliert die Einmaligkeit menschlicher Persönlichkeiten. Sie erschafft ein verallgemeinertes (und, folglich, ein falsches) Bild von Gott, vom Menschen und von der Welt. Dadurch schließt sie die Möglichkeit eines Kontaktes mit der wahren Realität aus und riegelt  dementsprechend die Möglichkeiten der wahren Existenz des Menschen selbst ab.

Als Kritik der Vernunft erweist sich diese Vorgehensweise durchaus als effektiv. Sie ist ebenfalls fähig, Beimischungen des Rationalismus in der Kritik diverser Typen falschen religiösen Bewussteins aufzuspüren. Das Hauptproblem dieses Weges ist die Unmöglichkeit jeglichen Wissens; nicht nur des wissenschaftlichen, sondern auch des religiösen. Es ist aber klar, dass die meisten religiösen Menschen (nicht nur einfache Gläubige, sondern auch Asketen und Mystiker) kaum dazu bereit wären, die Behauptung der Sinnlosigkeit der Sätze der kataphatischen Theologie anzuerkennen. Im Ergebnis ist dies  auch die Position von Versuchen, alternative Formen der Rationalität aufzuspüren - so wie die „Logik des Herzens" von Pascal, die „zweite Dimension des Denkens" von L. Schestow[25] u.a.

Jeder der von mir hier betrachteten Wege hat seine Vor- und Nachteile. Folglich können wir den einen oder den anderen von ihnen wählen. Selbstverständlich konnte ich sie auch nicht ganz ausführlich beschreiben. Ich persönlich habe den Eindruck, dass die zwei letzten von ihnen am aussichtsreichsten sind, auch wenn sie der größten intellektuellen Anstrengung bedürfen. Denn nur nachdem der Wert des Wissens als solcher in Frage gestellt wird, können die Kriterien des „Wissens" begründbar verändert werden - so, dass wir die Chance haben, den „Schulstreitern dieses Zeitlaufs"[26] das religiöse Bild der Welt als Wissen darzustellen, das über die Hauptmerkmale des Wissens im starken Sinne (Begründbarkeit, Objektivität und Allgemeingültigkeit) verfügt, nicht weniger als das Wissen, das sich für „wissenschaftlich" hält.

Zum Schluss würde ich sagen wollen, über welche Wahl wir nicht verfügen: Wir verfügen nicht über die Wahl, zu denken oder nicht zu denken. Mir scheint, dass die Zeit kommt, die prophetisch von W. Solowjow vorhergesagt wurde: die Zeit, in der „eine riesige Mehrheit von denkenden Menschen gar nicht gläubig bleibt, aber die wenigen Gläubigen notwendigerweise alle denkende werden"[27].


[1] Iwan Wassiljewitsch Kirejewski (1806 - 1856) war ein russischer Schriftsteller, Publizist und bedeutender Theoretiker der Slawophilie (einer politisch-publizistischen Bewegung, die seit den 1820ern die den Westlern entgegengesetzte Richtung des Panslawismus bildete). Sein zentrales Anliegen war einerseits das Verhältnis Russlands zu Europa; andererseits ging es ihm um die Überwindung der Differenz zwischen Wissen und Glauben. Als Student bei (und Freund von) Hegel und Schelling sah er die Quelle der Krise der europäischen Aufklärung in der Abwendung von den religiösen Prinzipien und im Verlust der geistlichen Ganzheitlichkeit. Für ihn war Europa von einer rationalistischen Art zu Denken geprägt, die den Kult der Körperlichkeit und der materiellen Produktion pflegte, zur geistlichen Versklavung des Menschen beitrüge und keine Ganzheitlichkeit zuließe. Die Urrussische Tradition hingegen beruhte auf gerade dieser Ganzheitlichkeit, die aber durch die Annäherung Russlands an westliche Denktraditionen zunehmend abhanden käme. Kirejewski strebte die Versöhnung der alten und neuen Traditionen Russlands an. Als Aufgabe der eigenständigen russischen Philosophie sah er die Überarbeitung der progressiven Philosophie des Westens im Geiste der Lehren der Ostpatristik. (Anm.d.Ü)
[2] Киреевский И.В. Критика и эстетика. М. 1979. С. 321 (Kirejewskij I.W. Kritik und Ästhetik. Moskau, 1979).
[3] Ibid.
[4] Бергер П., Лукман Т. Социальное конструирование реальности. М. 1995. С. 9 (Berger, P.Lookman T. Soziale Konstruierung der Realität. Moskau, 1995. S.9).
[5] Man könnte behaupten, vom Standpunkt der Menschheit im Großen und Ganzen sei Wissen eher Mittel als Zweck (worin auch immer der Zweck selbst bestehen mag). Nichtsdestotrotz ist das Wissen für die gesellschaftlichen Institutionen, die sich mit der Wissenschaft beschäftigen (Akademien, Forschungsinstitute, usw.) sicherlich ein Ziel, dem andere Ziele und Werte geopfert werden können (zum Beispiel moralische oder religiöse).
[6] Im Jahre 2007 verfasster offener Brief an Präsident Wladimir Putin, in dem die Autoren, zehn Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften, gegen die Einführung des Unterrichts über „Grundlagen der orthodoxen Kultur" in den Schulen protestierten und forderten, die Gesellschaft „vor der aktiven Einmischung der orthodoxen Kirche in alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens" zu schützen. Der Brief bewirkte lebhafte gesellschaftliche Diskussionen, in denen u.a. von den Vertretern der Russischen Orthodoxen Kirche daran erinnert wurde, dass es in der Geschichte Russlands bereits die Situation gab, dass die antireligiösen Aktivitäten der bolschewistischen Atheisten zum Blutbad führten. (Anm.d.Ü.)
[7] Vorläufig, sozusagen aus dem Stegreif, kann als Quelle religiösen Wissens mystische Erfahrung genannt werden (bzw., breiter gefasst, spirituelle Erfahrung allgemein), sowie die Heilige Schrift und die Überlieferung der Kirche. Quelle wissenschaftlichen Wissens wäre dann sinnliche Erfahrung, Beobachtung, Experiment. Das religiöse Wissen ist existentiell bedeutsam; das wissenschaftliche Wissen ist neutral. Die religiöse Sprache ist metaphorisch, und die in ihr geschriebenen Texte implizieren in der Regel mehrdeutige Interpretationen. Die wissenschaftliche Sprache strebt dagegen Buchstäblichkeit und Eindeutigkeit an (mit mehr oder weniger Erfolg).
[8] Vgl. Joh. 1,9. (Anm.d.Ü.)
[9] Серл Д. Открывая сознание заново. М. 2002. С. 32 (Searle, J. Die Wiederentdeckung des Geistes. Moskau, 2002, S. 32) John Rogers Searle ist ein amerikanischer Philosoph. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes sowie Philosophie der künstlichen Intelligenz. (Anm.d.Ü.)
[10] Ibid. S. 95.
[11] Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew (russ. Пётр Яковлевич Чаадаев, 1794 - 1856) war ein russischer Philosoph und politischer Denker. In seinen Aufsätzen bezeichnete er Russland als geistig ... vollständig unbedeutend und gab die Schuld daran der russischen Kirche. Tschaadajew entwickelte Thesen, die zu Auseinandersetzungen zwischen den Strömungen der Slawophilen und der Westler führten. (Anm.d.Ü.)
[12] Vgl. die Aussage von Bertrand Russell: „Obwohl die meisten Gelehrten sich als Vorbilder der Frömmigkeit erwiesen, stellte die Anschauung, die sich unter dem Einfluss ihrer wissenschaftlichen Aktivität aufbaute, für die Religion eine Bedrohung dar". Рассел Б. История западной философии. Новосибирск. 1999. С. 502 (Russel B., Die Geschichte der westlichen Philosophie. Novosibirsk. 1999. S. 502).
[13] Св. Григорий Богослов. Творения. Т. 1. С. 527 (Der Hl. Gregor von Nazianz. Die Werke. Band 1. S. 527).
[14] Vgl. Mt. 16,16, Hebr. 10,31. (Anm.d.Ü.)
[15] Über den „christlichen Positivismus" von P. Duhem s. einen ausgezeichneten Artikel von: В.Н. Катасонов «Позитивизм и христианство: философия и история науки П. Дюгема» // Два града. Диалог науки и религии. Восточно- и западноевропейская традиции. М. 2002. С. 67-107 (W.N. Katasonow „Der Positivismus und das Christentum: die Wissenschaftsphilosophie und - geschichte von P.Duhem" // Zwei Städte. Ein Dialog zwischen der Wissenschaft und der Religion. Die östlichen und die westeuropäischen Traditionen. Moskau. 2002. S. 67-107). Pierre Maurice Marie Duhem (1861 - 1916) war ein französischer Physiker, Wissenschaftstheoretiker/-historiker und Vertreter des Instrumentalismus.  (Anm.d.Ü.)
[16] Positivismus ist eine philosophische Richtung, die Mitte des 19. Jhs. als Gegensatz zur Metaphysik entstanden ist und die Traditionen des englischen Empirismus des 17. und des 18. Jhs. entwickelt. Sein Wesen könnte mit den Worten von John Locke, einem berühmten englischen Philosophen und Begründer des Empirismus, ausgedrückt werden, die lauten: in der Vernunft gibt es nichts, was es nicht vorher im Gefühl gibt. Wird diese Vorgehensweise konsequent entwickelt, führt sie dazu, dass die einzige uns bekannte Realität, die uns in der Erfahrung gegebenen Erscheinungen sind, deren metaphysisches Wesen (wenn es dies überhaupt gibt), kein Gegenstand des Wissens sein kann. (Anm.d.Ü.)
[17] Соловьев В.С. Кант // Собрание Сочинений. Т. 2. М. 1988. С. 467 (Solowjow W.S. Kant // Die Sammlung der Werke. Band 2, Moskau, 1988. S. 46).  Vgl. Кант И. Религия в пределах только разума // Кант И. Трактаты. СПб., 1996. С. 263 (Kant I. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft // Kant I. Traktate. St. Petersburg, 1996. S. 263). Соловьев В.С. Кант // Собрание Сочинений. Т. 2. М. 1988. С. 467 (Solowjow W.S. Kant // Die Sammlung der Werke. Band 2, Moskau, 1988. S. 46).  Vgl. Кант И. Религия в пределах только разума // Кант И. Трактаты. СПб., 1996. С. 263 (Kant I. Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft // Kant I. Traktate. St. Petersburg, 1996. S. 263).
[18] Vgl. Mt. 16,16, Hebr. 10,31. (Anm.d.Ü.)
[19] Über den metaphysischen Charakter der linguistischen Analyse in der englischen Philosophie der Mitte des 20. Jahrhunderts s. Коплстон Ф.Ч. Современная британская философия. // История философии. XX век. М. 2002. С.26-28 (Copleston F.Ch. Moderne Britische Philosophie. // Geschichte der Philosophie. Das 20. Jahrhundert. Moskau,. 2002, S. 26-28).
[20] Коплстон Ф.Ч.  Аквинат. Долгопрудный. 1999. С. 116 (Copleston F.Ch. Aquinas. Dolgoprudnyj. 1999. S. 116).
[21] Über S.L.Frank s. auf http://orthpedia.de/index.php/Semjon_Frank. (Anm.d.Ü.)
[22] Франк С.Л. Непостижимое. Онтологическое введение в философию религии. // Сочинения. М., 1990. С. 217 (Frank S.L. Das Unbegreifliche. Ontologische Einführung in die Religionsphilosophie. // Die Werke. Moskau, 1990. S. 217). Vgl. Николай Кузанский. Об ученом незнании. // Сочинения в 2-х тт. Т. 1. М. 1979. Сс. 50-51, 53 (Nikolaus von Kues. De docta ignorantia. // Die Werke in 2 Bänden. Band 1. Moskau 1979. S. 50-51, 53)
[23] Über W. Solowjow s. auf http://orthpedia.de/index.php/Wladimir_Solowjow. (Anm.d.Ü.)
[24] Über N. Losskij s. auf http://orthpedia.de/index.php/Wladimir_Losskij. (Anm.d.Ü.)
[25] Leo Isaakowitsch Schestow (1866 in Kiew -1938 in Paris) - Philosoph des Existentialismus. (Anm.d.Ü.)
[26] Vgl. 1.Kor.1,20, unrevidierte Elberfelder,. (Anm.d.Ü.)
[27] Соловьев В.С. Три разговора. // СС. Т. 2. М. 1988. С. 740 (W.S. Solowjow. Die drei Gespräche. // Die Sammlung der Werke. Band 2; Moskau, 1988. S. 740).

Quelle: Портал Богослов.Ru

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Die ökumenische Diskussion über die Menschenrechte

6. Oktober 2009
Bulekov, Philaret, Hegumen

Im Rahmen der Fortführung der Diskussion präsentiert das Portal „Bogoslov.ru" einen analytischen Artikel von Igumen Philaret (Bulekov), Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche beim Europarat in Strasbourg, in dem die „Antwort der Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa" (2009) auf das Konzildokument „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" (2008) studiert wird.

Am 11. Juni 2009 hat die Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE) - die Leuenberger Kirchengemeinschaft, ihre Antwort auf das Dokument „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" unterbreitet, das im Sommer 2008 vom Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche verfasst wurde. Diese Antwort trägt den Namen „Menschenrechte und christliche Moral". In der zur Veröffentlichung der Antwort erschienenen Pressemitteilung gab es eine ziemlich vehemente Reaktion auf das orthodoxe Dokument. „Die GEKE sieht in der Position der ROK ein Missverständnis der Menschenrechte und lädt diese ein, den Dialog zur Umsetzung der Menschenrechte fortzusetzen"[1]. Dies veranlasst die Vertretung der Moskauer Patriarchats beim Europarat in Straßburg, für die das Thema der Menschenrechte und ihres christlichen Verständnisses ein Hauptanliegen ist, zu einer aufmerksamen Studie der im GEKE-Dokument enthaltenen Stellungnahme und Kritik.

Zurzeit verbindet die GEKE auf Grundlage der Leuenberger Konkordie von 1973, 105 protestantische Kirchen Europas (einschließlich fünf Kirchen in Südamerika, die aus Europa stammen) - darunter lutherische, reformierte, unierte und methodistische Kirchen sowie auch die vorreformatorischen Gemeinden der Hussiten und der Böhmischen Brüder. Das Sekretariat der GEKE befindet sich in Wien.

Das achtseitige GEKE-Dokument namens „Menschenrechte und christliche Moral" war in Mai 2009 verfasst worden[2]. In der Präambel dieses Dokuments (im Weiteren kurz „Antwort" genannt) steht unter anderem geschrieben[3]:

„In ihrer Stellungnahme lädt die russisch-orthodoxe Kirche andere christliche Kirchen ein, ihre Lehre zu studieren und zu diskutieren. Die GEKE dankt der russisch-orthodoxen Kirche für diese Einladung zum ökumenischen Dialog. Wir sehen darin ein Zeichen des gegenseitigen Vertrauens, das durch die enge Zusammenarbeit der Kirchen in Europa in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen ist. Wir übermitteln der russisch-orthodoxen Kirche diese Stellungnahme als Antwort auf ihr Dokument vom Juni 2008 und verbinden damit die Einladung zur Fortführung des gemeinsamen Dialogs über die Bedeutung der Menschenrechte".

