PUBLIKATIONEN

Die zeitlose Gegenwärtigkeit der Nächstenliebe der hll. Drei Hierarchen

12. Februar 2010

Panagiotou, Konstantinos

In diesem  Vortrag, gehalten bei der Festfeier der Drei Hierarchen am 31. Januar 2009, betont Dr. Konstantinos Panagiotou, Erziehungsrat im Griechischen Generalkonsulat Düsseldorf, die Wichtigkeit der Lehre und der Werdegänge der Drei Heiligen Erleuchter in Bezug auf die Herausforderungen der Gegenwart.

So optimistisch man auch sein mag, so ist doch die Besorgnis des Menschen über die heutige Situation, in der sich unsere Gesellschaft befindet, unübersehbar. Angst und Stress überschatten unser Leben am Anfang des 21. Jahrhunderts. 

Das Durcheinander im Leben und im Bewusstsein der Völker und der Menschen, der Verlust des wirklichen Lebenszwecks, die Bedrohung einer nuklearen Katastrophe, die uns allen jeden Tag mehr und mehr bewusst wird, die verschiedenen Satelliten, welche unaufhörlich durch das Weltall senden, die rasanten Fortschritte im Technologiebereich, die finanzielle Krise sind einige der typischen Kennzeichen unserer Epoche.

Die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme, in der Regel weit von Gott entfernt, führten den Menschen tiefer in das Elend, haben ihn in neue Formen von Sklaverei unterworfen, haben ihm das Hohe und das Geistliche entzogen, anstatt ihn von der Ausbeutung und dem Unrecht zu befreien.

Die humanistischen Bewegungen versuchten den Menschen ohne Seele und Geist zu betrachten, sahen ihn nur als Materie, und ihre Anthropologie entlarvte sich als hoffnungslos materialistisch orientiert. Der heutige Mensch wurde im Zeitalter der Globalisierung zum Zubehör der Maschine und derjenigen, die Kraft haben, Maschinen zu erzeugen. So wird heutzutage das festgestellt, was der russische Philosoph Berdjaev meinte: „Der Humanismus zerstört sich selbst, und der Mensch löst sich auf."

Pessimistische Gedanken, möchte man sagen, und Worte, die enttäuschen. Es wäre ja wünschenswert, wenn die Wirklichkeit anders aussehen würde, und wenn der heutige Redner sich irren würde.

Die tagtäglichen internationalen und nationalen Kongresse, die beabsichtigen, den Frieden an unruhigen Orten unserer Erde zu erzielen, die Proteste der verschiedenen Vereine und Organisationen für Gerechtigkeit und Menschenrechte und das leise Gespräch des unbedeutenden Menschen über irgendwelche neue Willkür der Mächtigen; der Hunger, der die unterentwickelten Länder quält; das Verblassen der moralischen Werte, welche nicht in der Lage sind den Schleier des Egozentrismus, des Materialismus und den der Diplomatie zu entfernen - sie werden entweder systematisch von verschiedenen Propagandisten verleumdet oder gnadenlos von ihren ursprünglichen Trägern verraten. Es gibt so Vieles, was die menschliche Persönlichkeit demütigt und was sich über die große Plage der heutigen Gesellschaft und über die Leere der menschlichen Seele beklagt.

Das Volk, die einfachen Menschen, akzeptieren passiv und ohne Widerstand die Gewalt und das Recht des Stärkeren oder versuchen eine Person zu finden, mit der sie sich identifizieren, um für ihr Recht zu kämpfen. Das könnte eine einzige Person sein, ein Verband oder eine Partei. Heute gibt es viele solche Anführer. Dagegen könnte kein Einwand vorgebracht werden, wenn diese Leute versucht hätten, den Menschen als solchen zu betrachten, seine materiellen Probleme zu lösen und seine seelische und geistliche Leere zu füllen. Und das Wichtigste: wenn sie bereit wären für die einfachen Menschen das zu tun, was sie selbst von den Mächtigen verlangen.

Die Geschichte und die heutige Wirklichkeit haben uns zu diesem Punkt nur wenige Ausnahmen zu zeigen. Und solche Ausnahmen gab und gibt es auch im Raum der Christlichen Kirche.

Es hat Menschen gegeben, die „mit Fleisch und Blut" für das machtlose Volk und seine Rechte gekämpft haben. Und das Wichtigste: Diese Menschen hatten gar nicht vor, Führer zu werden, strebten nicht nach Ruhm und Ehre, wurden jedoch vom Bewusstsein des Volkes und von der Geschichte auf diesen Platz gestellt, den sie bis heute haben.

Eine Gruppe von drei solchen inspirierten Anführern sind die drei Hierarchen Basileios der Große, Gregorios der Theologe und Johannes Chrysostomos, derer die Orthodoxe Kirche am 30. Januar gedenkt. Der Drei Heiligen gedenkt aber auch das Bildungswesen unseres Landes.

Wir haben gehört, vielleicht auch gelesen, dass die drei heiligen Hierarchen den orthodoxen Glauben in den Seelen der Menschen gestärkt haben. Sie haben ihn unbefleckt und sauber von den verschiedenen Ketzereien gehütet, indem sie wichtige theologische Bücher geschrieben haben. Unsere Kirche hat sie an die Spitze der Heiligenreihen gestellt. Während unserer Schulzeit haben wir gelernt, dass die drei Hierarchen den altgriechischen mit dem christlichen Geist verbunden haben. Spross dieser Verbindung ist die kostbarste Frucht, die im griechischen Raum reifte: die griechisch-christliche Kultur. Uns ist auch bekannt, dass diese Männer die griechische Sprache für ihre Reden und Bücher benutzt haben. Sie haben sie einerseits als Instrument für die höchste und edelste Philosophie benutzt, nämlich die christliche Philosophie, und andererseits haben die drei heiligen Männer die Werke und die Philosophie der alten griechischen Schriftsteller von allen heidnischen, mythologischen und sonstigen Elementen gesäubert, die der Lehre Christi und der Wahrheit fremd sind. Sie bewahrten nur die goldenen Elemente dieser Schriften auf und übergaben der ganzen Welt das Beste, was unsere Vorfahren anzubieten hatten.

Jeder von diesen drei Männern hat nicht nur eine, sondern mehrere Wissenschaften in den Zentren der Weisheit in Athen und Antiocheia studiert: Medizin, Philosophie, Astronomie, Mathematik, Philologie, Poesie und vor allem Rhetorik. Basileios und Gregorios haben auch für eine Weile selbst Rhetorik gelehrt, bevor sie sich der Kirche widmeten. Was Johannes betrifft, so hat sogar sein Lehrer Livanios in der Stadt Antiocheia gesagt, er würde ihn gern als seinen Nachfolger ernennen, „wenn die Christen ihn nicht erobert hätten". Griechische Methoden, mit denen für die Verbreitung des Christentums und der Orthodoxie gekämpft wird, sind die kunstvolle Rhetorik von Basileios und Johannes Chrysostomos und die Rhetorik und suggestive Poesie des Gregorios des Theologen. Gregorios schrieb über 20.000 Verse. Im Fall der drei heiligen Hierarchen zieht Wissen und Glauben zusammen ins Feld für einen siegreichen Kampf. Wir könnten behaupten, dass altgriechisches und christliches Wesen an der Schwelle des 4. Jahrhunderts n. Chr. ineinander verschmolzen sind und die drei heiligen Hierarchen Basileios der Große, Gregorios der Theologe und Johannes Chrysostomos als erste diese Verschmelzung verkörperten.

Das Einzige, was die drei großen Geister nicht studiert haben, ist Theologie, weil die, meiner Meinung nach, weniger studiert und mehr erlebt werden kann. Und diese „Wissenschaft der Wissenschaften" haben die drei Heiligen nicht in den prachtvollen Universitätsgebäuden studiert, sondern in den Klöstern, in der Askese, in den Momenten der Geisteseuphorie und immer zusammen mit dem Mitmenschen.

Wegen dieser Gabe betrachtet das Griechentum die drei Heiligen gerechterweise als Schutzpatrone der Intellektuellen und als Förderer der Erziehung und der menschlichen Seele. Deshalb hat der griechische Staat und insbesondere die Universität von Athen gleich nach der Befreiung von der türkischen Besatzung im Jahr 1842 offiziell festgelegt, dass dieser Tag nicht nur ein Fest für die Kirche, sondern auch ein Fest für die Schulen und generell für die studierende Jugend und ihre Lehrer sein soll.

Dies alles ist mehr oder weniger bekannt. Was aber der Mehrheit vielleicht weniger bekannt ist, ist die Stellungsnahme der drei Hierarchen den grundsätzlichen Problemen des Menschen gegenüber, sowie ihre Kämpfe und ihre Tapferkeit bei der Lösungfindung dieser Probleme. Und diesen Punkt sollten wir uns näher ansehen:

Der Psychologieprofessor Marrou von der Universität Wien schreibt: „Die Väter der Kirche waren nicht einfach gelehrt im herkömmlichen Sinne des Wortes. Sie waren die intellektuelle Elite. Aus der enormen Menge menschlicher Probleme, haben sie die wichtigsten gewählt und diese zu lösen versucht. Von den menschlichen Bedürfnissen haben sie die wesentlichsten berücksichtigt, diejenigen, die mit der Natur und der Bestimmung des Menschen zu tun haben. Mit ihren Schriften, Reden, Tadeln und Ratschlägen betonten sie ständig eins: dass der Mensch nicht dort stehen bleiben darf, wo er sich jetzt befindet. Die Väter der Kirche haben den Menschen von dem Punkt mit sich genommen, wo ihn die Gelehrten der Welt gelassen haben, und ihn dorthin geführt, wo es sich die anderen gar nicht vorstellen konnten. Die Väter der Kirche hatten Mitgefühl mit den Menschen, und für deren Glück haben sie ihr ganzes Leben geopfert".

Die Väter der Kirche haben sich insbesondere mit dem Geschöpf „Mensch" beschäftigt und klar die menschliche Zwiespalt durchschaut, nämlich den Kampf zwischen Seele und Körper und umgekehrt. Sie haben versucht, diesen Kampf zu beseitigen. Man könnte behaupten, dass sie hart dafür gekämpft haben, den Menschen als „Bild Gottes" zu erhalten. Ist es dem Menschen gegenüber gerecht, die notwendige materielle Habe zu entbehren? Nicht in der Lage zu sein, ein menschliches Leben zu führen? Nein, sagen die drei Hierarchen. Deshalb war ihr Leben eine Expedition der Liebe und der uneigennützigen Wohltätigkeit für die Mitmenschen. Sie gehen mit ihrem guten Beispiel voran, indem sie ihr eigenes Vermögen opferten, das nicht gering war. Ihr selbstgewähltes, asketisches Leben und das tagtäglich trockene Brot gaben ihnen die Kraft und den Mut von anderen Menschen etwas für die Armen, für die Witwen und die Waisen abzuverlangen. Durch Bitten, Ratschläge, aber auch Tadel haben sie es geschafft, für die anderen das sicherzustellen, was sie selbst freiwillig entbehrten: Brot und Fleisch, Kleidung, Gesundheitsfürsorge und Bildung, Bäder und Herbergen und Sportstätten. So merkwürdig es für einen strengen und asketischen „weltlichen Mönch" sein mag, war Basileios der Große einst tief enttäuscht, weil die Stadt Kaisareia in zwei Provinzen geteilt wurde und viele Stadtbewohner die Sportstätten verlassen würden, um sich in der neuen Hauptstadt niederzulassen...

Gregorios wollte die Seelen derjenigen dazu bewegen, die in der Lage waren, etwas zu spenden. Deshalb rüstete er sich mit seiner wunderbaren rhetorischen und literarischen Begabung, um den Menschen die dramatische Lage der Armen zu beschreiben. So schreibt er in seiner ersten Rede über „Armenhilfe": „Diese Situation hat eine enorme Anzahl von Ausgeraubten und Obdachlosen verursacht. Gefangenenscharen stehen vor unseren Haustüren. Scharen von Fremden und Einwanderern. Überall sieht man bettelnde Hände. Ihr Haus befindet sich im Freien, ihre Zuflucht? Die Höhlen, die Straßenkreuzungen und die einsamsten Ecken des Markts. Ihre Kleidung zerlumpt. Ernte? Die Hilfsbereitschaft der mitfühlenden Menschen. Essen? Was dem Wanderer übrigbleibt. Trinken? Wie die Pferde, vom Brunnen. Glas? Die Handfläche. Tisch und Bett? Der Boden. Bad? Der Fluss oder der See, alles was Gott allen Menschen geschenkt hat. Ihr Leben ist hart und sie treiben sich herum, nicht weil sie vom Anfang an so waren, sondern weil das Unheil und die Not sie zu diesem Zustand geführt haben".

Und die Geschichte wiederholt sich ...

Werfen wir einen Blick auf die verschiedenen Länder unseres Planeten und auf die Kriegsgebiete, so können wir dieselbe Situation feststellen ... weil es die Mächtigen der Erde so mögen, weil auf diese Weise den dunklen Interessen der Todeshändler gedient wird.

 „Ich schäme mich", schreibt Chrysostomos in seiner feurigen Rede (1. Brief an die Korinther), „für die Reichen von Konstantinopel. Jedes Mal, wenn ich die Reichen beobachte, die mit goldenen Kutschen fahren und von goldgekleideten Dienern gefolgt werden. Ihre Pferde mit goldenen Zügeln und ihre silbernen Betten und alle diese prachtvolle Sachen. Doch wenn es dazu kommt, etwas für die Armen zu spenden, sind sie ärmer als die Armen".

Dasselbe besagt auch eine Passage, die ich aus seiner 66. Rede erwähne (zum Evangelium des Matthäus): „Und trotzdem! Obwohl es so viele Steinreiche in unserer Stadt gibt, die durchaus alle Unglücklichen ernähren könnten, schlafen viele Menschen hungrig ein!" Wie viele schlafen hungrig ein und leiden, und wie viele sterben auf unserem Planeten jede Minute an Hunger, während gleichzeitig Unmengen an Summen für Waffen grundlos ausgegeben werden. Wir hören, sehen und lesen so viel. Oh! Scham über uns, über die Menschheit des Jahrhunderts der Raumschiffe. Wo werden wir uns eigentlich verstecken?

Die heilige Leidenschaft, den menschlichen Körper am Leben zu erhalten, hat Basileios dem Großen die Kraft gegeben, einen ganzen Komplex von Gebäuden in Kaisareia zu errichten, eine richtige zweite Stadt mit Waisenhäusern, Krankenhäusern und Werkstätten, Hospitälern für Leprakranke, wo eigenhändig die Kranken gepflegt wurden. Es fehlten nicht einmal die Viehställe für den Bedarf der Anstalten. Und all das hat ein Mensch mit schwacher Gesundheit geschafft, ständig vom Fieber geplagt, mit vielen Beschwerden und für längere Zeiträume bettlägerig. Einfach nur mit Gottes Hilfe. Von seinen Zeitgenossen wurde die ganze Region „Basileiada" genannt, und die Geschichtsschreibung hat diesen Namen beibehalten, um an die hervorragenden führenden Tugenden und der Nächstenliebe des asketischen Hirten zu erinnern.

Derselbe Eifer war auch für Chrysostomos der Auslöser, der ihm die Kraft gegeben hat, täglich dreitausend arme Witwen, Waisen und Kriegsopfer in Antiocheia zu ernähren, und weitere siebentausend in Konstantinopel, als er später Patriarch wurde. Durch seine Nächstenliebe, hat er die Ausgaben des Erzbistums aufs Geringste reduziert und hat 13 Bischöfe und viele Kleriker abgesetzt, die die Kirche als Mittel zum Reichtum benutzt hatten.