Als solche ist die engagierte Analyse eines konziliar verabschiedeten Dokuments der Russischen Orthodoxen Kirche seitens der Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa ein gutes Zeichnen. Sie spricht für die Bereitschaft, die ökumenische Diskussion über die drängenden Probleme der christlichen Präsenz in der modernen Welt fortzusetzen. Die Wichtigkeit einer solchen Diskussion steht außer Zweifel; denn heute, während die Rolle der Religion in der Gesellschaft unablässig wächst, soll die Stimme der Kirchen zu gesellschaftlich bedeutenden Fragen sowohl lauter als auch deutlicher erklingen. Dies ist nur erreichbar, wenn alle interessierten Parteien gemeinsam an einem Strang ziehen.

Wie aus dem GEKE-Dokument selbst folgt, ist es in Fortsetzung der bereits geführten Diskussion verfasst worden - u.A. des Treffens der Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche und der Kommission für  Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen, das im März 2007 in Moskau auf Initiative der Russischen Kirche stattfand und der christlichen Interpretation der Menschenrechte im Vorfeld der Verabschiedung der entsprechenden ROK-Dokumente gewidmet war.

Das GEKE-Dokument stellt eine grundsätzlich wohlwollende Reaktion auf das Dokument der Russischen Orthodoxen Kirche „Grundlagen der Lehre über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" (im Weiteren „WFRM") dar, die aber auch mehrere konkrete Punkte kritisiert. In dieser Reaktion zeigen sich sowohl die Besonderheiten der protestantischen Glaubenslehre und Theologie als auch das Verständnis der Menschenrechtsproblematik, das sich in den Kirchen Europas heutzutage gebildet hat.

In dem hier vorgelegten Versuch der Analyse der „Antwort" werden jene Gesichtspunkte betont, die ein ungenügendes Verständnis der Position unserer Kirche oder Unstimmigkeiten in den Positionen - oder aber auch deren unbestreitbare Nähe - aufzeigen.

Dabei werden wir uns nicht nur auf das WFRM-Dokument stützen, sondern auch auf das frühere und umfassendere Dokument „Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche"[4] (2008), da das Sonderdokument zu Würde, Freiheit und Rechten der Menschen eigens zur Entwicklung der orthodoxen Soziallehre erstellt worden ist und nicht isoliert betrachtet werden darf.

Die „Antwort" auf die „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" besteht aus einer kurzen Präambel, fünf Abschnitten und dem Fazit. Jeder Abschnitt stellt zunächst die Position der ROK kurz dar, worauf kritische Kommentare folgen, die die Position der Verfasser widerspiegeln. Werfen wir nun einen näheren Blick darauf.

 

Abschnitt 1. Zur theologischen Grundlegung: Die unveräußerliche Würde des Menschen

Ganz am Anfang dieses ersten Abschnitts begegnen wir einer unkorrekten Interpretation der Position der Russischen Kirche. Hier heißt es, das WFRM-Dokument unterscheide

„zwischen einem ‚ultimativen Wert' des Menschen aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit und einer erst noch zu erringenden ‚ Würde' des Menschen, die auf einer Gottähnlichkeit beruht, die darin besteht, durch Gottes Gnade die Sünde zu überwinden und moralische Reinheit und Tugend zu erreichen."

Betrachten wir erst einmal die WFRM-Logik.

Die unveräußerliche Würde des Menschen (bzw. der menschlichen Natur) wird im Dokument der Russischen Kirche auf das Ebenbild Gottes zurückgeführt: der erschaffene Mensch ist das Ebenbild des erschaffenden Gottes. Hier geht es gerade um die „ontologische Würde jeder menschlichen Person und ihren höchsten Wert" (I.2)[5], und hier stehen „Würde" und „Wert" nicht einander entgegen (so wie in der „Antwort" unterstellt), sondern gleich gesetzt.

In diesem Punkt ist die Übereinstimmung der Positionen sichtbar - denn, wie es in der Antwort geschrieben steht: „auch aus evangelischer Sicht ist die Gottesebenbildlichkeit des Menschen der zentrale Punkt für die Begründung seiner einzigartigen Würde".

Allerdings sollte- entgegen der Behauptung der „Antwort" (die „christologische Fundierung fehlt in der Stellungnahme der russisch-orthodoxen Kirche") - darauf hingewiesen werden, dass die Vorstellung, dass das Ebenbild Gottes im Menschen unauslöschbar ist, in der WFRM eben doch christologisch begründet wird:

„Die Fleischwerdung des göttlichen Wortes hat bezeugt, daß die menschliche Natur auch nach dem Sündenfall ihre Würde nicht einbüßte (...) Die Annahme der Fülle der menschlichen Natur außer der Sünde durch den Herrn Jesus Christus (Hebr 4,15) zeigt, daß die Würde durch die Entstellungen, die in dieser Natur infolge des Sündenfalls entstanden sind, nicht in Mitleidenschaft gezogen ist" (I.1).

(Es mag beiläufig angemerkt werden, dass hier Übereinstimmung mit der in der „Antwort" geäußerten Position herrscht: „die (...) Menschenwürde kann (...) durch die Sündhaftigkeit des Menschen nicht grundsätzlich infrage gestellt werden".)

Dementsprechend ungerecht ist die Behauptung, dass „die russisch-orthodoxe Kirche Menschenwürde nur als moralischen Maßstab entfaltet". Zitieren wir dazu folgende Passage der WFRM, die den ontologischen Aspekt der Würde entfaltet: „ein sittlich unwürdiges Leben zerstört die von Gott verliehene Würde auf der ontologischen Ebene nicht", sie „verdunkelt" sie nur (I.4).

Der moralische Maßstab entsteht dann, wenn es sich um das Verhältnis des Menschen selbst zu der Würde handelt, über die er als Ebenbild Gottes immer und unbedingt verfügt. Das heißt, das WFRM-Dokument unterscheidet zwischen Würde im eigentlichen Sinne einerseits und dem „[dieser] Würde entsprechenden Leben" eines Menschen andererseits. Es betont auch, dass das Leben (moralisch gesehen) in der orthodoxen Tradition entsprechend der Würde (ontologisch gesehen) durch die Kategorie „Gottähnlichkeit" bestimmt und beschrieben wird (I.2). Hier sei auf Kirchenväter wie den Heiligen Gregor von Nyssa und den Ehrwürdigen Johannes von Damaskus verwiesen.

Wir weisen darauf hin, dass die Positionen der ROK und der GEKE in einem wesentlichen Punkt übereinstimmen:

WFRM: „(...) darf der Mensch, der das Ebenbild Gottes in sich trägt, sich dieser hohen Würde nicht rühmen, denn sie ist nicht sein persönliches Verdienst, sondern Gabe Gottes"(I.2.).

„Antwort": „(...) wird die Würde des Menschen nicht durch eigene Leistungen bestimmt, sondern allein durch Gottes Gnade, also eine Voraussetzung, die seiner Verfügung schlechterdings entzogen ist".

Zugleich gibt es hier deutliche Unterschiede in der Glaubenslehre. So lesen wir in der „Antwort" direkt nach dem oben zitierten Satz:

 „Dies spiegelt sich in der neutestamentlichen Rechtfertigungslehre wider: Paulus schreibt: ‚So halten wir denn dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben!' (Röm 3,28) Die in Gottes Gerechtigkeit begründete Menschenwürde kann demnach durch die Sündhaftigkeit des Menschen nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Zu der schöpfungstheologischen Begründung tritt also nach christlicher Überzeugung eine soteriologische Ausrichtung der Menschenwürde".

In diesem Falle bezieht sich das GEKE-Dokument auf die protestantische Lehre über die Rechtfertigkeit nur durch den Glauben und nicht durch Werke. Des Weiteren wird aus dieser Lehre eine charakteristische Vorstellung hergeleitet, dass die Menschenwürde „in Gottes Gerechtigkeit begründet  ist". Hier ist es markant, dass die „Antwort", indem sie das protestantische soteriologische Argument anführt, zugleich auch das moralische Element einführt, nämlich den Begriff der Gerechtigkeit. Und diese zwei Argumente - das Ebenbild Gottes und die Gerechtigkeit Gottes - gelten für die protestantische Vorgehensweise als Fundierung der Unerschütterlichkeit der Menschenrechte.

Die orthodoxe Lehre ist aber eine andere. Sie teilt weder die Vorstellungen über die Rettung nur durch den Glauben noch die, dass nur Gott über Gerechtigkeit verfüge. Die orthodoxe Theologie geht von der konzeptuellen Unterscheidung des „Ebenbildes" und der „Ähnlichkeit" aus und akzentuiert die Notwendigkeit der spirituellen Arbeit des Menschen an sich selbst, einer aktiven Abkehr von der Sünde (auch durch die Buße) und den Erwerb sittlicher Reinheit und der Tugenden. Mit anderen Worten: vom Menschen wird nicht nur Glaube, sondern werden auch Werke verlangt - wenn auch mit Beistand der Gnade Gottes (I.2). Ein Christ ist berufen zu „einem guten Leben, das der gottgegebenen menschlichen Natur würdig ist", nach dem Vorbild, das der Herr Jesus Christus der Welt kundgetan hat; er ist also, nach den im WFRM-Dokument zitierten Worten des Ehrw. Johannes von Damaskus, berufen zur „Verähnlichung mit Gott im Tun des Guten, soweit es dem Menschen möglich ist".

Das heißt, die Behauptung der „Antwort", es fehle dem WFRM-Dokument an einem essentiellen theologischen Element, ist unzutreffend. Allerdings bezeichnet die WFRM theologisch eben die Würde des Menschen und nicht die „Menschenrechte" als an und für sich begründet. Letzteren sind andere Abschnitte des Dokuments gewidmet.

Als inkorrekt sollte auch die folgende Behauptung der „Antwort" angesehen werden:

„...die russisch-orthodoxe Kirche (...)  kann (...) die Würde nicht als Begründung eines unbedingten Schutzes gegen menschliche Übergriffe verstehen. Menschliche Würde steht hier nicht für ein Tabu, das sich kategorisch gegen jede Verdinglichung und Instrumentalisierung von Menschen stemmt (...)". Zur Widerlegung können folgende Worte aus dem zweiten Abschnitt der WFRM angeführt werden: „Die Unterordnung des menschlichen Willens unter irgendeine äußere Autorität mit Hilfe von Manipulation oder Gewalt gilt als Verstoß gegen die von Gott errichtete Ordnung" (II.1).

Die Unantastbarkeit der Person und der Schutz ihrer unveräußerlichen Würde sind in der orthodoxen Lehre nicht mit einem Appell an die Menschenrechte verbunden, sondern, eigentlich, mit dem christlichen Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner Wesensgleichheit mit der Menschlichkeit Christi.

 

Abschnitt 2. Menschenrechte und Moral 

In diesem Abschnitt ist die GEKE-Position gekennzeichnet wie folgt.

„In den evangelischen Kirchen spielt die Frage der Heiligung des christlichen Lebens eine große Rolle. Die Kirchen der Reformation haben seit jeher großes Gewicht auf die rechte Lebensführung der Christen gelegt. Ziel protestantischer Erziehung ist, die Menschen in die Lage zu versetzen, ein verantwortungsbewusstes Leben gegenüber Gott und dem Nächsten zu führen. Wir sehen dies als wichtigen Beitrag der Kirchen zur Stärkung der moralischen und sittlichen Werte in der Gesellschaft.

Heiligung und Moral der menschlichen Lebensführung sind jedoch von der Aufgabenbestimmung der Menschenrechte zu unterscheiden. Die Stellungnahme der russisch-orthodoxen Kirche verzichtet leider auf solch eine rechtsethische Klärung der Menschenrechte. Dadurch fehlt eine klare Differenz zwischen Menschenrechten einerseits und Moralvorstellungen und religiösen Überzeugungen andererseits.

Die Menschenrechte sind Schutz- und Partizipationsrechte, die den Handlungs- und Lebensraum der Menschen unter das Recht stellen und Rahmenbedingungen für das Zusammenleben der Menschen gewährleisten."

Die hier zitierte Bewertung der Position unserer Kirche ist kaum gerecht.

Besinnen wir uns auf die allgemeine Position unserer Kirche in Bezug auf die Menschenrechte, wie sie in den Grundlagen der Sozialdoktrin niedergelegt ist (s. Abschnitt IV. Christliche Ethik und weltliches Recht, im Weiteren „GSD"):

„Das Recht ist dazu bestimmt, eine Erscheinungsform des göttlichen Schöpfungsgesetzes im sozialen und im politischen Bereich zu sein. Zugleich ist jedes durch die menschliche Gemeinschaft hervorgebrachte Rechtssystem - als Ergebnis einer historischen Entwicklung - durch eine gewisse Beschränktheit und Unvollkommenheit gekennzeichnet. Das Recht ist ein eigenständiger Bereich, der sich von dem ihm benachbarten Bereich der Ethik unterscheidet: es regelt nicht den inneren Zustand des menschlichen Herzens, da einzig Gott Herr unserer Herzen sein kann. Es sind jedoch das Verhalten und die Handlungen des Menschen, die Gegenstand der rechtlichen Reglementierung sind, der die Gesetzgebung zugrunde liegt...

Das Recht enthält ein Mindestmaß an für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlichen sittlichen Normen. Aufgabe des weltlichen Gesetzes ist es nicht. die unter der Macht des Bösen stehende Welt in das Reich Gottes zu verwandeln, sondern zu verhindern, daß sie zur Hölle wird" (IV.2).

So wie wir sehen können, besteht die Position unserer Kirche darin, die zwei Bereiche - den rechtlichen und den ethischen - sowohl voneinander zu unterscheiden als auch einander zuzuordnen. Sie kennzeichnet also „ein Verhältnis von Entsprechung und Differenz" (wie es in der „Antwort" an der Stelle geschrieben steht, wo von der Zuordnung von Gesetz und Evangelium die Rede ist: „zwischen der neuzeitlichen Gestalt der Menschenrechte und den Grundinhalten des christlichen Glaubens besteht nämlich ein Verhältnis von Entsprechung und Differenz").

Zugleich macht die ROK nicht nur einen horizontalen Unterschied zwischen Sittlichkeit und Recht, sondern erkennt auch, dass in diesem Falle ein hierarchisches Verhältnis vorliegt. In der WFRM steht geschrieben (was in der „Antwort" auch erwähnt wird), dass die Sittlichkeit, das heißt die Vorstellung von Sünde und Tugend, stets dem Gesetz vorausgeht, das gerade aus diesen Vorstellungen entstanden ist." (III.1).