Alle drei Heiligen haben den Kampf angesagt gegen die Starken, gegen die, die politische Macht hatten, gegen die Korruption, die Ungerechtigkeit und die Ausbeutung, was sehr zum Wohl der Schwachen war. In einem Wort haben sie den Kampf gegen die Sünde angesagt. Deshalb sind die drei Hierarchen die natürlichen Patrone der Freiheit und der menschlichen Würde sowie die Theoretiker der richtigen und der rechtliebenden Regierung der Völker. Da die politische Macht der Epoche vermodert war, tyrannisch und unmenschlich, sind sie wohl in Konflikt mit ihr geraten. Es war für die Hierarchen unmöglich, von ihren Vorsätzen und ihrem Glauben zurückzutreten. 

Als der Götzenanbeter Kaiser Julianus versucht hat, die Religion der Altgriechen wiederzuerwecken, hat er von Basileios, nicht mehr und nicht weniger als 1.000 Liter Gold verlangt, um die Skulpturen der olympischen Götter zu restaurieren. Ansonsten würde er, wie er in seinem Brief schrieb, die Stadt Kaisareia mit den schönen Bauten zerstören und die ganze Bevölkerung erniedrigen.

So antwortete Basileios unter anderem: „Klein sind die Heldentaten deines Schicksals. Mir bangt es, wenn ich daran denke, dass du königliches Porphyr trägst und dein Haupt mit dem Kranz schmückst, der keine Ehre mehr hat. Als du Monarch geworden bist - in Wirklichkeit haben dich andere zu einem solchen gemacht - hast du begonnen dein Haupt zu erheben, nicht nur über alle Menschen, sondern auch über Gott". Und er endet damit: „Gold, so teile ich dir mit, gibt es nicht. Und was dich betrifft, so bemitleide ich dich, dass du so geworden bist. Du, mit dem ich in Athen studiert habe und befreundet war und mit dem ich zusammen Gottes Wort las..."

Die gleiche mutige Antwort wurde auch Modestos gegeben, einem Gesandten des Monarchen Ouales. Auf die Androhungen, dass er Basileios' Besitz beschlagnahmen, er ihn ins Exil schicken oder ihm sogar sein Leben nehmen wird, wenn er nicht aufhört, gegen die Sekten zu reden, hat Basileios geantwortet, dass sein ganzer Besitz nur ein zerfetztes Gewandt und einige Bücher seien, und dass er sogar den abgelegensten Ort lieb gewinnen würde und dass der Tod ihn eher in Christi Nähe bringen würde. Er fügte noch hinzu: „Ich bin der Meinung, dass die Freundschaft des Königs wertvoll ist, wenn sie sich auf gegenseitige Wertschätzung stützt, ansonsten kann sie katastrophal sein. Das Feuer, das Schwert und die Ungeheuer, die mit ihren Pfoten das Fleisch zerfetzten, machen mir keine Angst, sondern beglücken mich. Deswegen beschimpfe und bedrohe mich, tue was du möchtest und freue dich deiner Macht. Dieses möge ruhig der König hören, dass er uns nicht in Panik versetzen wird und auch nicht dazu bringen wird uns mit ihm zusammenzutun, selbst wenn er uns bedroht." Und diese Zunge, die das Starke erniedrigt hat und den Tod gedemütigt, hat das Herz von Modestos erweicht: „Zum ersten mal hat so ein Bischof zu mir gesprochen", antwortet er. Und der Rest kam wie aus heiterem Himmel: „Vielleicht, weil du zum ersten mal einen richtigen Bischof kennengelernt hast..."

Als die unzufriedenen, unfähigen Kleriker, Ketzer und Hofschmeichler Gregorios als Unruhestifter in Konstantinopel beschuldigt haben, hat er den Patriarchenthron verlassen und ist in seine Heimat Nazianzos zurückgekehrt, um kein Blutvergießen und Tumult zu verursachen. Wie viele Menschen aber damals wie auch heute, gehen über Leichen und begehen unmoralische Methoden, um einen höheren kirchlichen oder politischen Status zu erreichen. 

Von den drei heiligen Hierarchen war Chrysostomos, die tragischste Gestalt. Er wanderte alt und krank mehr als fünf Monate zu Fuß bis zu seinem Exilort, wo er dann auch gestorben ist. Und das alles, weil er gegen die Verschwendung und die Willkür des königlichen Hofs seine Stimme erhob, gegen die Herausforderung und die Skandale des Hofes, vor allem gegen die Skandale und die Willkür der Monarchin Eudoxia. Diese, wie die Frau des damaligen Herodes, hat ihn zweimal ins Exil geschickt. Aber auch Johannes ist bis zum Ende seines Lebens stark wie ein Felsen geblieben.

Diese Opfer und dieses Heldentum hat der alte Historiker Theodoritos benutzt, um mit folgenden Worten das Leben und die Persönlichkeit von Chrysostomos zu zeichnen. Ein Bild das mehr oder weniger auch mit der Lebensbeschreibung der anderen zwei Hierarchen übereinstimmt: „Mancher nimmt ihn als Helfer mit, wenn er festgenommen wird, mancher als Anwalt, wenn er verurteilt wird. Manch Hungriger fragt ihn nach Brot und manch Nackter fragt nach Kleidung. Manch anderer entblößt ihn. Derjenige, der trauert, fragt nach Trost und ein anderer zerrt ihn mit zum Krankenbesuch. Der Fremde fragt ihn nach Unterschlupf. Jemand anderes nähert sich ihm und weint wegen einer Schuld. Der Diener nähert sich ihm, um über seine Frust gegen den hartherzigen Herren zu klagen. Die Witwe ruft ‚gesegnet sei' und neben ihr klagt die andere über ihre Waisheit. Jemand wird zum Prozeß gezerrt, und der Vater wird sofort Anwalt. Jemand wird krank - und Johannes wird zum Arzt. Jemand fällt in Trauer - und der Pfleger wird zum Trostspender. Fürsorge für die Fremden ist nötig, und er zeigt sich als Gastwirt, derjenige, der alles geworden ist". 

Unsere Kirche hat die drei Hierarchen „große Weisen genannt, das Tor zum Paradies, Schutzwehr und Säulen, Engel auf Erden und Melodie des Geistes." Die Gelehrten und Theologen betrachten sie als „Verkünder der Wahrheit, Kämpfer des Glaubens, unaufhaltsame Flüsse der Weisheit, Mediziner körperlicher und geistiger Krankheiten, als geistliche Hirten und Lehrer". Die Gläubigen verehren sie als „Hirten der logischen Schafe, als Retter und Führer, als Helfer der Armen, als Tröster der Unglücklichen, als Väter und Säule der Gläubigen".

All diese Fähigkeiten besitzen die drei großen Kirchenväter zweifellos. Sie haben jedoch auch eine einfache, eine menschliche Tugend: Sie sind Freunde von uns allen und vor allem Freunde der Kinder, Freunde der Jugendlichen, weil die drei Hierarchen großes Interesse für die jungen Menschen gezeigt haben. Sie fanden Zeit, sich auch mit pädagogischen Themen zu beschäftigen. Sie schlugen Erziehungs- und Bildungsmethoden vor mit höherem Wert. Sie waren tiefe Kenner der kindlichen Seele.

Nach den Drei Hierarchen sollte der Lehrer, der die Pflege der psychischen Dynamik der Kinder aufgenommen hat, psychologisches und pädagogisches Wissen beherrschen, die Heilige Schrift kennen, fromm sein, keinen Hass in seiner Seele haben, und schließlich auch ein guter Wissenschaftler sein, um seinen Schülern das zu vermitteln, was sie im Stande sind aufzunehmen.

Basileios der Große möchte, dass der Lehrer ein beispielhaftes Leben führt. Gregorios bringt den Lehrer dazu, nach seinem Beispiel zu lehren. Ansonsten wird das, was mit der rechten Hand aufgebaut wird, mit der linken zerstört. Dasselbe betont auch Chrysostomos und verlangt vom Lehrer zuerst, dass er Lehrer seiner selbst ist. An einer anderen Stelle betont er die einzige Genugtuung des Lehrers, wenn er sieht, dass die Schüler Fortschritte machen. Chrysostomos hat nicht außer Acht gelassen die gerechte Bezahlung der Lehrer zu betonen, weil deren Werk wirklich schwer ist. Es bedeutet nicht, dass, weil die Arbeit des Lehrers mit Worten gemacht wird, dafür auch weniger bezahlt wird. „Weil die Angelegenheit mühevoll ist, verdient der Arbeiter dieses Gehalt" , betont er.

Ich glaube, dass wir alle Lehren von den guten Beispielen der Drei heiligen Hierarchen ziehen können. Die Kleriker, die Lehrer, die Schüler, die Eltern generell. Aber auch die Weisen, die Geistigen Väter, die Herrscher der Länder würden Nutzen daraus ziehen, wenn sie sich mit den Lehren und Schriften der großen Drei Hierarchen unserer Kirche auseinandersetzen würden. 

Dass die Menschen heute, und vor allem die Jugendlichen, aufbegehren gegen das etablierte System, ist allen offensichtlich. Dieses Aufbegehren richtet sich leider auch gegen die Religion Christi, für deren Verbreitung sich vor allem die großen Väter der Kirche geopfert haben. Ich befürchte jedoch, dass diejenigen, die den Versuch steuern oder koordinieren, falsch zielen. Bewusst oder unbewusst zielen sie ihre Pfeile nicht gegen das, was den Menschen in Fesseln legt, sondern gegen das, was ihn eigentlich frei macht. Sie zielen gegen Werte, Institutionen und Ideale, die von Natur aus gegensätzlich sind zum etablierten System, weil diese Werte erlauben, dass der Mensch sich stets weiterentwickelt und verbessert. Sie machen den Fehler und verwechseln die unwürdigen Vertreter der Werte mit den Werten selbst. Und obwohl sie eigentlich diejenigen, die sich Werte zu Nutze machen oder diese zerstören, unter Kontrolle haben und sie bekämpfen müssten, versuchen sie stattdessen im Bewusstsein der Menschen die Werte selbst auszulöschen.

Es muss, so glaube ich, allmählich für uns alle bewusst werden, dass wir heute nicht nur starke Köpfe benötigen, damit die Welt gerettet wird von der Ungewissheit der finanziellen Krise, dem Stress und der sozialen Misere, sondern auch Herzen, die groß genug für die Liebe gegenüber allen Mitmenschen sind.

Das Christentum war, ist und, ich glaube, wird die einzige Revolution der Liebe für den Mitmenschen sein. Als eine solche Revolution der Liebe haben sie sich auch die großen Väter der Kirche zu eigen gemacht und um sie zu erhalten kraftvoll mit Worten und Taten, mit ihrem Leben und ihrem Werk gekämpft.

Mögen all diese, die in ihren Händen das Schicksal der Jungen und Schwachen haben, mögen alle Anführer der Erde, mögen alle glauben, dass die Wendung zum Geist der Kirchenväter nicht Anachronismus bedeutet, sondern Fortschritt und Kultur. Das richtige Motto müsste für alle nicht „zurück zu den Kirchenvätern" sein, sondern immer nach vorne, „mit dem Geist der Kirchenväter und mit dem Leben der Kirchenväter". So meint der russische Mathematiker, Philosoph und Geistliche Georgij Florovskij.

Ich glaube, dass er recht hat.

Erstveröffentlichung: Orthodoxie Aktuell, Jahrgang 2009, Heft 6-7

Quelle: Портал Богослов.Ru

Nach oben

Die geistlichen Schulen der Russisch-Orthodoxen Kirche und die kirchlichen Wissenschaften

10. Dezember 2008

Tsypin, Vladislav, Erzpriester

Ein Vortrag über das heutige Bildungssystem der Russisch-Orthodoxen Kirche von einem Professor der Moskauer Geistlichen Akademie – Erzpriester Prof. Dr. Vladislav Cypin. Der Vortrag wurde in Wien auf dem Symposium "Das Studium der Theologie angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - aus der Perspektive der Orthodoxen, Katholischen und Evangelischen Kirche" gehalten.

Freitag, 7. 11. 2008, Universität Wien, Katholisch-Theologische Fakultät

Die kirchlichen Lehranstalten der Russischen Orthodoxen Kirchen haben eine doppelte Funktion: Ausbildung und Forschung. Im Rahmen des Referats werde ich eine Kurzcharakteristik des Studienprogramms mit statistischen Daten geben, die besonders die Moskauer Geistlichen Schulen betreffen. Ebenso berührt diese Darstellung die Forschungsschwerpunkte an kirchlichen Einrichtungen.

1. Dreistufige Theologische Ausbildung

Das System der theologischen Ausbildung der Russischen Orthodoxen Kirche besteht aus Bildungsanstalten in drei Stufen: kirchliche Fachschulen, Geistliche Seminare und Geistlichen Akademien. Die Geistlichen Akademien stellen die oberste Stufe dar, das heißt die nächste Stufe der theologischen Ausbildung nach dem Seminar. Somit studieren nur Absolventen der Geistlichen Seminare an den Akademien. Vor der Aufnahme ins Seminar müssen die Bewerber Prüfungen in biblischer Geschichte, Katechismuslehre, Kirchengeschichte, Russischer Sprache und Kirchenmusik ablegen - Kenntnisse in diese Fächern können die Abiturienten entweder in orthodoxen Gymnasien, an Sonntagsschulen in Pfarrgemeinden oder autodidaktisch erwerben.

Die kirchlichen Fachschulen sind gesondert zu betrachten, weil sie nicht als Vorbereitungsstufe für die Seminare gelten, da nur Abiturienten (Maturanten) der allgemeinbildenden Schulen in die Seminare aufgenommen werden. Sie sind praktisch orientierte Schulen, deren Absolventen als Psalmisten und Kirchenküster (Messner) in den Pfarrgemeinden tätig sind. Zum Teil werden sie auch wegen des konstanten Priestermangels zu Diakonen oder zu Priestern geweiht. Aber eine solche Praxis wird nur geduldet und nicht gefördert, also nicht als Normalfall gewertet. Wenn Absolventen kirchlicher Fachschulen im Seminar studieren wollen, können sie sofort ins zweite Studienjahr aufgenommen werden, obwohl das Studium an solchen Fachschulen drei oder vier Jahre dauert. Für die Aufnahme ins Seminar brauchen sie auf jeden Fall das Abitur.

Heutzutage verfugt die Russische Orthodoxe Kirche über fünf Geistliche Akademien: die Moskauer Geistliche Akademie im Kloster von Sergiev Posad, die Minsker Geistliche Akadamie im Kloster von Zirovici, die Kiever Geistliche Akademie und die Geistliche Akademie in Kisinev (Moldavien). Weiteres betreibt die Kirche über 40 Geistliche Seminare und 40 kirchliche Fachschulen. Nur ein Seminar davon befindet sich außerhalb der traditionellen Gebiete der Russischen Orthodoxen Kirche (kanonisches Territorium), nämlich in Jordanville im Staat New York. An einigen Akademien und Seminaren sind Ikonenmalerschulen und Chorleiterschulen eingerichtet. Die Gesamtzahl der Studierenden an kirchlichen Bildungsanstalten aller dieser drei Stufen beträgt ca. 6.000, dazu noch etwa 3.000 Fernstudenten. Die Geistlichen Akademien zählen etwa 1.100 Studenten, dazu etwa 1.000 Fernstudenten.

Eine besondere Bedeutung im kirchlichen Ausbildungssystem haben die Moskauer Geistliche Akademie und das Moskauer Geistliche Seminar. Statistische Daten zur Situation der Moskauer Geistlichen Schulen (Seminar und Akademie) sind folgende: Im Studienjahr 2007/08 betrug die Zahl der Studenten im Seminar 356, an der Akademie 160. 85 Studenten sind Kleriker, davon 43 Diözesanpriester, 10 Mönchspriester, 30 Diakone, 2 Mönchsdiakone. Jeder dritte Student an der Akademie ist Kleriker, im Seminar jeder zehnte.

Während des Studienjahrs 2007/08 haben zwei Studenten der Akademie die Mönchsgelübde abgelegt. 62 Studenten aus dem Seminar bzw. der Akademie wurden geweiht, davon 36 zu Diakonen und 26 zu Priestern.

Ausbildungsreform und Spezialisierung

In den 1990er Jahren und am Anfang des 21. Jh. wurde das System der geistlichen Ausbildung der Russischen Orthodoxen Kirche grundlegend reformiert. Dabei wurde die Dauer des Studiums im Geistlichen Seminar von vier auf fünf Jahre verlängert. Somit wurden die Seminare zumindest formell zu Hochschulen umgewandelt und Studienpläne und Lehrinhalte entsprechend adaptiert. Im Zusammenhang damit wurde die Dauer des Studiums an den Akademien von vier auf drei Jahre verkürzt. Eine weitere Neuerung besteht darin, dass an den Akademien eine Spezialisierung auf vier Studienrichtungen eingeführt wurde. Die Hälfte der Studienzeit an der Akademie ist vorlesungsfrei, sodass Studenten diese Zeit für das Verfassen der Dissertation nützen können. Gleichzeit wurde durch die Reform das Niveau von Dissertationen gehoben -zumindest an der Moskauer Akademie. Damit sollen die Dissertationen das Niveau vergleichbarer Arbeiten an weltlichen Fakultäten in Russland und theologischen Fakultäten in den meisten westeuropäischen Staaten erreichen.

Die vier Studienrichtungen oder Fachrichtungen der akademischen Ausbildung sind folgende: Bibel Wissenschaft, Theologie, Kirchengeschichte und Praktische Theologie. Zur Praktischen Theologie gehören Kanonisches Recht, Liturgik, Pastoraltheologie, Homiletik und kirchliche Archäologie, Die Richtung Theologie beinhaltet die Fächer Dogmatische, Moral- und Fundamentaltheologie, Patrologie und Vergleichende Theologie (Konfessionskunde). Alle diese Studienrichtungen, die im Konzept der Theologischen Ausbildung vorgesehen sind, sind bis heute nur an der Moskauer Geistlichen Akademie eingeführt worden. An der Petersburger Akademie werden nur zwei Studienrichtungen angeboten, und an anderen Akademien bleibt eine derartige Differenzierung des Studiums nur eine Perspektive für die Zukunft. Die Differenzierung oder Spezialisierung der akademischen Ausbildung gründet in den Beschlüssen der Bischofskonzile der Jahre 1989, 1994 und 1997, die das Ziel der Akademien folgendermaßen definiert haben: Sie sollen zu theologischen wissenschaftlichen Anstalten werden und hauptsächlich Lehrkräfte für Geistliche Seminare und Spezialisten auf dem Gebiet der Theologie, der Kirchengeschichte und des kanonischen Rechts heranbilden.

In der Periode von 2005 bis 2008 wurden an der Moskauer Geistlichen Akademie 24 Dissertationen verteidigt, die den Forderungen des neuen Standards mehr oder weniger entsprechen. Die Zahl der Absolventen der Akademie ist etwa viermal größer als die Zahl der erfolgreich verteidigten Dissertationen. Aber jene Absolventen, die alle Prüfungen erfolgreich abgelegt haben, bekommen auch ohne Dissertation Diplome, die die Beendigung des vollen Studiengangs der Akademie bestätigen. Sie sind als Lehrende an Geistlichen Seminaren und kirchlichen Fachschulen oder an anderen kirchlichen Dienststellen tätig. Sie haben weiterhin das Recht, zu einem späteren Zeitpunkt ihre Dissertation zur Verteidigung vorzulegen. Man kann hoffen, dass die Hälfte oder ein Drittel von ihnen darin noch Erfolg haben wird.

Parallel dazu wurden auch die Anforderungen an das Niveau der Diplomarbeiten der Absolventen der Seminare gehoben. Diese Diplomarbeiten werden heutzutage nicht nur vom Betreuer, sondern auch von einem Rezensenten bewertet. Die Dissertationen sollen von mindestens zwei Rezensenten bewertet werden, davon soll einer unbedingt nicht aus dem Haus sein, d.h. er soll an einer anderen Institution tätig sein, also nicht an der Akademie, wo die Dissertation verteidigt wird. Außerdem sollen die Dissertationen vor der Verteidigung am Lehrstuhl approbiert, sozusagen vorverteidigt werden. Die Verfasser dieser Dissertationen sollen ein Referat, eine Kurzdarstellung der Dissertation halten und einige Artikel zum Thema der Dissertation veröffentlichen, zumindest in Internetportalen. Noch eine Maßnahme zur Hebung des Niveaus der Dissertationen ist die Teilnahme von Wissenschaftlern anderer Institutionen am Dissertationsrat.

Die Geistliche Akademie ist eigentlich ein Überbau im System der theologischen Ausbildung. Das Fundament bildet das Geistliche Seminar, eine Hochschule, wie schon gesagt, mit fünfjähriger Studiendauer. Mehr oder weniger kann man unser Seminar mit einer theologischen Fakultät oder noch mehr mit einem katholischen Seminar, das eine volle Ausbildung für seine Studenten bietet, vergleichen. Lehrpläne der Geistlichen Seminare schließen folgende Fächer ein: Katechismuskunde, Dogmatische Theologie, Fundamentaltheologie, Vergleichende Theologie (Konfessionskunde), Moraltheologie, Pastoraltheologie, Biblische Geschichte, Altes und Neues Testament, Allgemeine Kirchengeschichte, Geschichte der Orthodoxen Ortskirchen, Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche, Patrologie, Liturgik, Kirchenmusik, Kirchenkunst, Kanonisches Recht, Homiletik, Missiologie, Sektenkunde, Religionsgeschichte, Einführung in die Philosophie, Philosophiegeschichte, Geschichte der russischen religiösen Philosophie (d.h. Werke gläubiger Philosophen), Byzantinistik, Geschichte Russlands, Pädagogik, Stilistik der russischen Sprache, Rhetorik, Kirchenslawisch, Latein, Altgriechisch, eine Fremdsprache (Englisch, Deutsch oder Französisch) und fakultativ Hebräisch und Neugriechisch. Eine Besonderheit der Seminarausbildung besteht darin, dass auf dieser Stufe keine Spezialisierung eingeführt ist. Derzeit werden Vorschläge zur Differenzierung zusätzlich zur Diplomarbeit diskutiert. Das Schwergewicht der Spezialisierung liegt bis jetzt in der Diplomarbeit.

Lehrbücher

Eines der Probleme, die noch zu lösen sind, besteht im Mangel an Lehrbüchern für Seminaristen. Nur ein Teil der Fächer, die unterrichtet werden, ist mit genügend Lehrbüchern ausgestattet. Teilweise werden Lehrbücher, die vor einem Jahrhundert geschrieben wurden, benutzt. Meistens ist ihr Niveau hoch genug, aber sie sind selbstverständlich veraltet. Beim Unterricht einiger Fächer werden bis jetzt sogar jene Skripten benutzt, die in den Nachkriegsjahren als Schreibmaschinenkopien in der Auflage von 10 bis 20 Exemplaren erstellt wurden. Sie sind heute nicht weniger weit verbreitet als die vorrevolutionären Lehrbücher, die zwar genauso veraltet aber doch niveauvoller sind. Beim Unterricht von einigen Fächern werden Notizen benützt, die Studenten beim Hören der Vorlesungen anfertigen. Aber die Situation auf diesem Gebiet ist prinzipiell besser, als sie vor der Wende, in der kommunistischen Epoche war. Denn heute können die besten Vertreter alter und neuer Theologen wiederaufgelegt bzw. erstmals veröffentlicht werden. Es ist also nicht wie früher ein Problem katastrophalen Fehlens theologischer Literatur, sondern eigentlich ein Problem fehlender passender Lehrbücher, das allmählich gelöst wird. Jedes Jahr erscheinen eines oder ein paar neue Lehrbücher.

2. Wissenschaftliche Forschung

Geistliche Akademien, teilweise auch Seminare sind gleichzeitig die wichtigsten theologisch-wissenschaftlichen Institutionen der Russischen Orthodoxen Kirche. Zu solchen gehören selbstverständlich auch die Universität vom heiligen Patriarchen Tichon, das Orthodoxe Institut vom heiligen Apostel und Evangelisten Johannes dem Theologen und das wissenschaftliche Zentrum „Orthodoxe Theologische Enzyklopädie". Jedoch können die neuen theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten nicht dazugerechnet werden, weil sie aus verschiedenen Gründen noch zu schwach sind.

Die meisten Professoren, Dozenten und Lehrenden der Geistlichen Akademien veröffentlichen regelmäßig Artikel und von Zeit zu Zeit auch Monographien und Lehrbücher. Ein vielversprechendes Beispiel erfolgreicher Wiederbelebung der kirchlichen Wissenschaften ist gerade die von mir schon erwähnte Orthodoxe Enzyklopädie, deren achtzehnter Band vor kurzem veröffentlicht wurde. Einen bedeutenden Beitrag zu diesem umfangreichen Werk bringen Lehrkräfte der Geistlichen Lehranstalten, aber in enger Mitarbeit mit weltlichen Wissenschaftlern, von denen ein nicht zu vernachlässigender Teil bewusst der Orthodoxen Kirche angehört und gute Kenntnisse auf dem Gebiet der Kirchengeschichte und teilweise auch der Theologie hat.

An den Akademien soll wissenschaftliche Forschung im Rahmen der Lehrstühle durchgeführt werden. Teilweise findet das auch statt, aber nur teilweise. Meistens ist das wissenschaftliche Ergebnis der Lehrstühle nur eine Summe der individuellen Tätigkeit von Professoren und Dozenten, und doch gibt es ein Beispiel gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit an der Moskauer Geistlichen Akademie: Am Lehrstuhl für Biblistik werden Kolloquia bzw. Symposia veranstaltet.

Lassen Sie mich die Hauptrichtungen wissenschaftlicher kirchlicher Forschung an der Moskauer Geistlichen Akademie darstellen: Die Biblistik konzentriert sich auf die patristische Exegese von Bibeltexten. Ungeachtet des persönlichen Einsatzes der Bibelwissenschaftler mangelt es doch an Kennern von Hebraistik und biblischer Archäologie. Auf dem Gebiet der russischen Kirchengeschichte sind es Nachforschungen in staatlichen Archiven und die Sichtung von Dokumenten, die die allgemeine Geschichte der Verfolgung der Kirche im 20.Jh. betreffen. Eng damit verbunden ist das Thema der Lebensgeschichte der neuen Märtyrer und Bekenner. Auf dem Gebiet der dogmatischen oder systematischen Theologie ist das Thema der Eucharistie und im Kontext des langjährigen Dialogs mit den orientalischen, nichtchalzedonensischen Kirchen das christologische Thema aktuell. Im Zusammenhang mit den interkonfessionellen und ökumenischen Kontakten sind die neuesten Entwicklungen in der Theologie und im Leben der katholischen Kirche und in der protestantischen Welt von Interesse.

Chancen und Schwierigkeiten nach der Wende

Die Situation unserer Kirche und der theologischen Ausbildung hat sich in den letzten zwanzig Jahren im Vergleich zur Sowjetzeit grundlegend geändert. Ich würde sie nicht als günstiger, sondern als „schonender" bezeichnen, weil sie vor der Wende auf keinen Fall günstig waren. Heutzutage ist unsere Kirche tatsächlich frei, möglicherweise und in einer bestimmten Hinsicht freier sogar, als sie es in der Zeit des Staatskirchentums war. In der sogenannten Synodalperiode, d.h. seit Peter dem Großen bis zur Revolution von 1917 war die Russische Orthodoxe Kirche eine Staatskirche, die von der Zarenregierung abhängig war.

Aber wie immer ist die Kirche und das kirchliche Ausbildungssystem mit verschiedenen Schwierigkeiten konfrontiert. Als wichtigstes Problem kann man das finanzielle nennen. Das Budget der Kirche setzt sich ausschließlich aus Spendenmitteln zusammen und erhält keine Zuschüsse vom Staat. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Zahl der Pfarrgemeinden vervierfacht. Ein bedeutender Teil des Kirchenbudgets wurde für Restaurierung und den Aufbau von Kirchengebäuden eingesetzt. (Der Staat beteiligt sich nur an der Restaurierung von Kirchen, die als Baukunstdenkmäler gelten.) So bleibt für die Finanzierung der kirchlichen Lehranstalten nicht viel übrig. Trotzdem ist die Zahl von theologischen Lehranstalten seit 1988 von acht auf etwa neunzig gestiegen.

Noch eine Herausforderung, die uns heute beschäftigt, ist die sogenannte Akkreditierung bzw. Anerkennung von kirchlichen Diplomen durch den Staat. Nach den jüngsten Beschlüssen der Staatsbehörden ist eine solche Akkreditierung rechtlich möglich. Die Schwierigkeit besteht aber in einer fehlenden Kongruenz des staatlich anerkannten theologischen Studienplans an weltlichen Universitäten und des kirchlichen Studienprogramms. Das im August des vorigen Jahres beschlossene Ausbildungskonzept der Russischen Orthodoxen Kirche sieht die Intensivierung der Verbindung mit einheimischen und ausländischen Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Institutionen vor. Darum gewinnt die Anerkennung kirchlicher Diplome eine besondere Aktualität.

3. Schlussfolgerung

Das System der theologischen Ausbildung hat für die Russische Orthodoxe Kirche von heute eine lebenswichtige Bedeutung. Denn in den kirchlichen Lehranstalten werden Priesteramtskandidaten und Mitarbeiter der Kirche ausgebildet. Von der Situation des kirchlichen Ausbildungssystems hängt die Zukunft der Kirche ab.

Zwei Jahrzehnte der kirchlichen Freiheit ermöglichten die Wiederbelebung der theologischen Wissenschaft trotz finanzieller Schwierigkeiten. Darum ist es unsere Pflicht das Niveau der Forschung weiter zu steigern, um auch international kooperieren zu können.

Prof. Dr. Vladislav Cypin, Moskauer Geistliche Akademie, Sergiev Posad, russ.-orth.

Quelle: Портал Богослов.Ru

Nach oben

Braucht ein orthodoxer Christ Yoga?

4. März 2010

Andrej Shishkov

In der heutigen Zeit entwickelt sich die gesunde Lebensweise zu einem wahren Kult, besonders ist dies in den fortgeschrittenen Ländern zu beobachten. Eine von den sich rapide ausbreitenden Praktiken, die auf Förderung der Gesundheit einen Akzent setzt, ist das Yoga. Diese östliche Praxis ist aus einer religiösen Tradition entsprungen und hat sich in der säkularisierten Kultur des Westens fest verankert. Es bleibt aber die Frage offen: hat sich Yoga von ihrer religiösen Last lösen können oder unterjocht es weiterhin die Menschen den geistigen Traditionen, die es geformt haben? Und wie sollte ein orthodoxer Christ auf diese Erscheinung reagieren, die auf die Alltäglichkeit in unserem Leben den Anspruch erhebt?