Mit dieser doppelten Zuordnung - „horizontaler" und „vertikaler" - steht eine weitere Behauptung des WFRM-Textes völlig im Einklang. Ihr Sinn ist folgender: bei der rechtlichen Reglementierung des menschlichen Lebens und, entsprechend, bei „Menschenrechten" als einer ihrer Einzelerscheinungen, gehört die vorrangige Bedeutung nicht nur der Sittlichkeit als solcher, sondern vor allem dem, was sie vom christlichen Standpunkt bestimmt - nämlich dem menschlichen Glauben an Gott und der spirituellen Gemeinschaft mit IHM (was in der WFRM mit dem Ausdruck  „Werte der geistigen Welt" bezeichnet wird). Daher ist die ROK prinzipiell nicht damit einverstanden, „die Menschenrechte als die wichtigste und universale Grundlage des gesellschaftlichen Lebens zu deuten, der sich die religiösen Ansichten und die religiöse Praxis unterzuordnen haben" (III.1).

Hier ist es wichtig, die theologische Logik des ROK-Dokumentes über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen zu verstehen. Dieses Dokument setzt sich nicht die Aufgabe, eine „Rechtstheologie" oder eine „orthodoxe Rechtsphilosophie" zu erarbeiten (was als Entwicklung der orthodoxen Sozialdoktrin anscheinend noch bevorsteht). Der Standpunkt, von dem das Dokument das moderne weltliche Konzept von „Menschenrechten" behandelt, ist im eigentlichen Sinne noch nicht einmal sittlich, sondern soteriologisch. Um die Sittlichkeit geht es in sofern, als das Leben eines Christen, dessen Ziel das ewige Heil in der Einigkeit und der Gemeinschaft mit Gott ist, in sittlichen Kategorien beschrieben werden kann und muss (was in religiöser Sprache den Vorstellungen von Sünde und Tugend entspricht). Vom theologischen Standpunkt aus, ist die Lage eines Christen maximalistisch: das ist die Lage „zwischen" dem ihm bereits verliehenen und prinzipiell unveräußerlichen „Ebenbild Gottes" einerseits, und der spirituellen Aufgabe, die „Verähnlichung mit Gott, soweit es dem Menschen möglich ist", zu erreichen, andererseits.

Im Rahmen dieser religiösen christlichen Perspektive ist die Frage nach dem Verhältnis zum Recht nicht auf die Frage der einfachen Anerkennung des heutzutage existierenden weltlichen Rechts reduzierbar - auch nicht auf die Doktrin der „Menschenrechte"  (wie sie in der Position der GEKE ersehen werden kann). Für eine religiöse Sichtweise ist es nicht möglich, von den weltanschaulichen Grundlagen dieses weltlichen Rechtes abzusehen.

So steht in den GSD über die Menschenrechte im Rechtsystem folgendes geschrieben:

„Im Zuge der Säkularisierung wandelten sich die erhabenen Prinzipien der unveräußerlichen Menschenrechte zum Begriff der Rechte des Individuums außerhalb seiner Beziehung zu Gott. Hierbei entwickelte sich die Freiheit der Person zur Verteidigung des Eigenwillens fort (solange anderen Individuen kein Nachteil davon entsteht) sowie zur Forderung an den Staat nach der Sicherstellung eines gewissen materiellen Existenzminimums zugunsten der Person und der Familie. Im System des gegenwärtigen weltlichen, humanistischen Menschenrechtsverständnisses wird der Mensch nicht als Ebenbild Gottes, sondern als sich selbst genügendes und autarkes Subjekt aufgefaßt. Außerhalb Gottes existiert jedoch nur der gefallene Mensch, der dem von allen Christen erstrebten Vollkommenheitsideal, das in Christus erschien („Ecce homo!"), weit entfernt ist." (IV.7).

Zugleich besagt die WFRM:

„Vom Standpunkt der orthodoxen Kirche kann die politisch-rechtliche Einrichtung der Menschenrechte den guten Zielen des Schutzes der menschlichen Würde dienen und zur geistig-sittlichen Entwicklung der Person beitragen. Dabei darf die Verwirklichung (Kursiv von uns - H.Ph.) der Menschenrechte nicht zu den von Gott gesetzten sittlichen Normen und zu dem darauf beruhenden traditionsbezogenen Ethos in Widerspruch treten." (III.5).

Im Rückblick auf das oben Gesagte ist folgende in der „Antwort" enthaltene Schlussfolgerung als inkorrekt anzusehen:

„Der Text [der WFRM] setzt dabei ein Konfrontationsverhältnis zwischen Menschenrechten und christlicher Moral voraus, das in der These gipfelt, die Einhaltung der Menschenrechte würde Christen dazu zwingen, „entgegen" (Präambel; Abs. I.4.) der göttlichen Gebote zu denken und zu handeln. Dieser Grunddissens zieht sich durch den gesamten Text".

Diese Interpretation ist vor allem darum inkorrekt, weil ein Konfrontationsverhältnis zwischen „Menschenrechten" (als Element des Rechtes generell) und „christlicher Moral" prinzipiell unmöglich ist, wenn die oben zitiere These, „das Recht ist ein eigenständiger Bereich, der sich von dem ihm benachbarten Bereich der Ethik unterscheidet", berücksichtig wird (GSD, IV.2).

Die zweite Interpretation, die in dem oben erwähnten Zitat aus der „Antwort enthalten ist, ist ebenfalls faktisch inkorrekt. In der WFRM-Präambel ist von „den gesellschaftlichen und staatlichen Organen" die Rede, von denen die Christen „unter Berufung auf den Schutz der Menschenrechte, dazu gedrängt, zuweilen geradezu gezwungen werden können, im Gegensatz zu den göttlichen Geboten zu denken und zu handeln.". Und an einer anderen Stelle (I.4) geht es schon gar nicht mehr um Menschenrechte, sondern es heißt: „ein Leben nach dem Gesetz des Fleisches ist den göttlichen Geboten entgegengesetzt und entspricht nicht dem sittlichen Prinzip, das Gott in die menschliche Natur gelegt hat".

 

Abschnitt 3. Freiheit und Verantwortung

In diesem Abschnitt ist die Kritik am WFRM-Dokument in folgenden Sätzen enthalten:

„Die russisch-orthodoxe Kirche macht für solche gesellschaftlichen Entwicklungen [‚Abtreibung, Selbstmord, Unzucht, Perversion, Zerstörung der Familie und ein Kult der Brutalität und Gewalt' - WFRM, II.2]  die ‚Schwachheit der Institution der Menschenrechte (Abs. II,2) verantwortlich', die mit der Verteidigung der Freiheit dazu tendiert, die moralische Dimension des Lebens und die Befreiung von der Sünde zu ignorieren (‚sie tendiert immer mehr dazu, die moralische Dimension des Lebens und die Freiheit von der Sünde zu ignorieren' Abs. II.2.)".

„Für uns ist (...) nicht ersichtlich, warum ausgerechnet die Menschenrechte, die als ‚Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt' (Vgl. die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) geschaffen wurden, verantwortlich für die Förderung von Grausamkeit und Gewalt sein sollen."[6] .

Hier sehen wir wiederum, dass die Autoren der „Antwort" die Besonderheit der WFRM prägenden Vorgehensweise entweder nicht verstehen oder ignorieren.

In diesem Dokument der ROK wird das theologische Konzept von zwei Freiheiten geschildert, die in ihrer Einheit und Unterschiedlichkeit gesehen werden. Diese sind: die Freiheit der Wahl (autexousia) und die Freiheit von dem Bösen bzw. die Freiheit im Guten (eleutheria). Das christliche Verständnis der Freiheit ist unmöglich ohne die Erkenntnis des inneren Widerspruchs bzw. des Dramas, die ein Christ im Zusammenhang mit der ihm verliehenen Freiheit erlebt. Dies wurde eben so klar und aphoristisch vom Apostel Paulus formuliert: (Röm 7,15.17: Ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich ... Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde - so aus der WFRM zitiert). Möglicherweise erkennen gerade Christen diese Dialektik der Freiheit in der Praxis besser als Andere, da wir die Tiefe und die Kraft „der im Menschen wohnenden Sünde" kennen, von deren Macht wir nur durch die Wirkung der Gnade Gottes befreit werden können. Zugleich wissen Christen auch, dass sie die Verantwortung für eigene Sünden auf niemand anderen und nichts anderes schieben können, da Sünde sich immer in einem konkreten Menschen, in einer vor Gott verantwortlichen Person, und nicht in unpersönlichen Strukturen ereignet.

Dementsprechend kann auch nicht die Rede davon sein, dass Christen und die Kirche irgendwelche „Institutionen", darunter auch Rechtssätze, für sündhafte Taten und Sündenerscheinungen im individuellen und gesellschaftlichen Leben verantwortlich machen.

Im WFRM-Dokument geht es um etwas anderes - nämlich darum, worüber in der Präambel geschrieben steht: „In der heutigen Welt ist die Überzeugung weit verbreitet, die Einrichtung der Menschenrechte könne aus sich heraus auf optimale Weise die Entwicklung der menschlichen Person und der Gesellschaftsordnung fördern". Es geht also darum, dass eine gesellschaftliche und rechtliche Behauptung der Grundrechte und -freiheiten des Menschen aus sich heraus nicht nur ein Gut (genauer gesagt, eine Bedingung zur Verwirklichung des Guten) sei, sondern viele Gefahren in sich trage (wenn sie Bedingung zur Begehung des Bösen wird).

Es ist völlig logisch, dass sich hier die sittliche Frage stellt, denn die Einrichtung der Menschenrechte ist prinzipiell auf die legitime Sicherstellung nur einer Freiheit, nämlich der Freiheit der Wahl (einer sog. negativen Freiheit) ausgerichtet. Außerdem ist es eben eine Einrichtung der Menschenrechte, d.h. eine, die zu einem Bereich gehört, der sich vom sittlichen Bereich positiver Freiheit, positiver Zielsetzung und Notwendigkeit unterscheidet. Wird aber dieser letztere Bereich für die Gesellschaft und die Person als nicht weniger wichtig angesehen als der Bereich der rechtlichen Reglementierung bzw. wird er nicht als ein anderer bedeutender Bereich angesehen, der, wenn es um das Gut des Menschen und der Gesellschaft geht, nicht weniger Aufmerksamkeit verdient, dann zeigt die „Einrichtung der Menschenrechte" unvermeidlich ihre Schwäche, ihre Einseitigkeit und Voreingenommenheit.

Nur davon ist in der WFRM die Rede: „Die gesellschaftliche Ordnung muß auf beide Freiheiten ausgerichtet sein und deren Verwirklichung im öffentlichen Bereich miteinander in Einklang bringen. Man darf nicht die eine Freiheit verteidigen und die andere vergessen" (II.2).

In der „Antwort" lesen wir auch:

„Die evangelischen Kirchen sehen die Menschenrechte deshalb nicht als Bedrohung der Moral, sondern als Fundamente für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben in Freiheit in einer pluralistischen Gesellschaft. Solche für alle geltenden Regelungen zugunsten partikularer Interessen einzuschränken, widerspricht dem gemeinsamen Anliegen der Kirchen, die Verantwortung aller für die Gemeinschaft, die Liebe zum Nächsten und die Achtung vor Andersdenkenden und ihren Überzeugungen zu stärken".

Als Antwort darauf sollte aufgrund der von Gott offenbarten biblischen Lehre klar gesagt werden, dass unsere Kirche solche Erscheinungen, wie beispielsweise Abtreibung, Selbstmord oder homosexuelle Ehe nicht als „partikulare Interessen" betrachten kann. Sonst hätte sie ihr christliches Bekenntnis nicht nur verraten, sondern auch auf ihre Teilnahme am „gemeinsamen Anliegen der Kirchen, die Verantwortung aller für die Gemeinschaft (...) zu stärken", verzichtet.

Dabei akzeptieren wir, dass einige protestantische Kirchen bzw. ihre ökumenischen Verbände auch andere Ansichten darüber haben können. 

 

Abschnitt 4. Menschenrechte und das Verhältnis zum Staat 

In diesem Abschnitt nehmen die Autoren, ausgehend von ihrer Analyse der WFRM, an, dass in ihr die „Harmonie zwischen Staat und Kirche" postuliert werde, was die „Frage nach einer kritischen Gegenüberstellung der Kirche zur staatlichen Ordnung" aufwirft.

„"Die zugrunde gelegte Harmonie zwischen Staat und Kirche führt zu der Frage nach einer kritischen Gegenüberstellung der Kirche zur staatlichen Ordnung. Wo erscheint in diesem Zusammenhang das prophetische Amt der Kirche gegenüber der weltlichen Ordnung, das in Apg 5,29 angelegt ist und in der Theologie der Alten Kirche breit ausgeführt wird?"

Um zu demonstrieren, wie wenig die von den Autoren der „Antwort" vorgebrachte „Annahme" mit der wirklichen Position unserer Kirche übereinstimmt, wenden wir uns dem GSD-Dokument zu und nehmen - wegen der Wichtigkeit der Frage -  folgendes ausführliches Zitat in Anspruch.

 „In den Beziehungen zwischen Kirche und Staat muß ihre wesensmäßige Verschiedenheit beachtet werden. Die Kirche ist unmittelbar durch Gott Selbst - unseren Herrn Jesus Christus - gegründet, während die Errichtung der Staatsgewalt durch Gott im Laufe eines historischen Prozesses mittelbar erfolgt ist. Das Ziel der Kirche ist das ewige Heil der Menschen, das Ziel des Staates besteht in deren irdischem Wohlergehen.

(...) dürfen die Christen die Staatsgewalt jedoch nicht verabsolutieren und die Grenzen ihres rein irdischen, zeitlichen und vergänglichen Sinns ignorieren, der durch das Vorhandensein der Sünde in der Welt und die Notwendigkeit, ihr Einhalt zu gebieten, bedingt ist. (III.3).

Die Kirche verkündigt unfehlbar die Wahrheit Christi und lehrt die Menschen moralische Gebote, deren Quelle Gott Selbst ist und die es ihr nicht erlauben, Änderungen in ihrer Lehre vorzunehmen. Ebenfalls ist es ihr nicht erlaubt, die Wahrheit zu verschweigen und deren Verkündigung Abbruch zu tun, welche anderen Lehren auch immer von den staatlichen Institutionen vorgeschrieben und verbreitet werden mögen. In dieser Hinsicht genießt die Kirche volle Freiheit gegenüber dem Staat.

Die Kirche wahrt Loyalität gegenüber dem Staat, jedoch steht über dieser Loyalitätspflicht das Göttliche Gebot der unbedingten Erfüllung des Heilsauftrags unter allen Bedingungen und unter allen Umständen.

Wenn die staatliche Macht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und Seiner Kirche sowie zu sündhaften, der Seele abträglichen Taten nötigt, so ist die Kirche gehalten, dem Staat den Gehorsam zu verweigern (III.5).

Der Staat, einschließlich des säkularen, ist sich in der Regel seiner Berufung bewußt, das Leben des Volkes auf den Grundsätzen des Guten und der Gerechtigkeit zu ordnen und für die materielle und geistige Wohlfahrt der Gesellschaft Sorge zu tragen. Aus diesem Grund kann die Kirche in Fragen, die das Wohl der Kirche selbst, ebenso wie das der Person und der Gesellschaft betreffen, mit dem Staat kooperieren. Aus Sicht der Kirche sollte eine solche Zusammenarbeit in ihrem Heilsauftrag enthalten sein, umfaßt doch dieser die allseitige Sorge für den Menschen. Die Kirche ist gefordert, sich an der Ordnung des menschlichen Lebens in allen Bereichen zu beteiligen, in denen das möglich ist, und ihre entsprechenden Bemühungen mit denen der Vertreter der Staatsgewalt in Einklang zu bringen» (III.8).

Wie wir sehen können, kann in Bezug auf die Position der Russischen Orthodoxen Kirche weder von einer unbedingten Harmonie zwischen Kirche und Staat noch vom Fehlen einer kritischen Haltung der Kirche zur staatlichen Ordnung die Rede sein. Im Gegenteil stimmt die Position der ROK offensichtlich mit jener der GEKE überein, die in der „Antwort" wie folgt lautet: „Ausgehend von Röm. 13 differenzieren die civitates-Lehre von Augustinus und die Zwei-Regimenten-Lehre Luthers zwischen den Aufgaben von Kirche und Staat und ermöglichen zugleich die positive Verhältnisbestimmung, die das moderne Rechts- und Staatsverständnis vorbereitet hat".

Ein anderes von den Autoren der „Antwort in diesem Abschnitt erörtertes Thema lautet „Kirche und der Patriotismus". Im Dokument der GEKE ist ein Zitat aus der WFRM angeführt: „(...) führt die orthodoxe Tradition den Patriotismus auf das Wort des Erlösers Christus selbst zurück: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt (Joh 15,13)", das mit folgendem Kommentar einhergeht:

 „Indem das auf alle Menschen ausgerichtete Jesuswort aus Joh 15,13[7] nur (Kursiv von uns - H.Ph.) - auf die nationale Ebene bezogen wird, geht der universale Anspruch der christlichen Botschaft, die alle nationalen, ethnischen und kulturellen Grenzen überwindet, verloren."

Die vorgeschlagene Interpretation erscheint arg gewollt. Die traditionelle Fundierung des christlichen Patriotismus durch einen Verweis auf die Worte Jesu Christi, die im Evangelium nach dem Heiligen Apostel Johannes des Theologen angeführt sind, bedeutet keineswegs, dass der Sinn dieser Worte auf die genannten Interpretation eingeschränkt werden kann. Im Gegenteil - die nächsten Verse („Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was irgend ich euch gebiete; Joh. 15;13[8]) zeigen deutlich, dass in diesem Falle das Vorbild der Kreuzestod des Heilands selbst ist, der für alle gestorben ist (2. Kor. 5,15).

Für die Russische Kirche als einen untrennbaren Teil der Ökumenischen Orthodoxen Kirche ist die Universalität der christlichen Botschaft, „die alle nationalen, ethnischen und kulturellen Grenzen überwindet", nicht nur vom Standpunkte der theoretischen Theologie axiomatisch. Denn sogar innerhalb ihrer kanonischen Grenzen leistet unsere Kirche Vertretern vieler ethnischer Gemeinschaften, Nationen und lokalen Kulturen geistliche Fürsorge und bleibt dabei jedem Menschen gegenüber offen, unabhängig von dessen ethnokulturellen Zugehörigkeit.

Weiter unten im Text der „Antwort" lesen wir: „Diese Argumentation läuft Gefahr, dass die Legitimität des modernen Verfassungsstaates grundsätzlich infrage gestellt und staatliches Recht der Religion untergeordnet wird. Dies widerspricht nach unserer Überzeugung dem Wesen der Kirche".

Im Rahmen unserer Stellungnahme auf diese Besorgnis der Autoren der GEKE-Antwort beziehen wir uns wieder auf die Position der ROK, so wie sie in den GSD geäußert ist:

„Die Form und die Methoden der [staatlichen] Herrschaft sind in vieler Hinsicht durch den geistigen und sittlichen Zustand der Gesellschaft bedingt. Davon ausgehend anerkennt die Kirche die Wahl der Menschen oder erhebt zumindest keinen Einspruch gegen diese.

Eine Änderung der Herrschaftsform zugunsten einer tieferen religiösen Verwurzelung würde ohne die Vergeistigung der Gesellschaft unweigerlich in Betrug und Heuchelei ausarten, darüber hinaus zur Schwächung dieser Form sowie ihrer Herabwürdigung in den Augen der Menschen führen. Dennoch sollte die Möglichkeit einer solchen geistigen Wiedergeburt der Gesellschaft, infolge derer die religiös höhere Form des Staatsaufbaus als natürlich erachtet wird, nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.

Gleichzeitig soll die Kirche ihre Aufmerksamkeit nicht vornehmlich auf die äußerliche Organisation der Gesellschaft, sondern auf den Zustand der Herzen ihrer Mitglieder richten. Vor diesem Hintergrund erachtet die Kirche sich nicht als zuständig, Änderungen an der Herrschaftsform vorzunehmen; in gleicher Richtung ist das Bischöfliche Konzil der Russischen Orthodoxen Kirche von 1994 zu verstehen, das die gesunde kirchliche Position hervorhob, keinem bestimmten Staatsaufbau sowie keiner der bestehenden politischen Doktrinen Vorrang einzuräumen'". (III.7).

 

Abschnitt 5. Zu einzelnen Rechten

Dieser Abschnitt der Antwort ist dem vierten WFRM-Abschnitt  („Würde und Freiheit im System der Menschenrechte") gewidmet. Nach einer Erwähnung, es handele sich dabei um „einen weiten Bereich des Schutzes der menschlichen Würde und der menschlichen Rechte, die in allen Kirchen selbstverständlich sind[9]", betrachten die Autoren der Antwort kurz vier Fragen: Todesstrafe; Glaubens- und Gewissensfreiheit; Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst; zivile und politische Rechte.

Zur ersten Frage lesen wir in der WFRM folgendes:

„Wenn man zugibt, daß die Todesstrafe zur Zeit des Alten Testaments gebilligt wurde, und es ‚weder im Neuen Testament noch in der Überlieferung und im historischen Erbe der Orthodoxen Kirche' Hinweise auf die Notwendigkeit ihrer Abschaffung gibt, muß man auch bedenken, daß „die Kirche oft die Pflicht der Fürsprache für zum Tode Verurteilte auf sich genommen und für sie um Erbarmen und Strafmilderung gebeten hat' (Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche, IX.3). Die Kirche verteidigt das menschliche Leben und ist daher unabhängig von der Haltung der Gesellschaft zur Todesstrafe dazu berufen, diese Pflicht der Fürsprache auszuüben" (IV.2).

Darauf reagiert die „Antwort" wie folgt: „Beim Lebensrecht erscheint uns das indirekte Akzeptieren der Todesstrafe (...) nicht konsequent".

Es sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass die WFRM in diesem Falle eben die in den GSD bereits vorgegebene Position ohne jegliche Weiterentwicklung wiedergibt. Zur Begründung dieser Position wird das Argument ad traditionem benutzt, und zwar in seiner negativen Form: in der Überlieferung gebe es keine Hinweise auf die Notwendigkeit der Abschaffung. Dieses Argument kann Vertretern eines anderen Standpunktes schwach vorkommen; aber hier ist es, unserer Meinung nach, notwendig, eine anderer Logik hinsichtlich dieser Frage zu berücksichtigen, und zwar, dass es zur Zeit betreffs dieser Frage auch innerhalb der Russischen Kirche selbst keinen Konsens gibt. Darum erscheint dieses Argument angebracht zu sein, da es in möglichst allgemeiner Form den gegenwärtigen Zustand des kirchlichen Bewusstseins zum Ausdruck bringt.[10]

Zur Glaubens- und Gewissensfreiheit: Nicht ganz korrekt scheint die Interpretation der „Antwort", in der die WFRM indirekt dafür kritisiert wird, dass „die Errungenschaften der Glaubens- und Gewissensfreiheit (...)„dadurch relativiert werden, dass aus der kirchlichen Aufforderung, Zeugnis von der Wahrheit abzulegen und falsche Lehren zurückzuweisen, eine rechtliche Einschränkung der Gewissens- und Meinungsfreiheit abgeleitet wird"

Zu dieser Frage bewahrt die Position der ROK ebenfalls Kontinuität mit den GSD (was im Text der WFRM erwähnt ist). Dabei ist der wichtigste Gesichtspunkt dieser Position die Behauptung der Notwendigkeit, „dem Menschen einen Autonomiebereich zu bewahren, in welchem sein Gewissen ‚autokratischer' Herrscher ist, da Heil oder Untergang, der Weg zu Christus hin oder von Christus weg letzten Endes von der freien Willensäußerung abhängt" (GSD, IV, 6).

Diesbezüglich steht in den GSD auch:

„Gott hütet die Freiheit des Menschen, ohne jemals dessen Willen zu bedrängen. Im Gegensatz dazu strebt der Satan danach, vom Willen des Menschen Besitz zu ergreifen und ihn zu versklaven. Wenn sich das Recht nach der göttlichen Wahrheit richtet, die uns durch unseren Gott Jesus Christus offenbart wurde, so steht es auch auf der Seite der menschlichen Freiheit[11]. „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist auch Freiheit" (2 Kor 3.17); deshalb werden hier auch die unveräußerlichen Rechte der Person geschützt" (ibid.).

Kontextuell betont die WFRM die Aufforderung der Kirche, Zeugnis von der Wahrheit abzulegen, in Verbindung mit dem drängenden Problem christlicher Präsenz und Wirkung unter konkreten kulturellen und historischen Bedingungen, wenn „manchmal die Gewissensfreiheit als Forderung nach religiöser Neutralität oder Indifferenz von Staat und Gesellschaft behandelt" wird; und „gewisse ideologische Interpretationen der Religionsfreiheit bestehen darauf, alle Glaubensbekenntnisse als relativ oder ‚gleichermaßen wahr' anzuerkennen" (IV.3).

Zugleich wird im Dokument deutlich zum Ausdruck gebracht, dass „die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz unabhängig von ihrer Haltung zur Religion gewährleistet sein" muss (ibid.).

Betreffs ziviler und politischer Rechte bringen die Autoren der Antwort auf die ROK-Dokument folgende Erwägungen zum Ausdruck:

„Angesichts der Einschränkung der zivilen und politischen Rechte in Russland, aber auch in vielen anderen Staaten, vermissen wir in dieser Stellungnahme Aussagen zum Schutz des Einzelnen vor staatlichen Übergriffen wie politische Verfolgung, politische Morde, Diskriminierung von Minderheiten, Aushöhlung demokratischer Verfahren und Strukturen, soziale Ungerechtigkeiten, staatliche Bespitzelung oder den ungesetzlichen Umgang mit kritischen Personen und Gruppen. Aus evangelischer Sicht haben die Kirchen gerade in diesen Fragen eine wichtige Aufgabe, gegen den Missbrauch staatlicher Macht einzutreten. Dies ist eine zentrale Lehre, die die Kirchen aus der Auseinandersetzung mit totalitären Regimen gewonnen haben".

Unserer Meinung nach ist diese Aussage der protestantischen Kommentatoren des Dokuments der Russischen Orthodoxen Kirche durchaus charakteristisch und äußert, besser als alles andere, den Unterschied der Vorgehensweise in Sachen Menschenrechte. So wie die protestantische Vorgehensweise im Falle Menschenwürde einen unmittelbaren Übergang von einer theologischen Auslegung zu einer praktisch vorbehaltlosen Unterstützung des säkularen Konzepts der Menschenrechte impliziert, halten die protestantischen Kirchen es auch hier für ihre direkte Aufgabe, sich bezüglich der konkreten Formen von „staatlichen Übergriffen" auf die Rechte der Einzelnen zu äußern. Das erwarten sie auch von ihren orthodoxen Gesprächspartnern.

Derartige Erwartungen sind zumindest aus zwei Gründen unstatthaft:

Erstens ist die orthodoxe Vorgehensweise vor allem und vorwiegend theologisch und spirituell-moralisch. Im Mittelpunkt der orthodoxen Besorgtheit steht die Verklärung des Menschen bis hin zu seiner Vergöttlichung. Am wichtigsten ist die menschliche Persönlichkeit; „der Zustand des Herzens", sowie auch, als Folge, die Gemeinschaft der Christen bzw. die Kirche Christi in ihrer Existenz auf Erden. Gerade diese Vorgehensweise ist in den bereits verabschiedeten Dokumenten; also in den „Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche" und „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" umgesetzt. Dies ist der Blick aus der Kirche, wenn weltliche Erscheinungen (politische, gesellschaftliche, rechtliche usw.) im Lichte der Glaubenslehre und vom Standpunkt des kirchlichen Bewusstseins sowie auch aus dem Blickwinkel ihrer Beziehung mit dem Leben der Kirche interpretiert werden.

Auch wenn es Vertretern anderer (darunter auch der in der „Antwort" von der GEKE geäußerten) Positionen paradox vorkommen mag, war die Erfahrung einer „Auseinandersetzung mit totalitären Regimen" eben das, was unsere Kirche im vergangenen Jahrhundert angeregt hat, die Arbeit an der Formulierung der orthodoxen sozialen Doktrin zu beginnen, deren heutiges Ergebnis die zwei genannten Konzildokumente sind. In diesen Dokumenten zeigt sich das orthodoxe Verständnis der Kirche in der modernen Welt und unter den konkreten sozial-kulturellen Bedingungen ihrer jetzigen Existenz, sowie auch - was wichtig zu erwähnen ist - das Selbstverständnis unserer Kirche, die frei von jeglichen äußeren, überaus säkularen, darunter auch den Staat bedienenden, Ideen und Konzepten ist. Nach den Jahrzehnten der Einschränkungen und direkten Verfolgung musste die Kirche vor allem ihre Verhältnisse mit der Außenwelt in den theologischen und religiös-sittlichen Kategorien, im Lichte der Heiligen Schrift und der Heiligen Überlieferung überdenken. Dies ist eine der Bestätigungen der Auferstehung der Kirche, die innerhalb eines Jahrhunderts buchstäblich um ihr Überleben zu ringen hatte, und das unter den Bedingungen mehrerer, bis zur Gegensätzlichkeit unterschiedlicher politischer Regime.

Zweitens sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass die beiden betrachteten ROK-Dokumente als „Grundlagen" bezeichnet wurden. Es sind generell die ersten Versuche der Orthodoxen, im Genre der christlichen „Soziallehre" (die, zur Erinnerung, 2000 und 2008 veröffentlicht wurden). Und es geht nicht darum, dass sie nicht perfekt sind. Es geht darum, dass viele wichtige Themen darin erst angedeutet sind oder nur einen ersten Schliff bekommen haben. Uns steht noch viel Arbeit bevor, deren Ergebnis nicht nur von den Bemühungen des theologischen Verstandes, sondern auch von der Sammlung der gegenwärtigen Erfahrung des kirchlichen Lebens in der Epoche „nach dem Totalitarismus" abhängt. Denn rein theoretische Konstrukte haben keine besondere Bedeutung, wenn sie nicht das Konzilbewusstsein der Kirche ausdrücken. Eine ausführlichere Erarbeitung der orthodoxen Soziallehre, die, unter anderem, auch konkrete politische Probleme analysiert und bewertet, braucht Zeit.