Nicht selten, kann man unterwegs in Moskau Werbeplakate erblicken, von denen junge Männer und Frauen, die vor Gesundheit nur so strotzen, uns anbieten sich mit Yoga zu beschäftigen. Ihr strenger Aufruf „Macht mit!“ und ihre tatbereite Ausstrahlung lassen keine Gelegenheit für Zweifel über die Lebensnotwendigkeit dieser von ihnen proklamierten Praxis. „Gesundheit, Gesundheit und nochmal Gesundheit. Entwicklung und Erhaltung neuer Eigenschaften“, - lesen wir auf der Internetseite der reklamierten Moskauer „Yogaföderation“. Indem viele Menschen dieser Werbung vertrauen, glauben sie, dass Yoga nur eine östliche Fitnessvariante sei. Nicht selten ist diese Meinung auch unter den orthodoxen Christen verbreitet. Doch in Wirklichkeit sieht alles eher anders aus.

An sich ist Joga eine Lehre, die ein System von Übungen gebraucht, die auf die Kontrolle der Psyche und Psychophysiologie des Menschen gerichtet ist, um dadurch einen höheren psychischen und geistigen Zustand zu erreichen. Wenn wir also glauben, dass wir Yoga ausschließlich zum Nutzen der körperlichen Gesundheit betreiben können, so sind wir auf einem Irrweg. Yoga ist vor allem ein Konzept geistiger Ansichten, und seine Ziele sind geistig, und nicht physisch. Ein bekannter orthodoxer geistlicher Kämpfer, Priestermönch Seraphim Rose, schrieb einst: "Ein Mensch, der Yoga ausschließlich wegen der leiblichen Gesundheit betreibt, bereitet sich schon somit auf gewisse geistige Ansichten und Gemütsbewegungen, von denen er selbst nichts ahnt". Es ist anzumerken, dass Vater Seraphim über das Wesen des Yoga nicht nur vom Hörensagen wusste, da er in seiner Jugend (vor seiner Bekehrung zum orthodoxen Glauben) sich aktiv mit Joga beschäftigte.

Weder die körperlichen Übungen, noch die verschiedenen Stellungen und Bewegungen bilden das Wesen des Yoga. In dem Zentrum des Yoga steht die Meditation. Der Körper hilft hier nur sich zu konzentrieren. Vater Seraphim schreibt: "Das Ziel der Yoga-Übungen ist es den Menschen ‚loszubinden’ (zu entspannen), ihn friedfertig zu machen, gedankenlos und passiv, d.h. aufnahmefähig für geistige Ideen und Gemütsbewegungen". Schon nach ein paar Wochen Yoga-Training kann der Mensch Ruhe und Ausgeglichenheit bei sich selbst bemerken, indem er auch besseres Auffassungsvermögen und geistiges Wachstum wahrnehmen kann. "Im Endeffekt ist Meditation eine ‚innerliche Solo-Reise’, und die gesamte Palette der äußerlichen Abhängigkeit muss mit dem Ziel der Auffindung der innerlichen Quelle verworfen werden", - lesen wir wieder auf der Internetseite der „Yogaföderation“. Doch das vermeintliche Wohlergehen ist trügerisch. Der vom Menschen erreichte Zustand macht ihn aufnahmefähiger für die Spiritualität, die im Yoga enthalten ist. Und die "Solo-Reise" kann sehr traurig enden.

Das Problem ist, dass im Yoga jede geistige Erfahrung als positiv zählt, sie möge nur stattfinden. In Yoga gibt es keine Unterscheidung der Geister, zu der jeder Christ berufen ist. Eine Erfahrung, die von einem Christen als trügerisch verstanden werden könnte, kann im Yoga als positiv gedeutet, sogar empfohlen werden. Wir nehmen mal ein Beispiel aus der heute so populären Kundalini-Yoga. Es spricht vom Öffnen mittels verschiedener psychischer Techniken einer gewissen „Kundalini-Energie“, die sich in einem Schlafzustand in der unteren Spitze der Wirbelsäule befindet. Ein Yogi "erweckt" diese Energie, der Mensch nimmt dabei eine Wärme wahr, die am Wirbelsäulenanfang ihre Quelle nimmt. Doch die heiligen Väter Asketen sind sich einer Meinung, dass jegliches Empfinden beim Beten, das von den Bereichen unterhalb des Herzens ausgeht, zu verwerfen ist. Ein Christ, der die orthodoxe Lehre über das Gebet nicht kennt, könnte leicht von der „Spiritualität“ gefangen genommen werden, die über ihn Herr wird.

Der Unterschied zwischen dem Beten und einer Meditation besteht in seinem Wesen. "Die Meditation kann uns, als eine Ablenkung unseres Denkens von jeglichen Gestalten, ein Empfinden der Ruhe, des Friedens, des Ausgangs aus dem Raum-Zeit-Verhältnis dienen, doch sie entbehrt das Stehen vor dem Antlitz eines persönlichen Gottes, d. h. von Angesicht zu Angesicht", schreibt ein anderer herausragender orthodoxer Theologe und Asket Sophrony (Sacharov). Das Beten aber äußert im Gegenteil einen entschlossenen Glauben an Gott, es ringt, klopft bei Gott an, im Beten kann es keine unpersönlichen Verhältnisse geben - es stellt immer einen Dialog dar. Hier kann man die Worte des Starzen Siluan des Athoniten anführen: "Für die Menschen beten heißt sein Blut vergießen".
Wozu führt nun eine Meditation? Vater Sophrony, gleich dem Priestermönch Seraphim (Rose), der sich in seinen jungen Jahren für östliche Meditation begeisterte, antwortet hierauf: "Sie kann dazu führen, dass ein Meditierender sich mit dem Resultat solcher Experimente zufrieden gibt, und, was das allerschlimmste ist, die Wahrnehmung eines lebendigen Gottes, des ‚Persönlichen Absolute’,1 für ihn fremd wird“. Was kann für einen Christen entsetzlicher sein, als Gott fremd zu werden?

Bei der Abwesenheit einer persönlichen Bewegung mit Gott, lenkt der Yoga-Praktizierende seinen Blick auf sich selbst. "Die Kunst des Yoga besteht darin, sich in die völlige Stille zu versenken. Die Kunst bedeutet alle Gedanken und Illusionen zu verwerfen, abzulehnen und alles außer der Weisheiten zu vergessen: das wahre Wesen des Menschen ist göttlich; sie ist Gott, von allem Übrigen kann man nur schweigen", lesen wir im Buch des Benediktermönchs Jean-Marie Dechanet, der vor einem halben Jahrhundert die Kompatibilität zwischen Yoga und Christentum zu zeigen versuchte. Doch sogar schon in diesen Worten kann man die prinzipielle Unverträglichkeit der Yoga-Lehre mit dem Christentum erblicken.
 
Indem der Mensch seinen Blick auf sein Wesen wendet und es vergöttert, wiederholt er in der Yoga-Praxis die Sünde des Adams, der Gott zu werden suchte, und über die Grenzen dessen hinaus zuschreiten gewünscht hat, die Gott für ihn setzte. Aber "die Errettung geschieht nicht ‚im Selbst oder durch sich selbst’, sondern in Gott", schreibt ein orthodoxer Theologe und Metropolit Hierotheos (Wlachos). Ein bekannter Moskauer Meister des Zen-Yoga Boris Orion spricht offenkundig: "Was ist Zen? Es ist eine Religion, wo es keine Idee von ‚Gott’ oder einem ‚Schöpfers’ gibt, das Wichtigste ist hier nicht das Gebet, sondern die Hinwendung zu seinem Bewusstsein".

Außerdem verspricht das zeitgenössische weit verbreitete Yoga seinen Adepten das schnelle Erreichen der "geistigen Früchte". Diese Taktik stellt die Menschen auf ein Konsumverhältnis zu so genannten „geistlichen Gütern“ ein, führt zu Euphorie und Stolz, was wiederum mit einer hohen Meinung über sich selbst und seine Möglichkeiten verbunden ist. Archimandrit Sophrony warnt: "Der Pfad unserer Väter verlangt einen festen Glauben und Langmut. Unsere Zeitgenossen dagegen versuchen alle geistigen Gaben, mitsamt der unmittelbaren Schau des absoluten Gottes, mit Gewalt und dazu in einer kurzen Zeit zu bekommen". Die zeitgenössischen Gurus bieten eine "Erleuchtung" schon nach ein paar Übungsstunden und natürlich für eine entsprechende Bezahlung an.

Was kann nun ein orthodoxer Christ im Yoga suchen? Findet er dort die Ruhe, die Harmonie mit dem Selbst, den geistigen Komfort, die physische Gesundheit oder die Perfektion? Das alles ist so begehrt und so attraktiv, und vor allem so angenehm. Doch die Vitas (Lebensbeschreibungen) der heiligen Asketen demonstrieren uns ein ganz anderes Lebensideal. Sie suchten keine harmonisch und bequem Koexistenz mit der Welt und mit sich selbst, sondern ein freiwilliges Martyrium für Christus. Dadurch wird die Vollkommenheit erreicht, nur dadurch kann der Mensch zu Gott aufsteigen. Machen Sie mit!


1. das „Persönlich Absolute“ - Bei den lateinischen Kirchenvätern wird das Absolute bereits zur Kennzeichnung Gottes benutzt. Ab Anselm von Canterbury (Monologion) wird es direkt mit Gott gleichgesetzt.

Quelle: Портал Богослов.Ru

Nach oben

Die Lehrstunden des Patriarchen Kyrill: Apologetik der Kircheneinheit

7. August 2009

Die Reise des Heiligsten Patriarchen von Moskau und ganz Russland Kyrill in die Ukraine wurde zur wahren Apologetik der Kircheneinheit. Das Thema der Einheit hatte in den Reden des Patriarchen, die an die ukrainische Herde gerichtet waren, den Hauptplatz eingenommen, und seine Handlungen unterstrichen diese Einheit.

Die Einheit der Eucharistie zeigt vor allem, dass die Menschen, die an den Heiligen Mysterien teilhaben, sich mit dem einen Leib Christi vereinigen, der nach den Worten des Apostel Paulus – die Kirche selbst ist. Jede Zerstörung der kirchlichen Einheit ist in der orthodoxen Auffassung – schwere Sünde. „Keine Argumentation, keine Menschenweisheit, keine Menschenideale werden das Schisma rechtfertigen, denn das Schisma ist die Übertretung der Worte des Herrn über die Einheit seines Erbes.“

Die Heuchelei der Spaltung wird ausdrücklich in der Eucharistie offenbart. „Warum gebrauchen die Schismatiker folgendes Gebet, in dem sie gleichzeitig lästern: „Uns alle, die wir von dem einem Brot und einem Kelche kommunizieren, vereinige in dem Heiligen Geist?“ In der Tat, wie kann die Eucharistie - das Mysterium der Kircheneinheit - vollzogen werden, wenn die Gemeinde sich gegen die Kirche stellt? „Für die Heuchelei wird Gott [die Menschen] richten – nicht nur die Schismatiker, sondern auch das Volk, das die Wahrheit nicht erkannt und das Göttliche Gebot über die Einheit des Mysteriums der Eucharistie gegen menschliche Träume und Ideale eingetauscht hat.“

Eine Kirchenspaltung bedeutet auch die Spaltung in der Gesellschaft, innerhalb der Nation, im Arbeitsfeld und in der Familie. „Wenn wir die Kircheneinheit verlieren, so sind wir auf dem besten Weg dahin, die Einheit in der Familie, auf der Arbeit und sogar in unserem Staat zu verlieren. Ein Mensch, der die Einheit des Leibes Christi zerstört, wird auch keine Einheit in der Familie haben und verliert die freundschaftliche Beziehung zu seinen Arbeitskollegen. Dieser Mensch ist zur Einsamkeit verurteilt.“

Familie, deren Mitglieder verschiedenen Parteien der Schisma angehören, zerfallen. Eine Arbeitsgruppe, die unversöhnliche Gegner innehat, wird mit großer Mühe voranschreiten, bis sie sich endlich auflöst. Bis zum heutigen Tage beobachten wir die Folgen der großen Schisma auf dem Balkan, wo die Kirchenspaltung in dem einst einheitlichen Serbisch-Kroatischen Volke zum Massenmord führte. Solche Spaltungen gibt es in der Geschichte der christlichen Zivilisationen reichlich. Solche Spaltung existiert momentan in der Ukraine.

Die ukrainische Kirchenspaltung hat rein politische Ursachen. Dazu äußerte sich bereits vor der Anreise des Patriarchen der Metropolit von Kiew und ganz Ukraine Wladimir. Den Worten des Patriarchen nach, ist „jede Politisierung der Kirche, in der die Vertreter der Gegenpartei aus der Kirche ausgesperrt werden, gefährlich für den Hirtendienst.“

Doch die ukrainische Regierung schreitet schon lange den Weg zur völligen Unabhängigkeit von Russland, sowie der politischen, als auch der kulturellen und religiösen. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats wird als ein Instrument des Kremls auf dem Gebiet der unabhängigen Ukraine verstanden. In der Zeitschrift „Glavred“ (russ.: «Главред»), wird die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats von dem Kolumnist Wjatscheslaw Pichowschek als eine „Spionageorganisation“ angesehen, deren Priester das Volk manipulieren und zum Vorteil Russlands ausnutzen.

Die ukrainische Regierung wirft dem Moskauer Patriarchat „Imperialismus“ vor, indem der letztere sich bemüht, das kanonische Territorium zu erhalten. Doch was die Regierung von Ukraine „Imperialismus“ nennt, bezeichnet Patriarch Kyrill als „klare orthodoxe Ekklesiologie“, in der „der Patriarch – der Vater aller ist, unabhängig von der Farbe des Ausweises, und vom Staat in dem die Menschen leben.“ Aber mit dieser Ekklesiologie ist die Regierung von Ukraine nicht einverstanden, und die nationalistisch orientierte Bewegung flößt den Menschen eine andere „Kirchenlehre“ ein.

Der Wunsch des Präsidenten Juschtschenko - eine unabhängige autokephale Kirche in der Ukraine zu gründen - wird von wenigen Menschen geteilt. Dies ist auch eines der wichtigsten Hindernisse. Denn die kirchlich-politischen Projekte, die darauf ausgerichtet sind, das Volk zu spalten, sind nicht effektiv und unvernünftig, besonders wenn diese Projekte unter den national-politischen Parolen verlaufen. „Niemand wird auf die Idee kommen, den Zerfall der Familie, die Scheidung des Mannes und der Frau, die Verwaistheit der Kinder bei lebenden Eltern mit politischen, nationalen und kulturellen Argumenten zu rechtfertigen.“ Sollen wir an dieser Stelle noch ein Wort über die Zerstörung der Einheit des Leibes Christi verlieren?

Die Geschichte hat gezeigt, dass noch nie ein Menschentraum, eine politische und nationale Idee im Verlauf der zweitausendjährigen Existenz des Christentums, ohne die Zerteilung des Leibes Christi realisiert wurde. Dort, wo eine Spaltung entsteht, wird Blut vergossen, die Energie geht verlustig, die Einheit wird verloren; und die Menschen verspielen gemeinsame Ziele, die vor dem Volk, der Nation und dem Staat stehen. In der Spaltung büßen die Menschen die Eigenschaft der Zusammengehörigkeit ein. Eine Spaltung ist auch für den Staat ein großer Nachteil, denn dieser Zustand schwächt ihn von innen und bricht die Kraft des Volkes in zwei. Im Gegenzug kann „das kirchliche Wirken das Nationalleben harmonisieren.“

Um die Spaltung in der Ukraine zu überwinden, müssen, nach den Worten des Patriarchen, die Menschen erkennen, dass „alle orthodox Getauften eine einzige Kirchenherde bilden, unabhängig von ihren politischen Ansichten, Sympathien und Antipathien, unabhängig von ihrem Verständnis der Geschichte – dass sie alle die eine autokephale Kirche formen. Die Kirche ist dazu berufen, außerhalb der Grenzen zu arbeiten, außerhalb der Grenzen, die das Volk spalten, denn die Kirche ist eine unikale Gemeinschaft. Sie verbindet jene, die den Glauben an das Herz pflegen. Und eben diese Solidarität innerhalb der Kirche ist der „Samen“ der Solidarität für die gesamte Gesellschaft.“ Die Überwindung der Spaltung in der Ukraine würde bedeuten, dass sich innerhalb ihrer Grenzen eine ukrainische Nation gebildet hat, die für eine autokephale Kirche bereit ist.