Was den Schluss des Dokuments der GEKE betrifft, möchten wir einen Ausschnitt zitieren, der uns ein Hinweis auf die Möglichkeit der Fortsetzung des ökumenischen Dialogs zum betrachteten Thema zu sein scheint; dort heißt es, dass „die konkrete Gestalt der Menschenrechte diskutiert und weiterentwickelt werden muss. Die Charta der Grundrechte der europäischen Union, die im Jahr 2000 beschlossen wurde, ist ein gutes Beispiel hierfür, greift sie doch Fragen der Informations- und Biotechnologien auf, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte noch nicht im Blick sein konnten".

Tatsächlich ist eine der aussichtsreichen Richtungen eines solchen Dialogs die Besprechung konkreter, darunter auch sich ganz neu stellender Themen, die mit der Problematik der Menschenrechte verbunden sind. Gerade bei den Fragen nach Informations- und Biotechnologien kann der Beitrag der christlichen Kirche gewichtiger sein, als es den säkularen Teilnehmern diesbezüglicher Diskussion manchmal vorkommen mag. Und dieser Beitrag kann nicht nur gewichtig sein, sondern er sollte es auch sein.


[1] Zitiert nach http://www.leuenberg.net/9805-0-5. (Anm.d.Ü)

[2] Der englische Text wurde veröffentlicht auf http://www.leuenberg.eu/: Human Rights and Morality: A Response of the Community of Protestant Churches in Europe (CPCE) - Leuenberg Church Fellowship - to the Principles of the Russian Orthodox Church on "Human Dignity, Freedom and Rghts".

[3] Zitiert nach  der deutschen Fassung der Antwort auf http://www.leuenberg.net/daten/File/Upload/doc-9805-2.pdf. http://www.leuenberg.net/daten/File/Upload/doc-9805-2.pdf

[4] S. http://orthpedia.de/index.php/Grundlagen_der_Sozialdoktrin_der_ROK?db1120085-orthodoxleben_op__session=n6qahl64k rakuoqiccrdfm5672 (Anm.d.Ü)

[5] Die „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" sind nach http://www.bogoslov.ru/text/410686.html zitiert. (Anm.d.Ü.)

[6] Wir weisen beiläufig darauf hin, dass in diesem Falle ein einfacher Verweis auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" bei einer Diskussion über „Brutalität und Gewalt" kaum etwas hergibt. Dieses vor über einem halben Jahrhundert verabschiedete Dokument berücksichtigt nicht die Probleme, die im Bereich der Menschenrechte erst kürzlich entstanden sind, zum Beispiel das Problem der Abgrenzung zwischen freier Meinungsäußerung und Beleidigung der Gefühle von Gläubigen. Viele von denen, die beispielsweise die Befürworter der säkularistischen Weltanschauung zur Kritik der Religion verteidigen, fördern dadurch im Grunde genommen unverhohlen „Brutalität" in Bezug auf religiöse Menschen und ihre Ideale.

[7] Im GEKE-Text Joh 15,14, was evtl. ein Tippfehler ist. (Anm.d.Ü.)

[8] Zitiert nach der unrevidierten Elberfelder-Bibelübersetzung. (Anm.d.Ü.)

[9] In der Russischen Übersetzung: „Это широкая сфера защиты человеческого достоинства, которая принимается как сама собой разумеющаяся во всех Церквах". (s. http://www.bogoslov.ru/text/476497.html, Anm.d.Ü)

[10] Als Seine Heiligkeit Alexij der Zweite von Moskau und ganz Russland, Vorsteher der Russischen Orthodoxen Kirche (1929 - 2008), die Fragen der Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Strasbourg, 2. Oktober 2007) beantwortete, formulierte er seine Stellungnahme wie folgt: „Unsere Kirche ist immer für die Erhaltung des Lebens in allen ihrer Formen eingetreten, sei es das Leben eines Kindes im Leibe seiner Mutter oder das Leben eines zum Tode verurteilten Verbrechers".

[11] Im russischen Originaltext: „wacht die menschliche Freiheit" („стоит на страже человеческой свободы") (Anm.d.Ü.)

Quelle: Портал Богослов.Ru

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Russische Beiträge zur westlichen Menschenrechtsdebatte

4. Oktober 2009
Hallensleben, Barbara

Im Gegensatz zur kritischen Stellungnahme der GEKE plädiert die Autorin dafür, das Menschenrechtsdokument der Russischen Orthodoxen Kirche im Kontext der eigenen theologischen Tradition zu würdigen. Das Dokument knüpfe durchaus an die westliche Menschenrechtstradition an und lässt sich somit als konstruktiver Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um die Menschenrechte lesen. R. C.

Die entscheidenden Fragen, über die Christen und Kirchen in Europa heute Verständigung suchen, betreffen das Zeugnis des apostolischen Glaubens im Kontext der gegenwärtigen säkularen Gesellschaft im Horizont der Globalisierung; den Menschenrechten kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. In den letzten Jahren hat sich die Russische Orthodoxe Kirche vertieft mit diesen Fragen beschäftigt. Der ehemalige Leiter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchates und jetzige Patriarch Kirill beobachtet seit langem mit wacher Aufmerksamkeit die gesellschaftlich-politischen Entwicklungen und meldet sich engagiert und in der Bereitschaft zu argumentativer Auseinandersetzung zu Wort. Die wichtigsten seiner Beiträge wurden im Februar 2009 unter dem Titel „Freiheit und Verantwortung im Einklang. Zeugnisse für den Aufbruch zu einer neuen Weltgemeinschaft" vom Institut für Ökumenische Studien der Universität Fribourg Schweiz und dem Ostkirchlichen Institut Regensburg in deutscher Übersetzung publiziert.

Die Herausgeber vermissen in der Stellungnahme der GEKE zum Menschenrechtsdokument der Russischen Orthodoxen Kirche das Bemühen, deren Anliegen zu würdigen und aus ihrem eigenen Kontext heraus zu verstehen. Sie veröffentlichten einen Beitrag unter dem Titel „Zur Ambivalenz der Menschenrechte. Missverständnisse der ‚Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa‘".[1] Der Beitrag zieht die Aussagen von Patriarch Kirill sowie das Dokument „Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche" des Moskauer Bischofskonzils im Jahr 2000 als Interpretationshilfe heran und weist nach:

  • 1. Die Russische Orthodoxe Kirche bestreitet keineswegs die von der GEKE verteidigten Anliegen, insbesondere die Geltung der Menschenrechte unabhängig von moralischen Vorleistungen sowie die Anerkennung der säkularen Welt und der religiösen Pluralität der heutigen Gesellschaft.
  • 2. Die russische orthodoxe Position befindet sich in ihren zentralen Aussagen in Übereinstimmung mit der westlichen Menschenrechtstradition und leistet einen diskussionswürdigen Beitrag zu den aktuellen innerwestlichen Debatten.
  • 3. Im Mittelpunkt der Debatte stehen das Menschenbild und das Verhältnis von Kirche und politischem Gemeinwesen in der Bestimmung der Sozialgestalt der Menschheit.

1.      Gemeinsame Anliegen

Patriarch Kirill betont, dass die orthodoxe Tradition keine Berührungsängste gegenüber der säkularen Welt hat: „Ich bin überzeugt, dass viele religiöse Traditionen der Welt heute nicht in Zweifel ziehen, dass die Sprache der Menschenrechte eine weltliche Sprache bleiben soll. Zumindest die orthodoxe Tradition stellt das nicht in Frage. Jedoch hat die religiöse Weltanschauung wie jede andere durchaus ein Recht, auf das Korpus der Menschenrechte und deren Umsetzung einzuwirken".[2] Er ist überzeugt, dass „die Idee der Menschenrechte kein trennendes, sondern ein verbindendes Prinzip" für „den weiteren Dialog zwischen Kirche und säkularer Gesellschaft" darstellt.[3] Es geht dem Dokument des Moskauer Patriarchats nicht um einen „exklusiven theologischen Begründungsanspruch" der Menschenrechte, sondern darum, dass diese Rechte ihrer eigenen Definition nach unbedingt einer solchen Begründung bedürfen, die der Setzungshoheit des Staats voraus liegt und entzogen bleibt. Gerade indem die Kirche den für sie spezifischen Begründungshorizont in die Debatte einbringt, leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur Anerkennung der Menschenrechte in ihrer vorstaatlichen Qualität und damit einen Beitrag zur Freisetzung der Weltlichkeit der Welt. Wiederholt betont der Patriarch - wie auch das Dokument der russischen Kirche zu Würde, Freiheit und Rechten des Menschen - die unverlierbare Grundlage der Menschenrechte in der Gottebenbildlichkeit des Menschen als Geschöpf: „Tatsächlich glaubt der Christ, dass Gottes Ebenbild im Menschen unauslöschlich ist. Es kann verdunkelt werden, aber nicht verloren gehen. Daher hat jeder Mensch einen Wert, unabhängig von seinen Taten und vom Zustand seiner Seele".[4] „Ein sittlich unwürdiges Leben zerstört die von Gott verliehene Würde auf der ontologischen Ebene nicht, verdunkelt sie jedoch so sehr, dass sie kaum zu erkennen ist. Gerade deshalb braucht es eine große Willensanstrengung, um die natürliche Würde eines Schwerverbrechers oder Tyrannen zu erkennen oder gar anzuerkennen".[5]

2.      In Übereinstimmung mit der westlichen Menschenrechtstradition

Diese Position der russischen orthodoxen Kirche kann sich in mehrfacher Hinsicht auf die beste westliche Menschenrechtstradition berufen, die ihrerseits unverkennbar in christlichen Grundsätzen wurzelt. Mit einer Terminologie, die dem russischen orthodoxen Dokument sehr nahe steht, entfaltet Immanuel Kant - in dessen Wohnort Königsberg Patriarch Kirill lange als Bischof gewirkt hat - in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" die Bedingung der Menschenwürde: „Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat".[6] Die von Kant genannte Moralität ist die innere Bedingung der Möglichkeit unantastbarer, unveräußerlicher und unteilbarer Würde, nicht eine äußerlich auferlegte Bedingung aufgrund moralischer Bewährung. Die der Würde selbst innewohnende sittliche Qualität ist jedoch nur ernst genommen, wenn sie Eröffnung einer sittlichen Zukunft ist.

Die Würde des Menschen ist nach Kant mit dem „allgemeinen Reich der Zwecke" in der sittlichen konstituierten Gemeinschaft verbunden. Hingegen gerät durch den Trend, immer häufiger das Recht auf Nicht-Diskriminierung zum ausschlaggebenden Faktor in der Beurteilung einer Situation zu machen, die Gemeinschafts- und Gemeinwohlbindung der Menschenrechte aus dem Blickfeld. Patriarch Kyrill macht darauf aufmerksam, dass die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" von 1948 die Menschenrechte ausdrücklich in ihrer Hinordnung auf die öffentliche Ordnung betrachtet: „Jeder ist bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Einschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer zu sichern und den gerechten Anforderungen des Ethos, der öffentlichen Ordnung und des Allgemeinwohls in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen" (Art. 29, 2). Der Menschenrechtserklärung selbst liegt also „die Idee zugrunde, dass die Menschenrechte kein absoluter Maßstab sein können, sondern mit einer Reihe von Parametern übereinstimmen müssen".[7] Der Patriarch fordert dazu auf, innerhalb der Menschenrechtstradition zu dieser normativen Ausgangsformulierung zurückzukehren.[8]

Menschenrechtskataloge sind nicht eindeutig und in ständiger Entwicklung begriffen. Zu den anfänglichen Abwehrrechten gegenüber der staatlichen Gewalt traten Partizipations- und Anspruchsrechte, die dem sittlichen Würdewesen Mensch zur Entfaltung verhelfen sollen. In diesem Bereich beobachtet der Moskauer Patriarch eine folgenschwere Verlagerung: „In der historischen Entwicklung der westlichen Länder hat sich die Liste der Rechte und Freiheiten erweitert und immer wieder neue Bereiche des öffentlichen Lebens erobert. So sind politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte aufgetaucht. Dieser Prozess zeigt, dass die Grenzen der menschlichen Würde in der Geschichte immer wieder neu definiert werden. In den letzten Jahren haben sich besonders die Probleme im Verhältnis der Geschlechter, beim Status des menschlichen Lebens, in der Bioethik zugespitzt. Mit anderen Worten, eine neue Generation von Menschenrechten ist entstanden - Rechte, die davon abhängen, wie man den Menschen seiner Natur nach versteht".[9] Wenn das Menschenrechtssystem auf die Nicht-Diskriminierung jeder beliebigen Sicht individueller Selbstverwirklichung zurückgeführt und seinerseits zum Maßstab des sittlichen Handelns im öffentlichen Raum gemacht wird, dann ist es nicht nur äußerst konfliktträchtig, sondern selbstwidersprüchlich und zerstörerisch für das politische Gemeinwesen.

3.      Menschen- und Bürgerrechte

Die Frage nach dem Verhältnis der Menschenrechte zum Gemeinwohl wird in der GEKE-Antwort nicht gestellt. Die verschiedenen Formen der Gemeinschaft von der Familie bis zum Staat tauchen überwiegend als potentielle Bedrohung der Rechte des Einzelnen auf. Diese individualistische Sicht entspricht einer bestimmten Deutungsrichtung der Menschenrechte, die in der russischen orthodoxen Terminologie als „Liberalismus" bezeichnet wird, keineswegs aber der gesamten Menschenrechtstradition. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben bemüht sich in seinem groß angelegten Projekt politischer Philosophie unter dem Titel „Homo sacer" seit langem, die Ambivalenzen der westlichen Menschenrechtsdebatte aufzuzeigen.[10] Die Doppelung im Titel der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" durch die Französische Nationalversammlung 1789 erinnert daran, dass der Mensch erst als Bürger eines politischen Gemeinwesens seine volle Konstitution als Träger von Rechten und Pflichten findet. Menschenrechte ohne Bürgerrechte bleiben paradoxe Rechte eines rechtlosen Flüchtlings im Lager. Das Menschenbild und das Verständnis des menschlichen Gemeinwesens stehen daher in einer engen Wechselwirkung.

a.      Zum Menschenbild der Grundlagen

Die Russische Orthodoxe Kirche entfaltet ein dynamisches Menschenbild, in dem der Mensch nicht auf seinen Ist-Zustand festgelegt ist, sondern unter einer Verheißung steht. Der Ausgangspunkt findet sich im biblischen Text des Schöpfungsberichts: „Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis" (Gen 1,26). Die Kirchenväter knüpfen an diese Unterscheidung eine Theologie der freien Mitwirkung des Menschen an seiner Vollendung an: Während das Bild Gottes mit der Schöpfung gegeben und unverlierbar ist, muss die Ähnlichkeit mit Gott im Zusammenwirken mit der göttlichen Gnade errungen werden. Die orthodoxe Tradition nimmt die Glaubensaussage sehr ernst, dass der Mensch in einer Welt, die durch die Sünde ihrem göttlichen Ursprung und Ziel entfremdet ist, nicht durch jede beliebige Entscheidung das Bild Gottes in sich selbst verwirklichen kann. Er bedarf der Umkehr, der Erziehung, der Unterstützung durch öffentliche Strukturen, die ihm Freiheit garantieren und sinnvolle Entscheidungen ermöglichen.

Mit den Worten von Patriarch Kyrill: „Eine Besonderheit der menschlichen Natur ist nach allgemeiner christlicher Auffassung das Bild und Gleichnis, das Gott bei der Schöpfung in sie hineingelegt hat und das unabdingbar zu ihr gehört. Meistens wird zwischen diesen beiden Worten der Heiligen Schrift - Bild und Gleichnis - nicht unterschieden, weil sie angeblich ein und dasselbe bezeichnen. Doch der Gebrauch zweier Ausdrücke ist kein Zufall, denn hinter ihnen stehen zwei unterschiedliche Aspekte der Teilhabe der menschlichen Natur am Leben der Gottheit. [...] Obwohl das moderne politische und rechtliche System aller zivilisierten Länder so beschaffen ist, dass es vom Wert des Menschen ausgeht, beachtet es nicht den dynamischen Charakter der menschlichen Person. Staat und Gesellschaft werden meistens aufgerufen, den Menschen so zu verteidigen, wie er ist. Natürlich ist nichts Schlechtes daran, wenn der Mensch unabhängig von Religion, Nationalität, Geschlecht und Alter akzeptiert und verteidigt wird. Staat und Gesellschaft legen jedoch immer häufiger den Auftrag nieder, der geistigen Entwicklung des Menschen irgendein noch so elementares sittliches Ziel zu setzen. Diese Lage der Dinge wird mit dem Schutz der Wahlfreiheit des Menschen gerechtfertigt und mit dem Wunsch, ihn nicht zu etwas zu zwingen. Meines Erachtens entspricht ein solcher Kurs von Staat und Gesellschaft, der sich der sittlichen und geistigen Erziehung des Menschen entzieht, nicht dem naturgegebenen Bedürfnis eines jeden Menschen, und das bedeutet: die beklagenswerten Folgen sind absehbar. Die öffentliche Ordnung muss das Streben des Menschen nach Vervollkommnung berücksichtigen und stärken, sonst verfällt sie und bricht zusammen".[11]

Die Betonung der „entstellten Natur des Menschen"[12] durch den Patriarchen entspricht einem ureigenen reformatorischen Anliegen. Die russische Erklärung durchdenkt das „sola gratia", das in evangelischer Sicht dem Menschen im Bereich seines Heils zugesprochen ist, in seinen Konsequenzen für das moralische wie das politische Handeln. Das dynamische Menschenbild der russischen Erklärung eröffnet auf christologischer Grundlage eine Hoffnungsperspektive: Die Sünde gehört nicht zur menschlichen Natur!: „Die Annahme der der menschlichen Natur mit Ausnahme der Sünde| durch den Herrn Jesus Christus (Hebr. 4,15) zeigt, dass die Würde sich nicht erstreckt auf die Entstellungen, die in dieser Natur infolge des Sündenfalls entstanden sind".[13]

Eine orthodox-protestantische Einigung über diese Aussagen wurde im gemeinsamen Kommuniqué der Begegnung von Experten der Russischen Orthodoxen Kirche und der Kommission „Kirche und Gesellschaft" der Konferenz Europäischer Kirchen erzielt und wie folgt formuliert: „Als christliche Kirchen glauben wir, dass jeder Mensch nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist (Gen 1,26). Jeder Mensch besitzt daher einen von Gott gegebenen unverlierbaren Wert, der vor jeglichem Angriff geschützt werden muss. Wir sind jedoch überzeugt, dass die Menschenrechte kein Selbstzweck sind. Sie sind ein Instrument zum Schutz des Raumes, in dem jeder Mensch einzeln und gemeinsam mit anderen das Leben in Fülle (Joh 10,10) führen kann, in dem alle Menschen geistlich wachsen und ihre sittlichen Werte ausgestalten können. Daher sind wir als Kirchen gegen jegliche Instrumentalisierung der Menschenrechte zu politischen oder kommerziellen Zwecken. Wir betonen die Unteilbarkeit der Menschenrechte, die Wichtigkeit der zivilen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte. Als Vertreter europäischer Kirchen betonen wir die Wechselbeziehung der Rechte und Freiheiten mit der sozialen und sittlichen Verantwortung als zwei Seiten derselben Medaille".[14]

b.      Der Auftrag des politischen Gemeinwesens

Der russischen Menschenrechtserklärung ist bewusst, dass sich erlöstes Leben nicht über eine Rechtsordnung durchsetzen lässt: „Keinerlei menschliche Bestimmungen, einschließlich der Formen und Mechanismen der gesellschaftspolitischen Ordnung, können aus sich heraus das Leben der Menschen sittlicher und vollkommener machen, das Böse und das Leid ausrotten" (III.2). Juridisch gesicherte Freiheitsrechte bleiben leer, wenn ihnen nicht eine Kultur der Freiheit entspricht, in der die anerkannte Würde sich auch real als lebbar erweist. Die Moskauer Menschenrechtserklärung versteht in der guten Tradition des abendländischen politischen Denkens den Menschen als animal sociale, nicht als selbstbezügliches Individuum, sondern als Person, die ihre Identität nur in Gemeinschaft voll entfalten kann. „Moralität" wird in dem russischen Text nicht verstanden als ein abstrakter Normenkatalog, sondern als „Ethos": als eine plausible und durch das politische Gemeinwesen aktiv gepflegte Lebensform unter ganz konkreten sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen, die das gelingende Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft optimal fördert und eine dynamische Entfaltung der Personwürde begünstigt. Mit Recht und in Übereinstimmung mit Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", warnt Patriarch Kirill: „Die Einsicht, was gut und was schlecht ist, entwickelt sich nicht von selbst. Die optimistische Ansicht von der Natur des Menschen bei Rousseau hat sich schon seit langem als utopisch erwiesen. Nach meiner festen Überzeugung muss das Freiheitsprinzip, das heute durch die Festlegung der Menschenrechte verteidigt wird, mit Ethos und Glaube in Übereinstimmung gebracht werden. Diese Übereinstimmung muss sich in der heutigen Gesellschaftsordnung widerspiegeln. Andernfalls wird ein Gesellschaftssystem, das ausschließlich auf den Menschenrechten errichtet ist, sich als zerbrechlich erweisen und sich selbst zerstören".[15]

Die „Trennung" von Kirche und Staat besagt gerade nicht, dass die Mächte dieser Welt „nicht zu retten" und heilsgeschichtlich irrelevant sind. Die Kirche bezeugt für den Staat, dass diese Welt der Rettung bedarf, aber auch der Rettung fähig ist, capax Dei. Die Verheißung der Christen ist nicht das individuelle Seelenheil, sondern die Teilhabe an der Herrschaft Christi über das All im neuen Jerusalem. Das politische Projekt der Menschheit findet dort sein Ende, aber zugleich seine Vollendung. Von Anfang an hat sich die christliche Glaubensgemeinschaft als Verheißungsträgerin für die Menschheit verstanden. Die Zweischwerter-Lehre Papst Gelasius' I. mit ihrer Unterscheidung zwischen kirchlicher auctoritas und weltlicher potestas wie auch die symphonia zwischen kirchlicher und weltlicher Macht in Byzanz gehen davon aus, dass die politische Gewalt im Heilsplan Gottes ihren eigenständigen Platz hat. Der Titel „Stellvertreter Christi" war im Westen bis zu Petrus Damiani[16] ebenso wie im Osten dem Kaiser vorbehalten, denn Christus gebührt alle Macht „im Himmel und auf Erden" (Mt 28,18). Die russische orthodoxe Kirche erinnert mit ihren jüngsten Stellungnahmen an den inspirierenden Reichtum einer größeren gemeinsamen christlichen Tradition, die bislang für die Gegenwart nicht konstruktiv fortgeschrieben ist.

Der „Schutz des Einzelnen vor staatlichen Übergriffen" und totalitärem Machtmissbrauch ist ein wichtiges Anliegen. Das Dokument „Grundlagen der Sozialkonzeption der russischen orthodoxen Kirche", das vom Bischofskonzil im Jahr 2000 verabschiedet wurde, proklamiert für diesen Fall ein klares Widerstandsrecht, ja eine Widerstandspflicht.[17] Es handelt sich jedoch um einen Grenzfall innerhalb einer positiven Sicht des politischen Gemeinwesens im Heilsplan Gottes: „Die Heilige Schrift ruft die Machthabenden auf, die staatliche Gewalt zur Abwehr des Bösen und zur Unterstützung des Guten zu gebrauchen, worin der moralische Sinn des Existenz des Staates gesehen wird (Röm 13,3-4)".[18] Der Schutz vor der Verabsolutierung des Staates ist am besten gewährleistet, wenn das politische Gemeinwesen ermutigt und befähigt wird, bei Anerkennung der eigenen Grenzen seine Aufgabe unter den Bedingungen der Endlichkeit und der Sündhaftigkeit des Menschen wahrzunehmen.

Ähnlich argumentiert das II. Vatikanische Konzil: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom. Beide aber dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen. Diesen Dienst können beide zum Wohl aller um so wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen; dabei sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen. Der Mensch ist ja nicht auf die zeitliche Ordnung beschränkt, sondern inmitten der menschlichen Geschichte vollzieht er ungeschmälert seine ewige Berufung" (Gaudium et Spes 76).

Erstveröffentlichung: G2W 37 (2009), Heft 10, 25-27

[1] Veröffentlicht in: Schweizerische Kirchenzeitung 177 (2009), Heft 29-30, 16. Juli 2009, 497-502; der vollständige Text ist abrufbar auf der Homepage des Instituts für Ökumenische Studien der Universität Freiburg: www.unifr.ch/iso
[2] Patriarch Kyrill, Freiheit und Verantwortung im Einklang, 131.
[3] Ebd. 128.
[4] Patriarch Kyrill, Freiheit und Verantwortung im Einklang, 124.
[5] Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen I.4.
[6] Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt: Übergang von der populären Moralphilosophie zur Metaphysik der Sitten.
[7] Patriarch Kyrill, Freiheit und Verantwortung im Einklang, 134.
[8] Vgl. ebd. 137: „Die Orthodoxe Kirche schlägt heute vor, zu dem Verständnis der Menschenrechte im gesellschaftlichen Leben zurückzukehren, das 1948 grundgelegt wurde".
[9] Ebd. 90.
[10] Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, (Turin 1995) Frankfurt 2002; ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, (Turin 1996), Zürich-Berlin 22006. ders., Ausnahmezustand, (Turin 2002) Frankfurt 2003; ders., Was von Auschwitz bleibt, (Turin 1998) Frankfurt 2003.
[11] Patriarch Kyrill, Freiheit und Verantwortung im Einklang, 134.
[12] Ebd. 131.
[13] Abschnitt I.1 des Dokuments.
[14] Abgedruckt in: Patriarch Kyrill, Freiheit und Verantwortung im Einklang, 171-173; hier: 172.
[15] Patriarch Kyrill, Freiheit und Verantwortung im Einklang, 119
[16] Brief an Viktor II. 1057; vgl. Agostino Paravicini Bagliani, Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit, München 1997, 68.
[17] Die Grundlagen der Sozialdoktrin, a.a.O., III.5.
[18] Ebd. III.2.

Quelle: Портал Богослов.Ru

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Triumph der Orthodoxie

10. März 2009
Shlenov, Dionisy, Hegumen

Im Artikel des Dozenten der Moskauer Geistlichen Akademie, Igumen Dionisij (Schlenow), wird der historische Hintergrund und der ideelle Gehalt dieses Festtags detailliert dargelegt.

Heute feiert die Orthodoxe Kirche den Triumph der Orthodoxie. Im Synodikon der Orthodoxie, das während einer besonderen Gottesdienstordnung verlesen wird, werden Anathemata für die Häretiker sowie Akklamationen für die Verteidiger der Orthodoxie verkündet. Die Geschichte des Synodikons ist teilweise bekannt, auch wenn seine Rezeption in den orthodoxen Ländern vor und nach dem Fall von Byzanz einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Die gottesdienstliche „Ordnung der Orthodoxie" wurde im Jahre 843 bestimmt - als schließlich, nach mehr als ein Jahrhundert währenden theologischen Konfrontationen und heftiger Kämpfe, die Ikonenverehrung über den Ikonoklasmus triumphierte[1].

Die gottesdienstliche Ordnung des Triumphs der Orthodoxie wurde also von den Ikonenverehrern zusammengestellt, welche ihn - im Speziellen - als Sieg der ikonographischen Abbildungen, aber - im Allgemeinen - auch als Sieg der Orthodoxie über die Nicht-Orthodoxie und Heterodoxie verstanden. In seinem ursprünglichen Ansinnen handelte es sich vor allem um den Triumph der Ikonenverehrung, allerdings nicht der Ikonenverehrung als solcher, sondern dieser als logischen Abschluss und Krönung des kirchlichen Glaubensbekenntnisses. Ein Beispiel für ein solches Bekenntnis hinterließ uns eine Figur vom Beginn der zweiten Periode des Ikonoklasmus, der hl. Nikephoros von Konstantinopel, welcher nach der Darlegung der triadologischen und christologischen Dogmen meisterhaften Gebrauch von Kategorien wie der Unbeschreiblichkeit und der Beschreiblichkeit macht, um die Realität der Inkarnation Christi zu beweisen[2]. Alle erinnerten sich darüber hinaus an den zelotischen Eifer eines der herausragendsten Verteidigers der heiligen Ikonen, des hl. Theodor Studites, welcher schrieb, dass „das Bekenntnis Christi die Verteidigung Seines heiligen Bildes" sei[3] und dass „die Ikone Christi Christus sei, ähnlich wie das Bild des Kreuzes - das Kreuz"[4].

Der Triumph der Orthodoxie ist der große Triumph der kleinen, verfolgten Herde, der Triumph der verfolgten Mönche, ein Triumph der Kirche, die sich mit Märtyrern und Bekennern füllte. Letztere wurden geradezu als erste verfolgt, und das nicht etwa von den Heiden, nicht von den Förderern der alten Häresien, sondern von jenen, die sich selbst für die Bewahrer des christlichen Glaubens und für Kämpfer gegen den Götzendienst hielten. Der Sieg war umso größer und glorreicher, je stärker und unvermittelter vorher die Verfolgung entfesselt wurde.

Obwohl die heutigen Historiker in den Erzählungen des Mönchs Theophanes und seines Nachfolgers, sowie des Mönchs Georgios, aber auch in den Viten der Ikonodulen Elemente eines nicht unbefangenen Verhältnisses zum Ikonoklasmus und zu dessen Vertretern zu finden suchen und tatsächlich auch finden, kann doch der eigentliche Kern der Berichte kaum bezweifelt werden. Aufgrund des Fehlens von explizit ikonoklastischen Quellen, welche nach in der damaligen Zeit geltender ungeschriebener Tradition größtenteils vernichtet worden sind, bleibt uns nur, das Mosaik der Geschehnisse (ohne den Anspruch, neue wissenschaftliche Interpretationen dafür liefern zu wollen) auf Grundlage einiger verfügbarer Daten zu rekonstruieren.