Doch besinnen wir uns. Dies ist nicht das erste Mal, in dem der Patriarch an die Einheit der Kirche appelliert. Ukraine ist nicht der erste Staat auf dem Russlandgebiet, der nach Unabhängigkeit trachtet. Politik, Nationalismus, Ideologie – all diese Bereiche führen unausweichlich zur Spaltung, wenn sich die kirchliche Gesellschaft darin verwickeln lässt.

Momentan gibt es viele Bewegungen, die ihre Interessen, bzw. Ideologien vor die Erhaltung der Kircheneinheit stellen. Es bildet sich eine gefährliche „Vereins-Ekklesiologie der Interessen“ heraus, die darum bemüht ist, nur die Interessen der Bewegung zu vertreten. Diese Ekklesiologie verbindet Menschen, doch bestimmt „gegen jemand anderen.“ Jedes Menschenbündnis gegen Dritte (die in Wirklichkeit keine Feinde sind) – ist ein Bündnis des Teufels. Dieses Bündnis kann der Versuchung durch die Zeit nicht standhalten, es zerstört das gesunde Gewebe der gesellschaftlichen Beziehung; gleich einem Krebsgeschwür, keimt es durch das Volksleben, und explodiert anschließend wie blutige Protuberanz. Die Menschen ersetzen Orthodoxie mit verschiedenen Ideologien und politischen Bewegungen. An dieser Stelle kommen einem „The Screwtape Letters“ des C.S. Lewis ins Gedächtnis.

Wir mögen auch lange weiter über die Spaltungen diskutieren, doch bis unser Volk die Einsicht darüber nicht erlangt, dass die Gemeinschaft der Eucharistie viel wichtiger ist als die krankhafte „Vereins-Ekklesiologie der Interessen“, können wir lange auf die Heilung vieler Schismen hoffen. Aber zu dieser Einsicht können wir gelangen, wenn wir den Wert der Eucharistie im Leben des Christen und ihren Platz in der Kirche Christi begreifen. Daher sollte eben dieses Thema in der Kirchepredigt – das Leitthema sein.

Analytische Abteilung des Portals Bogoslov.Ru

Quelle: Портал Богослов.Ru

Nach oben

Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen

Jahr: 2008

Orignalsprache: Russisch

Übersetzer: Institut für Ökumenische Studien Fribourg

Herausgegeben: Buch "Freiheit und Verantwortung im Einklang"

Quelle: http://bogoslov.ru/de

Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche

Moskau, 24. - 29. Juni 2008

In der gesamten Menschheitsgeschichte hat das Verständnis dessen, was der Mensch ist, die Ordnung des privaten und öffentlichen Lebens der Menschen wesentlich beeinflußt. Ungeachtet der großen Unterschiede zwischen den einzelnen Zivilisationen und Kulturen, finden sich doch in jeder von ihnen bestimmte Vorstellungen von den Rechten und Pflichten des Menschen.

     In der heutigen Welt ist die Überzeugung weit verbreitet, die Einrichtung der Menschenrechte könne aus sich heraus auf optimale Weise die Entwicklung der menschlichen Person und der Gesellschaftsordnung fördern. Dabei werden unter Berufung auf den Schutz der Menschenrechte in der Praxis nicht selten Ansichten verwirklicht, die sich von der christ lichen Lehre von Grund auf unterscheiden. Die Christen finden sich in einer Situation wieder, in der sie von den gesellschaftlichen und staatlichen Organen dazu gedrängt, zuweilen geradezu gezwungen werden, im Gegensatz zu den göttlichen Geboten zu denken und zu handeln. Das hindert den Menschen, das wichtigste Ziel seines Lebens zu erreichen - die Erlösung von der Sünde und die Erlangung des Heils.

     In dieser Situation ist die Kirche, gestützt auf die Heilige Schrift und die Heilige Überlieferung, dazu aufgerufen, an die Grundsätze der christlichen Lehre über den Menschen zu erinnern und eine Einschätzung über die Theorie der Menschenrechte und ihre Verwirklichung im Leben abzugeben.

I. Die Würde des Menschen als religiös-sittliche Kategorie

I.1. Der Grundbegriff, auf den sich die Theorie der Menschenrechte stützt, ist der Begriff der menschlichen Würde. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die kirchliche Sicht der Menschenwürde darzulegen.

     Der biblischen Offenbarung zufolge wird die menschliche Natur nicht nur von Gott geschaffen, sondern erhält von Ihm auch ihre Eigenschaften nach Seinem Bild und Gleichnis (Gen 1,26). Nur auf dieser Grundlage kann man behaupten, die menschliche Natur habe eine unveräußerliche Würde. Der heilige Gregor der Theologe[1] setzt die menschliche Würde zum göttlichen Schöpfungsakt in Beziehung und schreibt: „Gott hat alle Menschen so großzügig bedacht, um durch die gleichmäßige Verteilung Seiner Gaben sowohl die gleiche Würde unserer Natur als auch den Reich tum Seiner Güte zu offenbaren" (Rede 14, „Über die Liebe zu den Armen").

     Die Fleischwerdung des göttlichen Wortes hat bezeugt, daß die mensch liche Natur auch nach dem Sündenfall ihre Würde nicht einbüßte, denn das unzerstörbare Bild Gottes, und somit auch die Möglichkeit der Wiederherstellung des menschlichen Lebens in der Fülle seiner ursprünglichen Vollkommenheit, blieb in ihr erhalten. Das wird auch durch die liturgischen Texte der orthodoxen Kirche bestätigt: „Ich bin Abbild Deiner unsagbaren Herrlichkeit, wenn ich auch die Wunden meiner Sünden trage. Denn Du hast mich aus dem Nichts erschaffen und durch Dein göttliches Abbild geehrt. Wegen der Übertretung Deiner Gebote aber hast du mich wieder in Erde verwandelt, von der ich genommen war. Führe mich zurück zu Deinem Ebenbild, damit die ursprüng li che Güte wiederum Gestalt gewinne" (Troparien nach dem Psalm 119 [118][2], aus dem Begräbnis-Ritus). Die Annahme der Fülle der mensch lichen Natur außer der Sünde durch den Herrn Jesus Christus (Hebr 4,15) zeigt, daß die Würde durch die Entstellungen, die in dieser Natur infolge des Sündenfalls entstanden sind, nicht in Mitleidenschaft gezogen ist.

     I.2. Während die unveräußerliche ontologische Würde jeder menschlichen Person, ihr höchster Wert, sich in der Orthodoxie vom Ebenbild Gottes hergeleitet, wird ein der Würde entsprechendes Leben zum Begriff der Gottähnlichkeit in Beziehung gesetzt. Diese Gottähnlichkeit wird mit Hilfe der göttlichen Gnade durch die Überwindung der Sünde, den Erwerb sittlicher Reinheit und durch die Tugenden erlangt. Daher darf der Mensch, der das Ebenbild Gottes in sich trägt, sich dieser hohen Würde nicht rühmen, denn sie ist nicht sein persönliches Verdienst, sondern Gabe Gottes. Noch weniger soll er damit seine Schwächen oder Laster rechtfertigen, sondern sich vielmehr der Verantwortung für die Ausrichtung und Gestaltung seines Lebens bewußt sein. Offensichtlich wohnt dem Begriff der Würde die Idee der Verantwortung inne.

     In der östlichen christlichen Tradition hat also der Begriff der Würde in erster Linie eine sittliche Bedeutung, und die Vorstellungen darüber, was würdig und was unwürdig ist, sind eng mit den sittlichen oder unsittlichen Taten des Menschen sowie mit der inneren Verfassung seiner Seele verbunden. In Anbetracht des durch die Sünde verdunkelten Zustands der mensch lichen Natur ist es wichtig, im Leben eines Menschen zu unterscheiden zwischen dem, was würdig, und dem, was unwürdig ist.

     I.3. Würdig ist ein Leben in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Berufung, die in der Natur des Menschen liegt, der zur Teilhabe am glück seligen Leben Gottes geschaffen ist. Der heilige Gregor von Nyssa stellt fest: „Wenn Gott die Fülle der Güter ist und der Mensch Sein Abbild, dann hat das Bild auch darin eine Ähnlichkeit mit dem Urbild, daß es mit jeglichem Gut erfüllt werden soll" („Von der Erschaffung des Men schen", Kap. 16). Daher besteht das Leben des Menschen, wie der heilige Johannes von Damaskus anmerkt, in einer „Verähnlichung mit Gott im Tun des Guten, soweit es dem Menschen möglich ist" („Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens"). In der Tradition der Kirchenväter wird diese Entfaltung des göttlichen Ebenbildes Vergöttlichung (ϑέω σις) genannt.

     Die von Gott empfangene Würde wird durch das in jedem Menschen vorhandene sittliche Prinzip bestätigt, das in der Stimme des Gewissens erkannt wird. Der heilige Apostel Paulus schreibt dazu in seinem Brief an die Römer: Die Forderung des Gesetzes ist ihnen ins Herz geschrieben; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich (Röm 2,15). So bringen die der menschlichen Natur eigenen sittlichen Normen wie auch die sittlichen Normen in der göttlichen Offenbarung Gottes Plan mit dem Menschen und dessen Vorherbestimmung an den Tag. Sie sind wegweisend für ein gutes Leben, das der gottgegebenen menschlichen Natur würdig ist. Das höchste Vorbild eines solchen Lebens hat der Herr Jesus Christus der Welt offenbart.

     I.4. Unwürdig für den Menschen ist ein Leben in Sünde, denn es zerstört den Menschen selbst und fügt auch anderen Menschen und der Umwelt Schaden zu. Die Sünde stellt die Hierarchie der Beziehungen in der menschlichen Natur auf den Kopf. Der Geist herrscht nicht über den Körper, sondern er ordnet sich in der Sünde dem Fleisch unter; der heilige Johannes Chrysostomus kommentiert: „Wir haben die Ordnung verkehrt, und das Böse ist so stark geworden, daß wir die Seele zwingen, dem Verlangen des Fleisches nachzugeben" (Homelie 12 zum Buch Genesis). Ein Leben nach dem Gesetz des Fleisches ist den göttlichen Geboten entgegengesetzt und entspricht nicht dem sittlichen Prinzip, das Gott in die menschliche Natur gelegt hat. In den Beziehungen zu anderen Menschen verhält sich der Mensch unter dem Einfluß der Sünde als Egoist, der seine Bedürfnisse auf Kosten der Nächsten befriedigt. Ein solches Leben ist gefährlich für den einzelnen, die Gesellschaft und die umgebende Natur, denn es stört die Harmonie des Daseins, endet in seelischen und körperlichen Leiden und Krankheiten, macht verletzlich angesichts der Folgen der Zerstörung des Lebensraumes. Ein sittlich unwürdiges Leben zerstört die von Gott verliehene Würde auf der ontologischen Ebene nicht, verdunkelt sie jedoch so sehr, daß sie kaum zu erkennen ist. Gerade deshalb braucht es eine große Willensanstrengung, um die natürliche Würde eines Schwer verbrechers oder Tyrannen zu erkennen oder gar anzuer kennen.

     I.5. Um den Menschen in der ihm entsprechenden Würde wiederherzustellen, hat die Buße eine besondere Bedeutung; sie hat ihre Grundlage darin, daß man sich der Schuld bewußt wird und sein Leben ändern will. Wenn der Mensch bereut, erkennt er an, daß seine Gedanken, Worte oder Werke der von Gott verliehenen Würde nicht entsprechen, und bezeugt vor Gott und der Kirche seine Unwürdigkeit. Die Buße erniedrigt den Menschen nicht, sondern gibt ihm einen mächtigen Ansporn zur geistigen Arbeit an sich selbst, zur schöpferischen Wandlung seines Lebens, zur Reinerhaltung der gottgegebenen Würde und zum Wachstum in ihr.

     Gerade deshalb sprechen das Gedankengut der Kirchenväter und Asketen sowie die liturgische Tradition der Kirche mehr von der Unwürdigkeit des Menschen aufgrund der Sünde als von seiner Würde. So heißt es im Gebet des heiligen Basilius des Großen, das orthodoxe Christen vor dem Empfang der Heiligen Gaben in der Kommunion lesen: „So habe auch ich, der ich des Himmels und der Erde sowie dieses zeitlichen Lebens unwürdig bin, mich ganz der Sünde hingegeben, habe der Sinneslust gefrönt und Dein Ebenbild befleckt. Da ich aber Dein Werk und Geschöpf bin, zweifle ich Verruchter nicht an meiner Erlösung, sondern komme in der Hoffnung auf Deine maßlose Güte zu Dir."

     Der orthodoxen Tradition zufolge setzen die Wahrung der von Gott verliehenen Würde und das Wachsen in ihr ein Leben im Einklang mit den sittlichen Normen voraus, denn diese Normen drücken die ursprüngliche, also wahre Natur des Menschen aus, die von der Sünde nicht verdunkelt worden ist. Deshalb gibt es eine direkte Verbindung zwischen der Würde des Menschen und der Sittlichkeit. Darüber hinaus bedeutet die Anerkennung der Würde der Person die Bekräftigung ihrer sittlichen Verantwortung[3]

II. Wahlfreiheit und Freiheit vom Bösen

II.1. In Abhängigkeit von der Selbstbestimmung der freien Person kann das Ebenbild Gottes im Menschen sich verdunkeln oder kraftvoller in Erscheinung treten. Dabei wird die natürliche Würde im Leben der einzelnen Person entweder immer deutlicher oder sie verschwimmt in ihr durch die Sünde. Das Ergebnis hängt unmittelbar von der Selbstbestimmung der Person ab.

     Die Freiheit ist eine der Erscheinungsformen des göttlichen Ebenbildes in der menschlichen Natur. Nach den Worten des heiligen Gregor von Nyssa „wurde der Mensch gottähnlich und glückselig, indem er der Freiheit (αὐτεξούσιον) gewürdigt wurde" („Rede über die Verstorbenen"). Auf dieser Grundlage nimmt die Kirche in ihrer pastoralen und seelsorg lichen Praxis eine behutsame Haltung in Bezug auf die innere Welt des Menschen und seine Wahlfreiheit ein. Die Unterordnung des menschlichen Willens unter irgendeine äußere Autorität mit Hilfe von Manipulation oder Gewalt gilt als Verstoß gegen die von Gott errichtete Ordnung.

     Die Wahlfreiheit ist dabei kein absoluter und endgültiger Wert. Gott hat sie dazu bestimmt, dem Wohl des Menschen zu dienen. Wenn der Mensch diese Freiheit ausübt, darf er sich selbst und seinen Mitmenschen nichts Böses zufügen. Wegen der Macht der Sünde, die der gefallenen Menschennatur eigen ist, reicht jedoch keinerlei menschliche Anstrengung aus, um das wahrhafte Wohl zu erlangen. Der Apostel Paulus zeigt an seinem Beispiel, was für jeden Menschen gilt: Ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich ... Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde (Röm 7,15.17). Folglich kommt der Mensch ohne Gottes Hilfe und ohne enge Zusammenarbeit mit Ihm nicht aus, denn Gott allein ist der Ursprung alles Guten.