Die eigentlichen herausragenden Gestalten des Triumphs der Orthodoxie sind die hl. Kaiserin Theodora und der hl. Methodios von Konstantinopel. Die wesentlichen Gegner - der abgesetzte Patriarch Johannes Grammatikos und seine zahlreiche Gefolgschaft. In verschiedenen Erzählungen ist die Rede davon, wie die hl. Theodora einerseits den Gedanken eines ihr nahestehenden Beamten aufgreift[5], andererseits nach Gesprächen mit ikonodulischen Mönchen beschließt, die heiligen Ikonen wieder einzusetzen. Der Wiederherstellung der Ikonenverehrung geht die bekannte Geschichte von der Vergebung des Kaisers Theophilos voraus. Die verwitwete Kaiserin tritt in einen eigenartigen Wortstreit mit Vertretern der Ikonenverehrung ein, welche von ihr zur posthumen Vergebung bzw. der Anerkennung der kurz vor dem Tode erfolgten Reue ihres verstorbenen Gemahls Theophilos, des letzten Ikonoklasten-Kaisers, aufgerufen werden. Nach den Worten der Theodora sei die Vergebung des Theophilos Voraussetzung für das Wiedererrichten der Ikonenverehrung, und sie würde, im Falle der Unmöglichkeit einer Vergebung posthum, von seiner noch vor dem Tod erfolgten Reue Zeugnis ablegen.

So oder so findet der Triumph der Orthodoxie am Tage nach der posthumen Vergebung des Theophilos statt, welcher im Alter von nur 29 Jahren verstarb, und das, wie es heißt, aus tiefer Gram über seine Heimatstadt Amorion, die im Jahre 838 von den Arabern verwüstet wurde. Nach dem Tod des Theophilos, welcher das Ende des sogenannten zweiten Ikonoklasmus markiert, wurde die Ikonenverehrung mit weitaus geringeren Anstrengungen wiederhergestellt als nach dem ersten Ikonoklasmus - ohne große Vorbereitung und ohne die Einberufung eines Ökumenischen Konzils.

 

1. Die Reue des Theophilos

Über die Reue und Vergebung des Theophilos gibt es eine Menge an Literatur. Die zeitgenössischen Historiker, wie z.B. D. E. Afinogenow, neigen dazu, die erfolgte Vergebung als Kalkül der Kaiserin zu betrachten[6]. Unter den historischen Quellen jener Epoche gibt es solche, die dieses Ereignis gänzlich verschweigen (wie zum Beispiel beim Mönch Georgios), in anderen wird die Reue vor dem Tod und die posthume Vergebung bestätigt (Nachfolger des Theophanes, Vita der Kaiserin Theodora, „Erzählung von der Vergebung des Theophilos"). Während der Nachfolger des Theophanes von der Reue als Faktum berichtet, indem er sich an die Darlegung der Theodora hält, beschreiben die „Vita" und die „Erzählung" die Reue des Theophilos im Genre einer Hagiographie, in welchem auch an der Realität von Wundern und wundersamen Erscheinungen kein Zweifel gelassen wird.

Nach Aussage des Nachfolgers des Theophanes antwortet der hl. Methodios auf das Vergebungsgesuch der hl. Theodora für den verstorbenen Theophilos: „Wir werden uns jedoch nicht an jenem vergreifen, was höher ist als wir, denn wir sind nicht mit Gewalt ausgestattet wie Gott, einem ins Jenseits Verschiedenen zu vergeben. Uns sind von Gott die Schlüssel des Himmels anvertraut, und wir haben die Gewalt, sie jedem zu öffnen, allerdings nur dem, der in diesem Leben lebt und noch nicht ins jenseitige gewechselt ist"[7]. „Die Herrin aber, ob sie's gerechterweise tat, oder aus brennender Liebe zu ihrem Mann (womit auch wir einverstanden sind), schwor der heiligen Versammlung, dass ‚ich in seiner letzten Stunde weinte, schluchzte, mich bei ihm völlig ausgeweint und dargelegt habe, was uns, die Verhassten, für diese Häresie in dieser Stadt erwartet: Verbot des Gebets, Verfluchung der Stadt, Aufstände im Volk - und da ergriff ihn die Reue über diese Häresie. Er fragte nach ihnen, ich reichte sie ihm, er küsste sie innig und übergab seine Seele den Engeln.‘ Sie hörten ihre Rede, und, indem sie das Gemüt der Augusta achteten (und sie war wie kaum eine andere Christusliebend), aber auch, weil es sie danach verlangte, die Verehrung der heiligen Ikonen einzuführen, gaben sie einhellig und einstimmig bekannt, dass, wenn es sich denn so verhält, er bei Gott Vergebung finden würde, worüber sie der Herrin eine schriftliche Zusicherung gaben"[8].

Ein detaillierteres Bild wird in der „Erzählung von der Vergebung des Theophilos" und in der „Vita der Theodora" mit identischer Entwicklung der Ereignisse gezeichnet. In letzterer wird von einer schrecklichen prämortalen Krankheit berichtet, unter der Theophilos litt. Die dadurch beunruhigte Theodora sah während eines Schlummers die von Engeln umringte allheilige Gottesmutter mit dem Christkind, Welches das Kreuz trug. Die Engel schlugen und geißelten den Kaiser auf seinem Totenbett, und dieser sprach: „Wehe mir, dem Elenden, wegen der Ikonen werde ich geschlagen, wegen der Ikonen werde ich gegeißelt". Nach einer solchen Folter, welche die ganze Nacht anhielt, küsste der Kaiser eine Christus-Ikone auf einem Enkolpion, das ihm von Theoktistos, einem Würdenträger, gebracht wurde, und wurde gesund. So erfuhr er an eigenem Leibe den Nutzen und das Gute an der Ikonenverehrung[9]. Einige Tage später starb[10] der Kaiser am 20. Januar 842.

 

2. Die Absetzung des Patriarchen Johannes Grammatikos und die Einsetzung des hl. Methodios

Nach dem Tod des Theophilos, auf dessen Reue die hl. Theodora später  so fest bestanden hatte, traten die lang erwarteten Ereignisse recht schnell ein. Im Namen des minderjährigen Sohnes, Michael III, welcher damals zwischen 3 und 6 Jahre alt gewesen sein muss, ergriff Kaiserin Theodora die Macht, und sie war eine Ikonenverehrerin mit Leib und Seele. Zusammen mit Theodora wurden viele staatliche Belange, darunter auch die Frage nach den heiligen Ikonen, durch höchst einflussreiche Personen geklärt: zum Beispiel durch den Bruder der Theodora, Bardas, und den Logothetes tou dromou (d.h. den Minister der Verkehrswege) Theoktistes.

Die Kaiserin, welche durch die Mönche von der Notwendigkeit der  Wiederherstellung der Ikonenverehrung überzeugt war, ließ den ikonoklastischen Patriarchen Johannes Grammatikos durch Boten wissen, er möge entweder die Ikonenverehrung zulassen oder das Amt des Patriarchen niederlegen: „Wenn du mit ihnen einig und eins bist, so möge die Kirche Gottes die frühere Pracht wiederherstellen. Wenn du weiterhin zweifelst und keinen festen Entschluss fassen kannst, so verlasse den Thron und die Stadt, begib dich auf dein Gut und erwarte dort die heiligen Väter, welche bereit sind, die Angelegenheit sowohl zu besprechen, als auch dafür zu streiten, und dich zu überzeugen, wenn du schlecht von den Ikonen sprichst"[11]. Als Reaktion darauf, so derselbe Nachfolger des Theophanes, fügte sich Patriarch Johannes Grammatikos eine blutige Wunde zu, worin er auch überführt wurde, so dass man ihn in sein Gut schickte und unter Hausarrest stellte.

Zur Wiederherstellung der Ikonenverehrung wurde als Patriarch der berühmte Verteidiger der Ikonen, der Mönch Theodor eingesetzt, ein gebürtiger Sizilianer, der lange Zeit in Süditalien verbracht hat. Methodios war ein begnadeter Prediger, der seinerzeit, nachdem er die heiligen Ikonen verteidigte, dafür gegeißelt und im berüchtigten Gefängnis auf der Insel des hl. Andreas, einer der Prinzeninseln, eingekerkert wurde. Als höchst gebildeter Mönch beschäftigte er sich in Rom mit Abschriften der Werke des Areopagiten. Ein ganzer Korpus theologischer, kanonischer und hagiographischer Werke ist von Methodios erhalten. In der Vita des Methodios wird davon berichtet, dass er 7 Gebetsbücher („Psalter") schuf, jedes von welchen er im Verlauf einer Woche las, ohne Nahrung zu sich zu nehmen. In den Wochentagen der Fastenzeiten nahm er nicht einmal Wasser zu sich, sondern nur an Samstagen und Sonntagen[12]. Am 4. März 843 wurde er zum Bischof geweiht, am 11. März wurde er auf dem Patriarchenthron inthronisiert. „Eingesetzt aber wurde jener, der durch zahlreiche Mühen und Entbehrungen seine Tugend unangetastet bewahrte, der wegen seiner langen Einkerkerung in Fäulnis und Schmutz seine Haare verlor, von Gott und der Kaiserin aber das Steuer und die Macht in der Kirche empfing. Und das war der große Methodios - ein unbesiegbarer Eiferer für die Kirche"[13]. Theodora „setzt den heiligen Mönch Methodios ein und stellt das Patriarchenamt wieder her, und indem sie alle vertriebenen Mönche und Bischöfe wieder [mit der Kirche] vereinte, festigte sie den orthodoxen Glauben und befriedete die Kirche"[14].

Nach seiner Einsetzung als Patriarch richtete Methodios belehrende Worte und einen Aufruf zur Vergebung hinsichtlich seiner vormaligen Verfolger an seine Herde: „Wir, die wir den orthodoxen Glauben unbefleckt bewahrt haben, müssen, auch wenn wir viele Bestrafungen und Leid von den der Häresie anheimgefallenen zu erdulden hatten, immer das Wort des Herrn in Erinnerung behalten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie getan haben"[15]. Es kann sein, dass diese Worte von Methodios auf dem Konzil gesprochen wurden, das einige Tage nach seiner Einsetzung als Patriarch versammelt worden ist.

„Denn nach der Einberufung eines Konzils der heiligen und gott-tragenden Väter, welche die bösartigste Häresie der üblen und verruchten Ikonoklasten entlarvt haben und nachdem deren abscheuliche Faselei widerlegt war, erstrahlte das Wort der Orthodoxie wie aus den tiefen und unüberwindbaren Labyrinthen und düsteren Schluchten der verfluchten und höchst bösen Häresie"[16].

Inwieweit hat der hl. Methodios seinen Aufruf zur Vergebung in die Tat umgesetzt? Es gab die Meinung, der zufolge der ganze Klerus der Kirche von Konstantinopel fast sofort suspendiert worden sei. Da er aber ein weiser Hirte, ein Vertreter der aufgeklärten Partei und ideeller Vorgänger des hl. Photios des Großen[17] war, übte Methodios sicherlich nur dort Strenge, wo keine anderen Überzeugungsmethoden wirksam waren. So verjagte er jene Ikonoklasten, welche „seinen sanften Überzeugungsbemühungen, aber auch den Drohungen gegen den sündigen Theophilos nicht nachgaben"[18].

 

3. Triumph der Orthodoxie

Zu den Ereignissen, die mit dem Triumph der Orthodoxie zusammenhängen, ist die detaillierteste und dem beschriebenen Ereignissen am nächsten stehende Quelle die „Erzählung von der Übertragung der Reliquien des Patriarchen Nikephoros"[19]; diese im Jahre 847 verfasste Erzählung ist uns leider nicht zugänglich. Obwohl die erste Erwähnung des Triumphs der Orthodoxie aus dem Jahre 899 stammt[20], ist es unzweifelhaft, dass dieser Triumph seit 843 ein unabdingbarer Teil des Lebens in Byzanz geworden ist. Der März 843 ist der Monat der Einsetzung des Methodios und des Triumphs der Orthodoxie.

Wie oben schon angemerkt fand der Triumph der Orthodoxie am Tage nach der Vergebung des Kaisers Theophilos statt. Unabhängig von der Tiefe seiner Reue erhält der Kaiser posthum die Vergebung, welche damit dem folgenden Triumph vorangeht und in gewisser Weise auch bedingt. D. E. Afinogenow rekonstruiert die Ereignisse der ersten Woche folgendermaßen. Während der ersten Woche der Großen Fastenzeit, die im Jahre 843 in die zweite Hälfte des März fiel, finden im ganzen Volk Fürbitten um die Vergebung des Theophilos statt, bei denen alle herausragenden Streiter für die heiligen Ikonen beteiligt sind. „Und seit dieser Zeit sind Totengedenken in der großen Kirche Gottes in der ersten Woche der heiligen Quadrigesima festgesetzt"[21]. Am Samstag berichtet die Kaiserin dem Patriarchen von ihrer Traumvision, in welcher sie den Christus als den Schreckensmann sah, der ihren Mann richtete und ihm Gnade schenkte[22]. Auch der hl. Methodios sah einen Engel im Traum, der ihm sagte: „Siehe, erhört ist, oh Bischof, dein Gebet und der Kaiser Theophilos hat Vergebung erfahren - deswegen belästige Gott nicht mehr mit ihm". Der Traum des Patriarchen wurde dadurch bestätigt, dass in der Schriftrolle mit den Namen der Häretiker-Kaiser, welche von Methodios auf den Altar der Hagia Sophia niedergelegt wurde, der Name dieses Kaisers nicht gefunden wurde[23]. Am Sonntag fand als Zeichen des Dankes für die Vergebung des Kaisers eine feierliche Prozession durch die Straßen Konstantinopels statt, und die feierliche Wiederherstellung der heiligen Ikonen fand statt[24].

Der Nachfolger des Theophanes stellt fest, dass zum Triumph der Orthodoxie die Nachtwache in der Blachernenkirche, die Liturgie in der Hagia Sophia zelebriert wurde - in den beiden größten Heiligtümern von Byzanz. „Am ersten Sonntag der heiligen Fastenzeit führten [der heiligste Methodios] zusammen mit der Herrin selbst [Theodora] die nächtlichen Gesänge in der Kirche der allerheiligsten Gottesgebärerin in den Blachernen durch und begaben sich am Morgen mit Gebeten in die große Kirche des Wortes Gottes. Und die Kirche stellte ihre Pracht wieder her, denn die heiligen Sakramente wurden nun wieder makellos gewirkt. Und die Orthodoxe Kirche blühte auf und erneuerte sich wie der Adler..."[25].

Die Hagia Sophia war mit Betenden angefüllt, unter denen sich die unbeugsamen Mönche hervorhoben, die besonders schwere Verfolgung zu erleiden hatten, sowohl in der Zeit des ersten Ikonoklasmus, als auch nun, zur Zeit des zweiten. „Und an dem für ihre Versammlung bestimmten Tag, als die Kirche Gottes sich in ihre Pracht kleidete, kamen sie herab vom bekannten Berg, dem Olymp, vom Athos und vom Ida, sowie auch von den Hängen des Kyminos, predigten leuchtend den orthodoxen Glauben..."[26]. Ob die Mönche just an diesem Tag erschienen oder ein paar Tage später, ist nicht allzu wichtig.

In der Vita der hl. Kaiserin Theodora (welche später immer am Sonntag der Orthodoxie fürs ganze Volk verlesen wurde![27]) wird gesagt: „Und es begann die Zeit der vollkommenen Orthodoxie für alle, die am ersten Sonntag der heiligen Fastenzeit fromm die heiligen und ehrwürdigen Ikonen verehren. Die Gnade wahrer Gotteserkenntnis leuchtete in der ganzen Welt, und überall und an jedem Ort begann eine Zeit der Gerechtigkeit, des Friedens und der Wohlfahrt, und die Stille war für das Zukünftige sowie die Sorglosigkeit war für das Leben gefestigt von orthodoxen und großen Kaisern, ebenso von den heiligen und höchst seligen Vätern, Ioannikios und Arsakios, Isaias und Methodios, sowie von vielen anderen, welche damals mit diesem Ziel zusammenkamen"[28].

Doch wo fand der Sinn, der ideelle Gehalt des Triumphs der Orthodoxie Niederschlag? Das bekannteste dogmatische Werk des hl. Methodios, das „Synodikon der Orthodoxie", wurde nach der Annahme des griechischen Patrologen P. Christou erstmals am 2. März 844 verkündet. Es gab Mutmaßungen darüber, dass das Synodikon von Methodios als Homilie zur Inthronisation geschaffen wurde. Unter anderen, zu diesem Thema gehörenden Werken des hl. Methodios, gibt es noch den „kaiserlichen und patriarchalen Erlass über die Feier des Fests am Sonntag der Orthodoxie", welcher nicht überliefert ist, sowie die unveröffentlichten (?) Acta des Konzils von 843, sowie auch den Kanon des Sonntags der Orthodoxie, der unter dem Namen des Theodor Studites überliefert ist[29].

„Das ‚Synodikon der Orthodoxie‘ ... war eine Hymne, ein Glaubensbekenntnis, ein Aufruf zur Eintracht und Einigkeit, es war eine Warnung an jene, die falsch denken oder schreiben, und andererseits war es ein Segen und ein Ansporn für jene, die in der Wahrheit verblieben und den Schatz des christlichen Glaubens, der kirchlichen Denker und Ausleger der Heiligen Schrift bewahrten", schreibt der zeitgenössische griechische Historiker K. Souzis[30].

Mit der Zeit wurde das Synodikon mit Anathemata gegen neue Häretiker sowie mit Akklamationen auf neue Verteidiger der Orthodoxie erweitert. Eine der zahlreichen Varianten des orthodoxen Synodikons in einer schon recht späten Redaktion findet sich im griechischen und slawischen Triodion. Das alte Synodikon wurde von F. I. Uspenskij teilweise ins Russische übersetzt. Die beste und einzig kritische Ausgabe kommt von J. Gouillard (Paris 1967)[31]. Allerdings wollen wir unter bewusster Vernachlässigung aller mit dem Synodikon zusammenhängenden wissenschaftlichen Forschungen, sowohl der früheren als auch der künftigen, uns anhand eines Textes aus dem 11. Jahrhundert damit bekannt machen - und zwar anhand einer Homilie des Patriarchen Michael Keroularios.

Zu Beginn der Homilie werden die, welche für die Ikonenverehrung gelitten haben, gepriesen. „Gedenke, Herr, der Schmähungen Deiner Knechte". Der Autor berichtet davon, dass „kurze Zeit nach dem dreißigjährigen Geifer gegen die heiligen Ikonen"[32] es ihm gelang, diese wiederherzustellen. Es scheint, als sei der Autor dieses einleitenden Textes der hl. Methodios von Konstantinopel selbst. Die Ikonenverehrer müssen „nach dem Wandel durch die Wüste" das „geistige Jerusalem"[33] in Besitz nehmen. Weiter folgt die gottesdienstliche Ordnung des Sonntags der Orthodoxie:

„Denen, die Gott das Wort, im Leibe gekommen, mit Mündern, dem Herzen und dem Verstand bekennen, ewiges Andenken.

Denen, die verstehen, dass die eine Hypostase Christi in den Wesen verschieden ist, und in ihr das Geschaffene und Ungeschaffene, das Sichtbare und Unsichtbare, das Leidenschaftliche und Leidenschaftslose, das Beschreibliche und das Unbeschreibliche bekennen, dem göttlichen Wesen aber das Ungeschaffene und Ähnliche zuordnen, für die menschliche Natur aber das Andere und durch Worte und Bilder Beschreibliche bekennen, ewiges Andenken.

Denen, die glauben und predigen, das heißt, Worte in Schriften verkünden, Werke aber in Bildern, und beides nur zum Nutzen tun: sowohl die Verkündigung des Worts und die Darstellung von Bildern der Wahrheit, ewiges Andenken.

Denen, die durch das Wort ihre Münder geheiligt, sodann denen, die das Wort hören, kennen und verkündigen, dass durch die ehrwürdigen Bilder auf ähnliche Weise die Augen der sie Sehenden geheiligt werden, und dadurch der Verstand zur Gotterkenntnis emporgehoben wird, ebenso wie durch die göttlichen Kirchen und geheiligten Gefäße und andere heilige Gegenstände, ewiges Andenken. ..."

Weiter folgt in der Homilie des Michael Keroularios die Auflistung der Streiter für den Glauben:

„Für jene Boten der Frömmigkeit wollen wir brüderlich und in väterlicher Liebe zu Ehren der Frömmigkeit, für die sie gekämpft haben, lobsingen und sagen: Germanos, Tarasios, Nikephoros und Methodios, den wahrhaftigen Bischöfen Gottes und Verteidigern und Lehrern der Orthodoxie, ewiges Andenken.

Ignatios und Photios, den heiligsten orthodoxen und seligen Patriarchen, ewiges Andenken.
Stephanos, Antonios und Nikolaos, den heiligsten und orthodoxen Patriarchen, ewiges Andenken.

Alles, was gegen die heiligen Patriarchen Tarasios, Nikephoros und Methodios, Ignatios, Stephanos, Photios, Antonios und Nikolaos geschrieben oder gesagt wurde, sei Anathema.
Alles, was gegen die kirchliche Überlieferung und Lehre, und gegen die Versiegelung der heiligen und seligen Väter neu eingeführt, oder vollbracht wurde oder vollbracht werden soll, sei Anathema.

<...> Theodoros, dem höchst heiligen Igumen von Studion, ewiges Andenken.
<...> Theophanes, dem sehr heiligen Igumen von Megas Agros[34], ewiges Andenken."

Weiterhin wurden Anathemata für jene verkündet, welche die Worte der Heiligen Schrift gegen die Götzen auf die heiligen Ikonen übertrugen.

Nach dem „ewigen Andenken" für die Kaiser wird das „ewige Andenken" für die oben genannten Patriarchen wiederholt.

„Diese Segnungen der Väter gehen von ihnen auf uns, die Söhne, die um die Frömmigkeit eifern, über. Ebenso auch die Verfluchungen...".

Nun folgen wieder Anathemata.

„Jene, die in Worten die Oikonomia des Wortes Gottes im Fleische annehmen, aber es nicht dulden, dieses durch die Bilder zu sehen ..., seien Anathema.

Jene, welche prophetische Visionen, selbst unwillentlich, annehmen, aber die ihnen (o Wunder!) erschienenen bildhaften Darstellungen vor der Fleischwerdung des Wortes nicht annehmen, oder die davon faseln, dass das unfassbare und unsichtbare Wesen den Betrachtern erschienen sei, oder erdichteten, dass den Betrachtern Bilder und Gesichte der Wahrheit erschienen, die es aber gleichzeitig ablehnen, das fleischgewordene Wort und Sein Leiden für uns in Bildern darzustellen, seien Anathema.

Jene, die in der Ikonoklastischen Häresie verharren, besonders aber in der Christus bekämpfenden Apostasie ... seien Anathema."

Nach der namentlichen Auflistung der Ikonoklasten wird das kaiserliche „auf viele Jahre" und den Patriarchen das „ewige Andenken" proklamiert[35].

Es ist bekannt, dass Patriarch Michael Keroularios im Kontext des gespannten Verhältnisses zum Westen den Namen des hl. Theodor Studites aus dem Synodikon der Orthodoxie strich. Doch Kaiser Konstantin Monomachos (1042-1055) nötigte den Patriarchen auf eine Beschwerde des Abtes des Studitenklosters, Michael Mermentulos, den Namen des hl. Theodor im Synodikon wiederherzustellen; als Buße musste er das Synodikon in einer der Wochen nach dem Osterfest verlesen („auf kaiserlichen Befehl wurde das Synodikon am Sonntag der Samariterin verlesen"), was auch ausgeführt wurde[36]. Obwohl die von uns übersetzten Passagen aus der Homilie des Keroularios zur bestimmten Zeit am Ende der ersten Woche der Großen Fastenzeit verlesen wurden, geben sie uns doch die lebendige Möglichkeit, uns in den besonderen Tag nach Pascha hineinzuversetzen, an dem das Synodikon verlesen wurde, und das nicht lange vor den dramatischen Ereignissen des Großen Schisma. Man muss bemerken, dass in dieser durchaus nicht einfachen Situation die gottesdienstliche Ordnung der Orthodoxie keine trennende, sondern eine verbindende Funktion hatte.

Der Begriff „Synodikon" entspringt derselben Wurzel, wie auch das Wort „Synode" - das Konzil. Die strenge, unbestechliche, katholische [konziliare] Stimme der Orthodoxie scheint jenen manchmal zu streng zu sein, die mit einer Vielfalt von Glaubensüberzeugungen und Traditionen zu tun haben. Allerdings ist der Triumph des orthodoxen Glaubens auch heute noch ein unerschütterliches Faktum der geistlichen Geschichte der Menschheit. In der Strenge dieses Glaubens liegt ein Aufruf zur Reue. Treue im Kleinen führt zur Treue in Vielem und Großem. Die Treue zur Tradition ist gerichtet auf die Unversehrtheit des Wesens an sich. Das reumütige Gebet vor dem Bildnis Christi ist ein Weg, wahrhaftig mit Christus eins zu werden.


[1] Der Film des Archimandriten Tichon (Schewkunow), „Der Fall des Imperiums" [Падение империи], löste eine neue Welle ikonoklastischer Angriffe auf die Orthodoxie aus. Als charakteristisches Beispiel siehe den Kommentar des Absolventen der MGU [Moskauer Staatliche Universität], U. W. Tschaschichin [У. В. Чащихин] (http://calvinism.ru).
[2] Nicephori Patriarchae Constantinopolitani. Refutatio et eversio definitionis synodalis anni 815 (ed. J.M. Featherstone, TLG 3086/12).
[3] ὁμολογία γὰρ Χριστοῦ, πατέρες, ἡ τῆς ἁγίας αὐτοῦ εἰκόνος ὑπερμάχησις Theod. Stud. Ep. 63:16-17.
[4] Χριστὸς γὰρ ἡ Χριστοῦ εἰκὼν ὡς σταυρὸς ὁ σταυροῦ τύπος Theod. Stud. Ep. 245:20-21.
[5] S. beim Nachfolger des Theophanes 4:1-2 (hier und im Folgenden zit. nach: Nachfolger des Theophanes, „Biographien der byzantinischen Kaiser" [Жизнеописание византийских царей], Übersetzung, Artikel und Kommentare von J. N. Ljubarskij [Я. Н. Любарский], St. Petersburg, Nauka, 1992).
[6] S. Afinogenow D. E. [Афиногенов Д. Е.], „Erzählung von der Vergebung des Kaisers Theophilos und vom Triumph der Orthodoxie" [Повесть о прощении императора Феофила и торжество православия], Moskau, Indrik, 2004.
[7] Nachfolger des Theophanes 4, 5.
[8] Nachfolger des Theophanes 4, 6.
[9] Vita der Theodora 8.
[10] Vita der Theodora 9.
[11] Nachfolger des Theophanes 4, 2, 4.
[12] Vita des Methodios 8, PG 100, 1253С.
[13] Nachfolger des Theophanes 4, 3, 8.
[14] So schreibt der Mönch Georgios. S.: Georg. Mon. Chronicon breve (lib. 1-6), PG 110, 129:37-133:4.
[15] Vita des Methodios 13, PG 100, 1256A.
[16] Mönch Georgios, ebd.
[17] Genaueres siehe bei F. Dworkin [Ф. Дворкин] in seinem Buch „Das Photianische Schisma" [Фотианская схизма].
[18] τοὺς δὲ μάστιξι πολυειδέσι παραδοὺς ἐξώρισεν (ὡς) μὴ πειθομένους παντελῶς μήτε ταῖς θωπείαις (αὐτοῦ) μήτε ταῖς ἀπειλαῖς τοῦ ἀλιτηρίου Θεοφίλου. Georg. Mon. Chronicon breve (lib. 1-6), PG 110, 1133:22-30.
[19] Geschrieben zwischen dem 15. März (Übertragung der Reliquien des hl. Nikephoros) und dem 11. Juni (Todestag des hl. Methodios) im Jahre 847.
[20] Im Klitorologion des Philotheos.
[21] Erzählung von der Vergebung des Theophilos. Zit. nach: Afinogenow 2004, S. 107.
[22] Erzählung von der Vergebung des Theophilos, ebd.
[23] Darüber wird in der Eloge auf Theophanes den Bekenner berichtet, welche nur in slawischer Sprache überliefert ist. Vgl. entspr. die Übersetzung: „Der Gläubige mag hoffen, dass, wenn er um Vergebung seiner Sünden bittet, Jener, Welcher früher selbst das versiegelte Pergament des Nachts glättete, ihn wahrhaftig erhören wird". Zit. nach: Afinogenow 2004, S. 77.
[24] Afinogenow 2004, S. 111.
[25] Nachfolger des Theophanes 6, 10-12
[26] Nach Genesios. Vgl. Genes. Regum lib. 4,3:29-41 (ed. A. Lesmüller-Werner, J. Thurn, TLG 3040/1).
[27] Am Beginn der Vita gibt es den Hinweis: „Am Sonntag der Orthodoxie, segne, Gebieter, [das Vorlesen] der Vita der lobreichen, seligen und heiligen Kaiserin Theodora" (A. Markopoulos. "Βίος τῆς αὐτοκράτειρας Θεοδώρας [BHG 1731]", Symmeikta 5. 1983. P. 257).
[28] Vita der Theodora (Markopoulos 1983. P. 266).
[29] PG 99, 1768-1780.
[30] In der Dissertation „Das Synodikon der Orthodoxie: historisch-dogmatische Analyse".
[31] Über den Ikonoklasmus s. die Zeilen 1-179, 752-769 (Gouillard 1967, P. 45-57, 93).
[32] Mich. Cerul. Homilia dicta in prima dominica quadragessimae festo restitutionis imaginum, PG 120, 725D.
[33] Mich. Cerul. Homilia, PG 120, 728B.
[34] D.i. Theophanes von Sigriane, der Autor der „Chronographia".
[35] Russ. Übersetzung nach: Cerul. Homilia, PG 120, 724-736.
[36] Io. Scyl. Synopsis historiarum 9,7:3-13 (Vita Constantini) (ed. J. Thurn, TLG 3063/1).

Quelle: Портал Богослов.Ru

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Aktualisiert: 21.07.2010

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