     Als die ersten Menschen sich von Gott abwandten und sich nur auf sich selbst stützten, gerieten sie unter die Macht der zerstörerischen Kräfte des Bösen und des Todes und gaben diese Abhängigkeit an ihre Nachkommen weiter. Durch den Mißbrauch der Wahlfreiheit verlor der Mensch die andere Freiheit (ἐλευϑεϱία) - die Freiheit zu einem Leben im Guten, die er in seinem ursprünglichen Zustand besaß. Diese Freiheit gibt der Herr Jesus Christus dem Menschen zurück: Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wahrhaft frei (ἐλεύϑεϱοι) (Joh 8,36). Die Freiheit von der Sünde zu erlangen, ist unmöglich ohne die sakramentale Vereinigung des Menschen mit der verklärten Natur Christi, die sich im Sakrament der Taufe vollzieht (Röm 6,3-6; Kol 3,10) und gestärkt wird durch das Leben in der Kirche, dem Leib Christi (Kol 1,24).

     Die Heilige Schrift spricht von der Notwendigkeit eigener Anstrengungen des Menschen zur Befreiung von der Sünde: Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und laßt euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen! (Gal 5,1). Das bezeugt auch die praktische Erfahrung der großen Schar heiliger Männer und Frauen, die den geistlichen Sieg errungen und bestätigt haben, daß das Leben jedes Menschen verklärt werden kann. Die Früchte der geistlichen Bemühungen des Menschen kommen jedoch erst bei der allgemeinen Auferstehung in ganzer Fülle zur Erscheinung, wenn unser armseliger Leib Seinem verherrlichten Leib gleichgestaltet wird (Phil 3,21).

     II.2. Der Herr Jesus Christus sagt: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen ... Wer die Sünde tut, ist der Sünde Knecht (Joh 8,32.34). Das bedeutet: Wahrhaft frei ist, wer den Weg des gerechten Lebens geht und die Gemeinschaft mit Gott, der Quelle der absoluten Wahrheit, sucht. Hingegen zerstört der Mißbrauch der Freiheit, die Wahl einer falschen, unsittlichen Lebensweise, letzten Endes die Wahl freiheit selbst, da auf diese Weise der Wille in die Sklaverei der Sünde geführt wird. Nur Gott, die Quelle der Freiheit, kann diese Freiheit im Menschen aufrecht erhalten. Wer von der Sünde nicht ablassen will, überantwortet seine Freiheit dem Diabolos, dem Widersacher Gottes, dem Vater des Bösen und der Unfreiheit. Die Kirche erkennt den Wert der Wahlfreiheit an und bekräftigt zugleich, daß diese unweigerlich zunichte wird, wenn die Wahl zugunsten des Bösen erfolgt. Das Böse ist mit der Freiheit unvereinbar.

     In der Menschheitsgeschichte hat die Wahl des Bösen durch einzelne und durch die Gesellschaft zum Verlust der Freiheit und zu gewaltigen menschlichen Opfern geführt. Auch heute kann die Menschheit diesen Weg einschlagen, wenn eindeutig lasterhafte Erscheinungen wie Abtreibung, Selbstmord, Unzucht, Perversion, Zerstörung der Familie und ein Kult der Brutalität und Gewalt nicht mehr angemessen sittlich bewertet, sondern unter Berufung auf ein verzerrtes Verständnis menschlicher Freiheit gerechtfertigt werden.

       Eine Schwäche der Einrichtung der Menschenrechte liegt darin, daß diese Rechte die Freiheit der Wahl (αὐτεξούσιον) verteidigen und dabei immer weniger die sittliche Dimension des Lebens und die Freiheit von der Sünde (ἐλευϑε ϱία) berücksichtigen. Die gesellschaftliche Ordnung muß auf beide Frei heiten ausgerichtet sein und deren Verwirklichung im öffentlichen Bereich miteinander in Einklang bringen. Man darf nicht die eine Freiheit verteidigen und die andere vergessen. Ein freies Festhalten am Guten und an der Wahr heit ist ohne Wahlfreiheit nicht möglich. Ebenso verliert auch die freie Wahl ihren Wert und ihren Sinn, wenn sie sich dem Bösen zuwendet.

III.  Die Menschenrechte im christlichen Weltbild und im gesellschaftlichen Leben

III.1. Jeder Mensch ist von Gott mit Würde und Freiheit ausgestattet. Der Gebrauch der Freiheit zum Bösen zieht jedoch unweigerlich die Minderung der eigenen Würde und eine Herabsetzung der Würde anderer Menschen nach sich. Die Gesellschaft muß Mechanismen schaffen, um die Harmonie zwischen menschlicher Würde und Freiheit wiederherzustellen. Im gesellschaftlichen Leben können und müssen die Konzeption der Menschenrechte und die Sittlichkeit diesem Ziel dienen. Dabei sind sie schon durch den Umstand miteinander verbunden, daß die Sittlichkeit, das heißt die Vorstellung von Sünde und Tugend, stets dem Gesetz vorausgeht, das gerade aus diesen Vorstellungen entstanden ist. Daher führt eine Erosion der Sittlichkeit letzten Endes immer zur Zerstörung der Gesetzesordnung.

    Die Vorstellungen von den Menschenrechten haben eine lange histo rische Entwicklung durchlaufen und können schon deshalb in ihrem heutigen Verständnis nicht absolut gesetzt werden. Es ist notwendig, klar die christlichen Werte zu definieren, mit denen die Menschenrechte in Einklang gebracht werden müssen.

    III.2. Die Menschenrechte können nicht über den Werten der geistigen Welt stehen. Der Christ stellt seinen Glauben an Gott und seine Gemeinschaft mit ihm über sein eigenes irdisches Leben. Daher ist es unzulässig und gefährlich, die Menschenrechte als die wichtigste und universale Grundlage des gesellschaftlichen Lebens zu deuten, der sich die religiösen Ansichten und die religiöse Praxis unterzuordnen haben. Keinerlei Hinweise auf die Freiheit des Wortes und des künstlerischen Schaffens können die öffentliche Verhöhnung von Gegenständen, Symbolen oder Ausdrücken legitimieren, die von gläubigen Menschen verehrt werden.

    Da die Menschenrechte keine göttlichen Anordnungen sind, dürfen sie mit der göttlichen Offenbarung nicht in Konflikt geraten. Für den überwiegenden Teil der christlichen Welt ist neben der Idee der persönlichen Freiheit die Kategorie der Tradition des Glaubens und der Sitten, mit der der Mensch seine Freiheit in Einklang bringen muß, nicht weniger wichtig. Für viele Menschen, die in verschiedenen Ländern der Welt leben, haben nicht so sehr die säkularisierten Normen der Menschenrechte als vielmehr die Glaubenslehre und die Traditionen die höch ste Autorität im gesellschaftlichen Leben und in den zwischen menschlichen Beziehungen.

    Keinerlei menschliche Bestimmungen, einschließlich der Formen und Mechanismen der gesellschaftspolitischen Ordnung, können aus sich heraus das Leben der Menschen sittlicher und vollkommener machen, das Böse und das Leid ausrotten. Es ist wichtig daran zu erinnern, daß staatliche und gesellschaftliche Kräfte die reale Fähigkeit haben und berufen sind, das Böse in seinen sozialen Erscheinungsformen zu unterbinden, während sie dessen Ursprung in der Sündhaftigkeit nicht besiegen können. Der entscheidende Kampf gegen das Böse wird in der Tiefe des menschlichen Geistes geführt und kann nur auf den Wegen des religiösen Lebens der Person Erfolg haben: Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister des himmlischen Bereichs (Eph 6,12).

    In der Orthodoxie besteht unverändert die Überzeugung, daß die Gesellschaft bei der Regelung des irdischen Lebens nicht nur die mensch lichen Interessen und Wünsche berücksichtigen soll, sondern auch die göttliche Wahrheit, das vom Schöpfer gegebene ewige Sittengesetz, das in der Welt unabhängig davon herrscht, ob der Wille einzelner Menschen oder menschlicher Gemeinschaften damit im Einklang steht. Dieses Gesetz, das in der Heiligen Schrift besiegelt ist, steht für einen orthodoxen Christen über allen anderen Regeln, denn nach diesem Gesetz wird Gott über Menschen und Völker vor seinem Richterstuhl urteilen (Offb 20,12).

    III.3. Die Ausarbeitung und Anwendung der Konzeption der Menschenrechte muß unbedingt in Einklang gebracht werden mit den Normen der Moral, mit dem sittlichen Prinzip, das Gott in die menschliche Natur gelegt hat und das in der Stimme des Gewissens zu Bewußtsein kommt.

    Die Menschenrechte können kein Grund sein, um Christen zur Übertretung der göttlichen Gebote zu zwingen. Die orthodoxe Kirche hält Versuche für unzulässig, die Ansicht der Gläubigen über den Menschen, die Familie, das gemeinschaftliche Leben und die kirchliche Praxis einem areligiösen Verständnis der Menschenrechte unterzuordnen. Darauf müssen Christen mit den Aposteln Petrus und Johannes erklären: Ob es vor Gott recht ist, mehr auf euch zu hören als auf Gott, das entscheidet selbst(Apg 4,19).

    Es ist unzulässig, in den Bereich der Menschenrechte Normen einzuführen, die sowohl die Moral des Evangeliums als auch die natürliche Moral untergraben oder aufheben. Die Kirche sieht eine sehr große Gefahr in der Unterstützung verschiedener Laster in Gesetzgebung und Gesellschaft, z.B. sexuelle Zügellosigkeit und Perversion, Profitgier und Gewalt. Ebenso unzulässig ist es, unsittliche und unmenschliche Hand lungen in Bezug auf den Menschen zur Norm zu erheben, etwa Ab treibung, Euthanasie, die Verwendung menschlicher Embryonen in der Medizin, Experimente, welche die Natur des Menschen verändern und ähnliches.

    Leider gibt es in der Gesellschaft Gesetzesnormen und politische Praktiken, die solche Handlungen nicht nur erlauben, sondern auch die Voraussetzungen dafür schaffen, diese Normen durch Massenmedien, das Bildungs- und Gesundheitssystem, Reklame, Handel und Dienstleistung der ganzen Gesellschaft aufzudrängen. Mehr noch, gläubige Menschen, die solche Erscheinungen für sündhaft halten, werden gezwungen, die Legitimität der Sünde anzuerkennen, oder sie werden Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt.

    Nach den Gesetzen vieler Länder werden Handlungen bestraft, die einem anderen Menschen schaden. Die Lebenserfahrung zeigt jedoch, daß auch ein Schaden, den der Mensch sich selbst zufügt, auf die Umgebung übergreift, auf diejenigen, die mit ihm durch die Bande des Blutes, der Freund schaft, der Nachbarschaft, der gemeinsamen Arbeit und der Staats bürgerschaft verbunden sind. Der Mensch trägt die Verantwortung für die Folgen der Sünde, da sich seine Wahlentscheidung für das Böse auf die Nächsten und die gesamte Schöpfung Gottes unheilvoll auswirkt.

    Seiner Würde entsprechend ist der Mensch zu guten Taten berufen. Er ist verpflichtet, sich um die Umwelt und die Menschen zu sorgen. Das Bestreben seines Lebens muß darin bestehen, das Gute zu tun und zu lehren, nicht das Böse: Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich (Mt 5,19).

    III.4. Die Menschenrechte dürfen der Liebe zum Vaterland und zum Nächsten nicht widersprechen. Der Schöpfer hat in die menschliche Natur die Notwendigkeit der Gemeinschaft und Verbundenheit mit anderen Menschen hineingelegt; dazu heißt es: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt (Gen 2,18). Die Liebe zur Familie und zu anderen Nahestehenden muß sich auch ausweiten auf das Volk und das Land, in denen der Mensch lebt. Nicht umsonst führt die orthodoxe Tradition den Patriotismus auf das Wort des Erlösers Christus selbst zurück: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt (Joh 15,13).

    Die Anerkennung der Rechte des Individuums muß ins Gleichgewicht gebracht werden, indem die Verantwortung der Menschen füreinander bekräftigt wird. Extremer Individualismus und extremer Kollektivismus sind einem harmonischen Aufbau des gesellschaftlichen Lebens nicht förderlich. Sie führen zum Niedergang der Person, zum sittlichen und rechtlichen Nihilismus, zum Anwachsen der Kriminalität, zum Verlust staatsbürgerlichen Handelns und zur gegenseitigen Entfremdung der Menschen.

    Die geistige Erfahrung der Kirche bezeugt, daß die Spannung zwischen den individuellen und gesellschaftlichen Interessen überwunden werden kann, wenn Rechte und Freiheiten des Menschen mit den sittlichen Werten in Einklang gebracht werden, und vor allem, wenn das Leben des Menschen und der Gesellschaft durch die Liebe verlebendigt wird. Gerade die Liebe hebt alle Widersprüche zwischen der Person und ihren Mitmenschen auf, indem sie den Menschen dazu befähigt, seine Freiheit voll zu verwirklichen und sich gleichzeitig um die Nächsten und das Vaterland zu sorgen.

    Handlungen, die auf die Wahrung der Menschenrechte und die Vervollkommnung der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen und Institutionen gerichtet sind, sind nicht wirklich von Erfolg gekrönt, wenn die geistigen und kulturellen Traditionen der Länder und Völker ignoriert werden.

    Unter dem Vorwand des Schutzes der Menschenrechte dürfen die einen Zivilisationen den anderen nicht ihre Lebensform aufdrängen. Die Menschenrechtstätigkeit darf nicht den politischen Interessen einzelner Länder dienen. Der Kampf für die Menschenrechte wird erst dann fruchtbar, wenn er dem geistigen und materiellen Wohl des einzelnen und der Gesellschaft dient.

    III.5. Die Verwirklichung der Menschenrechte darf nicht zum Niedergang der Umwelt und zur Ausbeutung der Bodenschätze führen. Der Verzicht auf die Orientierung des menschlichen Lebens und der Gesellschaft an der göttlichen Offenbarung führt nicht nur zu Zwietracht in den zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch zu einem katastrophalen Konflikt zwischen dem Menschen und der Natur, die der Schöpfer dem Menschen zur Kultivierung anvertraut hat (Gen 1,28). Das ungezügelte Streben nach Befriedigung materieller Bedürfnisse, insbesondere überflüssiger und künstlicher Bedürfnisse, ist seinem Wesen nach sündhaft, denn es läßt die mensch liche Seele und die Umwelt verarmen. Man darf nicht vergessen, daß die natürlichen Reichtümer der Erde nicht einfach Eigentum des Menschen sind, sondern vor allem Gottes Schöpfung: Dem Herrn gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner (Ps 24 [23],1). Die Anerkennung der Menschenrechte bedeutet nicht, daß der Mensch seinen egoistischen Interessen zuliebe die natürlichen Ressourcen verschwenden darf. Die Würde des Menschen läßt sich nicht trennen von seiner Berufung, Gottes Welt zu kultivieren (Gen 2,15), Maß zu halten bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse, behutsam mit Reichtum, Vielfalt und Schön heit der Natur umzugehen. Diese Wahrheiten müssen von Gesellschaft und Staat bei der Festlegung der wichtigsten Ziele der sozio-ökonomischen und materiell-technischen Entwicklung mit allem Ernst in Betracht gezogen werden. Dabei ist auch zu bedenken, daß nicht nur die heutigen, sondern auch die künftigen Generationen ein Recht darauf haben, die Güter der Natur zu nutzen, die der Schöpfer uns gegeben hat.

      Vom Standpunkt der orthodoxen Kirche kann die politisch-rechtliche Einrichtung der Menschenrechte den guten Zielen des Schutzes der mensch lichen Würde dienen und zur geistig-sittlichen Entwicklung der Person beitragen. Dabei darf die Verwirklichung der Menschenrechte nicht zu den von Gott gesetzten sittlichen Normen und zu dem darauf beruhen den traditionsbezogenen Ethos in Widerspruch treten. Die individuellen Rechte des Menschen können den Werten und Anliegen des Vaterlandes, der Gemeinschaft und der Familie nicht zuwiderlaufen. Die Verwirk lichung der Menschenrechte darf nicht zur Rechtfertigung für Anschläge auf religiöse Heiligtümer, kulturelle Werte und auf die Eigenständigkeit eines Volkes werden. Die Menschenrechte dürfen nicht als Anlaß dienen, um den Naturgütern einen nicht wieder gutzumachenden Schaden zuzufügen.

IV. Würde und Freiheit im System der Menschenrechte

IV.1. Es gibt verschiedene Traditionen der Interpretation und nationale Besonderheiten bei der Verwirklichung des Komplexes der Rechte und Freiheiten. Das moderne System der Menschenrechte ist weit verzweigt und tendiert zu einer noch größeren Differenzierung. In der Welt gibt es keine allgemein anerkannte Klassifikation der Rechte und Freiheiten. Unterschiedliche Rechtsschulen gruppieren sie nach verschiedenen Kriterien. Die Kirche schlägt kraft ihrer grundlegenden Berufung vor, die Rech te und Freiheiten unter dem Aspekt ihrer möglichen Rolle bei der Schaffung günstiger äußerer Bedingungen für die Vervollkommnung der Person auf ihrem Weg zur Erlösung zu betrachten.

    IV.2. Das Recht auf Leben. Das Leben ist Gabe Gottes an den Menschen. Der Herr Jesus Christus verkündet: Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10). Der Prophet Moses hat von Gott unter anderen das Gebot Du sollst nicht töten! erhalten. Die Orthodoxie billigt den Terrorismus nicht, sondern verurteilt ihn, ebenso bewaffnete Aggression, kriminelle Gewalt wie auch alle anderen Formen der Tötung menschlichen Lebens.

    Zugleich jedoch beschränkt sich das Leben nicht auf den irdischen Bereich, in dessen Rahmen der Mensch eine säkulare Weltsicht und das damit verbundene Rechtssystem annimmt. Das Christentum bezeugt, daß das irdische Leben, das in sich wertvoll ist, erst in der Perspektive des ewigen Lebens seine Fülle und seinen absoluten Sinn gewinnt. An erster Stelle muß daher nicht der Wunsch stehen, das irdische Leben um jeden Preis zu erhalten, sondern das Bestreben, es so gestalten, daß der Mensch in Zusammenarbeit mit Gott seine Seele für die Ewigkeit bereiten kann.

    Das Wort Gottes lehrt, daß die Hingabe des irdischen Lebens um Christi und des Evangeliums willen (Mk 8,35) sowie für andere Menschen der Erlösung des Menschen nicht schadet, sondern ihn im Gegenteil in das Himmelreich führt (Joh 15,13). Die Kirche ehrt die Großtat der Märtyrer, die dem Herrn bis in den Tod dienten, und der Bekenner, die sich angesichts von Verfolgungen und Drohungen nicht von Ihm losgesagt haben. Orthodoxe Christen ehren auch den Heldenmut derer, die ihr Leben für das Vaterland und ihre Nächsten auf dem Schlachtfeld gelassen haben.

    Hingegen verurteilt die Kirche Selbstmord, da ein Selbstmörder sich nicht aufopfert, sondern das Leben als Geschenk Gottes zurückweist. So gesehen, ist die Legalisierung der sogenannten Euthanasie - der Beihilfe zur Beendigung des Lebens - unannehmbar, denn es handelt sich um eine Kombination von Mord und Selbstmord.

    Das Recht auf Leben schließt den Schutz des menschlichen Lebens vom Augenblick der Empfängnis an mit ein. Jeder Anschlag auf das Leben der werdenden menschlichen Person ist eine Verletzung dieses Rechtes. Die moderne internationale und nationalen Gesetzgebung stärkt und schützt das Leben und das Recht des Kindes, des Erwachsenen und des betagten Menschen. Diese Logik des Schutzes für das menschliche Leben muß sich auch auf den Zeitraum vom Moment der Empfängnis bis zur Geburt erstrecken. Die biblische Vorstellung vom gottgegebenen Wert des mensch lichen Lebens seit dem Moment der Empfängnis kommt insbesondere in den Worten des Psalmisten zum Ausdruck, die dem heiligen König David zugeschrieben werden: Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter ... Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen. Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war (Ps 139 [138],13.15-16).

    Wenn man zugibt, daß die Todesstrafe zur Zeit des Alten Testaments gebilligt wurde, und es „weder im Neuen Testament noch in der Überlieferung und im historischen Erbe der Orthodoxen Kirche" Hinweise auf die Notwendigkeit ihrer Abschaffung gibt, muß man auch bedenken, daß „die Kirche oft die Pflicht der Fürsprache für zum Tode Verurteilte auf sich genommen und für sie um Erbarmen und Strafmilderung gebeten hat" (Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche, IX.3). Die Kirche verteidigt das menschliche Leben und ist daher unabhängig von der Haltung der Gesellschaft zur Todesstrafe dazu berufen, diese Pflicht der Fürsprache auszuüben.

    IV.3. Die Gewissensfreiheit. Die Gabe der Wahlfreiheit kommt dem Mensch vor allem an der Möglichkeit zu Bewußtsein, die weltanschaulichen Orientierungen seines Lebens zu wählen. So schreibt der heilige Irenäus von Lyon: „Gott hat ihn [den Menschen] in Freiheit erschaffen, von Anfang an im Besitz eigener Kraft ..., um freiwillig Gottes Ratschluß vollziehen zu können, ohne von ihm dazu gezwungen werden zu müssen" („Adversus haereses", IV,37,1). Das Prinzip der Gewissensfreiheit steht im Einklang mit Gottes Willen, wenn es den Menschen vor Willkür in Bezug auf seine innere Welt, vor dem gewaltsamen Aufdrängen irgendwelcher Überzeugungen schützt. Nicht umsonst erkennt die Kirche in den „Grund lagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche" die Notwendigkeit an, „für den Menschen einen gewissen autonomen Bereich zu wahren, in dem sein Gewissen ‚autokratisch' herrscht, denn von der freien Willensäußerung hängen letzten Endes Erlösung oder Verderben ab, der Weg zu Christus oder von ihm weg" (Grundlagen der Sozialkonzeption, III.6). Unter den Bedingungen des säkularen Staates erlaubt die ausgerufene und gesetzlich verankerte Gewissensfreiheit der Kirche, ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber Menschen anderer Überzeugungen zu wahren und gibt die rechtliche Grundlage für die Unantastbarkeit ihres inneren Lebens wie auch für das öffentliche Zeugnis für Christus. Zugleich „zeugt die rechtliche Festschreibung der Gewissensfreiheit von dem Verlust religiöser Ziele und Werte in der Gesellschaft" (Grundlagen der Sozialkonzeption, III.6).

    Manchmal wird die Gewissensfreiheit als Forderung nach religiöser Neutralität oder Indifferenz von Staat und Gesellschaft behandelt. Gewisse ideologische Interpretationen der Religionsfreiheit bestehen darauf, alle Glaubensbekenntnisse als relativ oder ‚gleichermaßen wahr' anzuerkennen. Für die Kirche ist das unannehmbar. Sie respektiert die Wahlfreiheit, ist jedoch dazu berufen, die von ihr gehütete Wahrheit zu bezeugen und Verirrungen aufzudecken (1 Tim 3,15).

    Die Gesellschaft hat das Recht, Inhalt und Umfang der Wechselbeziehungen des Staates mit den verschiedenen Religionsgemeinschaften frei zu bestimmen, je nach deren zahlenmäßiger Stärke, der Verankerung in der Tradition des Landes oder der Region, dem Beitrag zu Geschichte und Kultur und deren staatsbürgerlicher Position. Dabei muß die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz unabhängig von ihrer Haltung zur Religion gewährleistet sein. Das Prinzip der Gewissensfreiheit ist kein Hindernis für partnerschaftliche Beziehungen zwischen Kirche und Staat in sozialen Fragen, Wohltätigkeit, Bildung und anderen gesellschaftlich bedeutsamen Aktivitäten.

    Man darf nicht unter Berufung auf die Gewissensfreiheit das Wesen dieses Prinzips verkehren und das Leben und die Überzeugungen des Menschen einer totalen Kontrolle unterwerfen, die persönliche, familiäre und gesellschaftliche Sittlichkeit zerstören, religiöse Gefühle verletzen, Anschläge auf Heiligtümer verüben und der geistig-kulturellen Eigenständigkeit eines Volkes Schaden zufügen.

    IV.4. Die Freiheit des Wortes. Die Freiheit des Ausdrucks von Gedanken und Gefühlen, die die Möglichkeit der Verbreitung von Informationen impliziert, ist eine natürliche Fortsetzung der freien Wahl der Weltanschauung. Das Wort ist das wichtigste Kommunikationsmittel der Menschen mit Gott und untereinander. Der Inhalt der Kommunikation hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Wohlergehen des Menschen und die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Gesellschaft. Der Mensch trägt eine besondere Verantwortung für seine Worte. Denn aufgrund deiner Worte wirst du freigesprochen, und aufgrund deiner Worte wirst du verurteilt werden, heißt es in der Heiligen Schrift (Mt 12,37). Öffentliche Auftritte und Erklärungen dürfen nicht der Verbreitung der Sünde Vorschub leisten und in der Gesellschaft weder Zwietracht noch Unordnung säen. Das Wort soll das Gute aufbauen und stützen. Besonders gefährlich ist es, religiöse und nationale Gefühle zu verletzten, Informationen über das Leben verschiedener religiöser Gemeinschaften, Völker, sozialer Gruppen und Personen zu entstellen. Die Verantwortung für das Wort wächst in der modernen Welt, die eine stürmische Entwicklung in der Technologie der Datenspeicherung und -verbreitung erlebt, um ein Vielfaches.

    IV.5. Die Freiheit des Schaffens. Schöpferische Fähigkeiten sind im Grunde Erscheinungsformen des göttlichen Ebenbildes im Menschen. Die Kirche heißt ein Schaffen gut, das neue Horizonte für das geistige Wachstum des Menschen und die Erkenntnis der geschaffenen Welt eröffnet. Die Schaffenskraft ist dazu berufen, zur Entfaltung des Potentials der Person beizutragen, und darf daher eine nihilistische Haltung zu Kultur, Religion und Sittlichkeit nicht rechtfertigen. Das Recht auf Selbstäußerung einzelner Personen oder Menschengruppen darf keine Formen an nehmen, die beleidigend für Überzeugungen und Lebensformen anderer Glieder der Gesellschaft sind. Dabei muß eines der Grundprinzipien des Zusammenlebens, der gegenseitige Respekt der verschiedenen weltanschaulichen Gruppen, geachtet werden.

    Die Schändung von Heiligtümern darf nicht unter Berufung auf die Rechte des Künstlers, Schriftstellers oder Journalisten gerechtfertigt wer den. Die moderne Gesetzgebung verteidigt gewöhnlich nicht nur Leben und Eigentum der Menschen, sondern auch symbolische Werte wie das Gedächtnis der Verstorbenen, Grabstätten, historische und kulturelle Denkmäler, staatliche Wahrzeichen. Ein solcher Schutz muß sich auch auf den Glauben und die Heiligtümer erstrecken, die den Gläubigen wertvoll sind.

    IV.6. Das Recht auf Bildung. Gott ähnlich zu werden im Tun des Guten ist das Ziel des irdischen Lebens des Menschen. Bildung ist nicht nur ein Mittel zum Wissenserwerb oder zur Einführung des Menschen in das Leben der Gesellschaft, sondern auch eine Erziehung der Person in Übereinstimmung mit dem Plan des Schöpfers. Das Recht auf Bildung setzt den Wissenserwerb unter Berücksichtigung der kulturellen Traditionen der Gesellschaft und der weltanschaulichen Position der Familie und der betreffenden Person voraus. Den meisten Weltkulturen liegt eine Religion zugrunde. Daher muß die allseitige Bildung und Erziehung eines Menschen die Unterweisung in der Religion einschließen, welche die Kultur, in der dieser Mensch lebt, hervorgebracht hat. Dabei ist die Gewissensfreiheit zu achten.

    IV.7. Bürgerliche und politische Rechte. In der Heiligen Schrift werden die Gläubigen angehalten, die für Familie und Gesellschaft bedeutsamen Pflichten als Gehorsam Christus gegenüber zu erfüllen (Lk 3,10-14; Eph 5,23-33; Tit 3,1). Der heilige Apostel Paulus hat sich wiederholt auf die Rechte eines römischen Bürgers berufen, um das Wort Gottes ungehindert zu predigen. Die bürgerlichen und politischen Rechte gewähren dem Menschen breite Möglichkeiten zum tätigen Dienst am Nächsten. Wenn der Bürger dieses Instrument nutzt, kann er Einfluß auf das Leben der Gesellschaft nehmen und sich an der Lenkung der Staatsangelegenheiten beteiligen. Das Wohlergehen der Gesellschaft hängt davon ab, wie der Mensch mit seinem aktiven und passiven Wahlrecht, mit der Ver samm lungs- und Vereinigungsfreiheit, der Rede- und Meinungsfreiheit umgeht.

    Der Gebrauch der politischen und bürgerlichen Rechte darf nicht zu Spaltungen und Feindseligkeiten führen. Die orthodoxe Tradition der Sobornost'[4] setzt die Bewahrung der gesellschaftlichen Einheit aufgrund unvergänglicher sittlicher Werte voraus. Die Kirche ruft die Menschen dazu auf, ihre egoistischen Interessen zugunsten des Gemeinwohls zu zügeln.

    In der Geschichte der Völker, die von der Russischen Orthodoxen Kirche genährt werden, hat sich eine fruchtbare Vorstellung von der notwendigen Zusammenarbeit zwischen der politischen Gewalt und der Gesellschaft herausgebildet. Die politischen Rechte können einem solchen Prinzip der staatlich-gesellschaftlichen Beziehungen vollwertig dienen. Dazu sind eine reale Interessenvertretung der Bürger auf den verschiedenen Ebenen der Macht und die Gewährung von Handlungsmöglichkeiten für die Bürger nötig.

    Das Privatleben, die Weltanschauung und der Wille der Menschen dürfen nicht Gegenstand totaler Kontrolle werden. Manipulationen der Wahl der Menschen und ihres Bewußtseins durch staatliche Organe, politische Kräfte, Eliten aus dem Wirtschafts- und dem Informationssektor sind für die Gesellschaft gefährlich. Unzulässig sind auch die Samm lung, Speicherung und Verwendung von Daten über beliebige Aspek te des Lebens der Menschen ohne deren Zustimmung. Wenn die Verteidigung des Vaterlandes, die Wahrung der Sittlichkeit, der Schutz der Gesundheit, der Rechte und legitimen Interessen der Bürger wie auch die Verhütung oder Aufklärung von Verbrechen und die Umsetzung der Rechtsprechung es erfordern, kann die personbezogene Datenspeicherung auch ohne Zustimmung des Betroffenen erfolgen. In diesen Fällen müssen jedoch der Erwerb und die Nutzung der Daten den erklärten Zielen entsprechen und unter Beachtung der Gesetze erfolgen. Die Methoden der personbezogenen Datenspeicherung und -verarbeitung dürfen die Menschenwürde nicht herabsetzen, die Freiheit einschränken und den Menschen aus einem Subjekt gesellschaftlicher Beziehungen zu einem Objekt maschineller Steuerung machen. Noch gefährlicher für die Freiheit des Menschen ist die Einführung technischer Mittel, die den Menschen ständig begleiten oder von seinem Körper nicht getrennt werden können, wenn diese zur Kontrolle und Steuerung der Person verwendet werden können.

    IV.8. Sozio-ökonomische Rechte. Das irdische Leben ist ohne die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Menschen unmöglich. In der Apostelgeschichte wird von der urchristlichen Gemeinde bekundet, daß in ihr die materielle Sorge um ihre Mitglieder besonders hoch stand (Apg 4,32-37; 6,1-6). Der rechte Gebrauch der materiellen Güter ist für die Frage des Heils nicht unbedeutend. Daher ist es notwendig, den Rech ten und Freiheiten wie dem Eigentumsrecht, dem Recht auf Arbeit, auf Schutz vor Willkür des Arbeitgebers, der Freiheit des Unternehmertums, dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard eine klare sittliche Dimension zu verleihen.

    Die Verwirklichung ökonomischer Rechte darf nicht zur Bildung einer Gesellschaft führen, in der die Nutzung materieller Güter sich zum dominierenden oder sogar einzigen Daseinsziel des Gemeinwesens verwandelt. Die Bestimmung der ökonomischen und sozialen Rechte liegt nicht zuletzt darin, eine konfliktträchtige Zersplitterung der Gesellschaft abzuwenden. Eine solche Zersplitterung steht dem Gebot der Nächstenliebe entgegen, schafft Voraussetzungen für den Sittenverfall der Gesellschaft und des einzelnen, führt zur gegenseitigen Entfremdung der Menschen und verletzt das Gerechtigkeitsprinzip.

    Eine wichtige Verantwortung der Gesellschaft ist die Fürsorge für Menschen, die nicht imstande sind, ihre materiellen Bedürfnisse sicherzustellen. Der Zugang zu Bildung und lebensnotwendiger medizinischer Hilfe darf nicht von der sozialen und wirtschaftlichen Lage eines Menschen abhängen.

    IV.9. Gemeinschaftsbezogene Rechte. Die Rechte der Einzelperson dür fen nicht zerstörerisch für die spezifische Lebensweise und die Traditionen der Familie sowie für die verschiedenen religiösen, nationalen und sozialen Gemeinschaften sein. Gott hat in die menschliche Natur das Streben des Individuums nach gemeinschaftlichem Leben gelegt (Gen 2,18). Auf dem Weg zur Erfüllung des göttlichen Willens zur Einheit des Menschengeschlechts spielen verschiedene Formen gemeinschaftlichen Lebens eine wichtige Rolle, die in nationalen, staatlichen und sozialen Vereinigungen verwirklicht werden. Die Fülle der Verwirklichung der göttlichen Gebote zur Gottes- und Nächstenliebe (Mt 22,37-39) zeigt sich jedoch in der Kirche, die ein gottmenschlicher Organismus ist.

    Am Ursprung des gemeinschaftlichen Lebens steht die Familie. Nicht umsonst spricht der heilige Apostel Paulus von der Teilhabe der Familie am Sakrament der Kirche (Eph 5,23-33). In der Familie macht der Mensch die Erfahrung der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Durch die Familie werden religiöse Traditionen, die soziale Ordnung und die nationale Kultur der Gesellschaft überliefert. Das moderne Recht muß die Familie als rechtmäßige Verbindung von Mann und Frau betrachten, in der die natürlichen Bedingungen für die normale Kindererziehung geschaffen sind. Das Gesetz ist auch berufen, die Familie als ganzheitlichen Organismus zu achten und sie vor der Zerstörung zu schützen, die durch den Verfall der Sittlichkeit hervorgerufen wird. Beim Schutz der Rechte des Kindes darf das Rechtssystem die besondere Rolle der Eltern bei der Erziehung, die von der weltanschaulichen und religiösen Erfahrung nicht zu trennen ist, nicht leugnen.

    Auch andere gemeinschaftsbezogene Rechte wie das Recht auf Frieden, auf den Schutz der Umwelt, auf die Bewahrung des kulturellen Erbes und der inneren Normen, die das Leben verschiedener Gemeinschaften ordnen, müssen unbedingt geachtet werden.

      Die Einheit und gegenseitige Verbundenheit bürgerlicher und politischer, wirtschaftlicher und sozialer, individueller und gemeinschaftsbezogener Menschenrechte vermag zu einer harmonischen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens auf nationaler wie auf internationaler Ebene beizu tragen. Der gesellschaftliche Wert und die Leistungsfähigkeit des gesamten Systems der Menschenrechte hängt davon ab, in welchem Maße es die Bedingungen für das Wachs tum der Person in der von Gott gegebenen Würde schafft und wie eng es mit der Verantwortung des Menschen für seine Taten vor Gott und den Nächsten verknüpft ist.

V. Prinzipien und Ausrichtungen der Menschenrechtstätigkeit der Russi schen Orthodoxen Kirche

   V.1. Seit frühesten Zeiten bis heute tritt die Orthodoxe Kirche vor der weltlichen Macht für Menschen ein, die ungerecht verurteilt, erniedrigt, entrechtet und ausgebeutet werden. Die barmherzige Fürsprache der Kirche erstreckt sich auch auf jene, die einer gerechten Strafe für ihre Vergehen unterliegen. Die Kirche hat auch wiederholt dazu aufgerufen, der Gewalt Einhalt zu bieten und die Gemüter zu besänftigen, wenn Konflikte entbrannt waren, in deren Verlauf die Rechte des Menschen auf Leben, Gesundheit, Freiheit und Besitz mit Füßen getreten wurden. Schließ lich haben sich orthodoxe Bischöfe, Priester und Laien in den Jahren der atheistischen Verfolgungen an die Machthaber und die Gesellschaft gewandt, um die Freiheit des Glaubensbekenntnisses zu verteidigen und für das Recht auf eine breite Beteiligung der Religionsgemeinschaften am Leben des Volkes einzutreten.

    V.2. Ebenso sind wir auch heute aufgerufen, engagiert für die Wahrung der Rechte und der Würde des Menschen einzutreten, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. Dabei sind wir uns bewußt, daß die Menschenrechte in der heutigen Welt mitunter verletzt werden und die Würde des Menschen nicht nur durch die Staatsmacht, sondern auch durch übernationale Einrichtungen, Wirtschaftsträger, pseudoreligiöse Gruppen, terroristische und andere kriminelle Vereinigungen mit Füßen getreten wird. Immer häufiger müssen Würde und Rechte des Menschen vor einer zerstörerischen Aggression durch Informationsmedien ge schützt werden.

    In unserem Einsatz für die Menschenrechte sind folgende Bereiche besonders hervorzuheben:

-   die Verteidigung des Menschenrechts auf ein freies Glaubensbekenntnis, auf den Vollzug von Gebet und Gottesdienst, auf die Wahrung der geistig-kulturellen Traditionen, das Befolgen religiöser Grundsätze im Privatleben wie auch im Bereich öffentlichen Handelns;

-   die Bekämpfung von Verbrechen aufgrund nationaler und religiöser Feind seligkeit;

-   der Schutz der Person vor Willkür durch Machthaber und Arbeitgeber so wie vor Gewalt und Erniedrigung in der Familie und am Arbeitsplatz;

-   der Schutz des Lebens, der Wahlfreiheit und des Eigentums der Menschen bei Konflikten zwischen Völkerschaften sowie Konflikten auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene;

-   die pastorale Betreuung von Militärangehörigen, die Wahrung ihrer Rechte und ihrer Würde bei Kampfhandlungen sowie beim Dienst in Friedenszeiten;

-   die Sorge für die Achtung der Würde und der Rechte von Menschen, die sich in sozialen Einrichtungen und in Haft befinden, mit besonderer Aufmerksamkeit für die Lage von Behinderten, Waisen, Betagten und anderen hilfsbedürftigen Menschen;

-   der Schutz der Rechte der Nation und ethnischer Gruppen auf ihre Religion, Sprache und Kultur;

-   der Einsatz für jene, deren Rechte, Freiheit und Gesundheit unter der Tätigkeit destruktiver Sekten leiden;

-   die Unterstützung der Familie in dem traditionellen Verständnis von Vaterschaft, Mutterschaft und Kindschaft;

-   der Widerstand gegen die Anstiftung von Menschen zu Korruption und anderen Formen von Verbrechen, sowie zu Prostitution, Drogen- und Spielsucht;

-   die Sorge um eine gerechte wirtschaftliche und soziale Ordnung der Gesellschaft;

-   die Verhinderung einer totalen Kontrolle über die menschliche Person, ihre weltanschauliche Wahl und ihr Privatleben durch Nutzung moderner Technologien und politischer Manipulationen;

-   die Erziehung zur Achtung vor dem Gesetz, die Verbreitung einer positiven Erfahrung bei der Verwirklichung und Verteidigung der Menschenrechte;

-   sachkundige Stellungnahmen zu Rechtsakten, Gesetzesinitiativen und Aktivitäten der Staatsorgane, mit dem Ziel, schwerwiegende Schädigungen der Rechte und der Würde des Menschen und den Sittenverfall in der Gesellschaft abzuwenden;

-   die Beteiligung an der gesellschaftlichen Kontrolle über die Ausführung der Gesetzesbestimmungen, insbesondere im Hinblick auf die Regelung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat, wie auch über den Vollzug gerechter Gerichtsurteile.

    V.3. Gläubige der Russischen Orthodoxen Kirche können zum Schutz der Menschenrechte tätig werden sowohl auf gesamtkirchlicher Ebene mit dem Segen der Geistlichkeit, aber auch in von Laien gegründeten gesellschaftlichen Vereinigungen, von denen viele bereits heute erfolgreich in diesem Bereich arbeiten. In ihrer Tätigkeit zum Schutz der Rechte und der Würde des Menschen bemüht sich die Kirche um Zusammenarbeit mit staatlichen und gesellschaftlichen Kräften. Bei der Wahl von Partnern in der Gesellschaft denkt sie an das Wort Christi, des Erlösers, an die Apostel: Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns (Mk 9,40).

    V.4. Christen sind dazu berufen, auf der Grundlage der kirchlichen Lehre über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen eine sittlich ausgerichtete soziale Tätigkeit zu entfalten. Diese kann in unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten, beispielsweise im Zeugnis vor der politischen Gewalt, in intellektuellen Beiträgen, in der Durchführung von Kampagnen zum Schutz bestimmter Menschengruppen und ihrer Rech te. Ohne einen revolutionären Umsturz der Welt anzustreben und im Respekt vor den Rechten anderer gesellschaftlicher Gruppen, sich auf der Grundlage ihrer weltanschaulichen Wahl an den gesellschaftlichen Reformen zu beteiligen, behalten sich orthodoxe Christen das Recht auf Mitwirkung an einer Gesellschaftsordnung vor, die ihrem Glauben und ihren sittlichen Grundsätzen nicht widerspricht. Die Russische Orthodoxe Kirche ist bereit, diese Prinzipien im Dialog mit der Weltgemeinschaft und in Zusammenarbeit mit den Gläubigen anderer traditioneller Be kenntnisse und Religionen zu verteidigen.-

Das vorliegende Dokument wurde vom Bischofskonzil der Russischen Ortho doxen Kirche als Weiterentwicklung der „Grundlagen der Sozialkonzeption" angenommen. Die kanonischen Einrichtungen, Geistliche und Laien unserer Kirche sind dazu angehalten, sich bei ihren öffentlich relevanten Auftritten und Handlungen von diesem Dokument leiten zu lassen. Es ist Bestandteil des Studiums in den Geistlichen Schulen des Moskauer Patriarchats. Das Dokument wird der brüderlichen Aufmerksamkeit der Orthodoxen Ortskirchen mit der Hoffnung empfohlen, es möge dem Wachsen in der gemeinsamen Gesinnung und der Koordination der praktischen Arbeit dienen. Auch andere christliche Kirchen und Gemeinschaften, andere Religionsgemeinschaften, staatliche Organe und gesellschaftliche Kreise verschiedener Länder sowie internationale Organisationen sind zum Studium und zur Erörterung des Dokumentes eingeladen.


[1] Gregor von Nazianz (um 329-390), Anm. d. Übers.

[2] Die liturgischen Bücher verwenden hier den Ausdruck по непорочных. Gemeint sind die kirchenslavischen Anfangsworte von Ps 119 [118] [LXX]: Блаженны непорочны ... („Wohl denen, die ohne Tadel leben"); Anm. d. Übers.

[3] Die Hervorhebungen im Original durch Fettdruck werden hier kursiv wiedergegeben; Anm. d. Übers.

[4] Соборность bezeichnet die gemeinschaftliche Verfaßtheit der Kirche, die sich in ihrer Konziliarität ausdrückt. Hier wird der Begriff auf das Zusammengehörigkeitsgefühl übertragen, das der religiösen, kulturellen und politische Gemeinschaft Halt gibt; Anm. d. Übers.

Quelle: Портал Богослов.Ru

Nach oben

Grundprinzipien der Beziehung der Russischen Orthodoxen Kirche zu Andersglaubenden

Jahr: 2000

Orignalsprache: Russisch

Übersetzer: Institut für Ökumenische Studien Fribourg

Herausgegeben: Buch "Freiheit und Verantwortung im Einklang"

Quelle: http://bogoslov.ru/de

Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche

Moskau, 13. - 16. August 2000

1.   Die Einheit der Kirche und die Sünde menschlicher Spaltungen

     1.1. Die Orthodoxe Kirche ist die wahre Kirche Christi, die von unserem Herrn und Retter Selbst geschaffen ist, die Kirche, die vom Heiligen Geist gefestigt und erfüllt wird, die Kirche, über die der Retter Selbst gesagt hat: Ich werde meine Kirche bauen, und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen (Mt 16,18). Sie ist die Eine, Heilige, Katholische [Соборная] und Apostolische Kirche, Hüterin und Spenderin der Heiligen Sakramente in der ganzen Welt, Säule und Feste der Wahrheit (1 Tim 3,15). Sie trägt die Fülle der Verantwortung für die Ausbreitung der Wahrheit des Evangeliums Christi, ebenso auch die Fülle der Vollmacht, den Glauben zu bezeugen, der einst den Heiligen anvertraut wurde (Jud 3).

     1.2. Die Kirche Christi ist die eine und einzige Kirche (hl. Cyprian von Karthago, „Von der Einheit der Kirche"). Die Einheit der Kirche - des Leibes Christi - gründet darin, daß sie ein Haupt hat, den Herrn Jesus Christus (Eph 5,3), und daß ein Heiliger Geist in ihr wirkt, der den Leib der Kirche belebt und all ihre Glieder mit Christus als ihrem Haupt vereint.

     1.3. Die Kirche ist die Einheit des „neuen Menschen in Christus". Durch Seine Fleischwerdung und Menschwerdung hat der Sohn Gottes „von Neuem eine lange Aufeinanderfolge menschlicher Wesen begonnen" (hl. Irenäus von Lyon), indem Er ein neues, gesegnetes Volk schuf, die geistliche Nachkommenschaft des Zweiten Adam. Die Einheit der Kirche überragt jede menschliche und irdische Einheit, sie ist von oben gegeben als vollkommene und göttliche Gabe. Die Glieder der Kirche sind geeint in Christus durch Ihn Selbst, geeint wie Weinreben, in Ihm eingewurzelt und in die Einheit des ewigen und geistigen Lebens gesammelt.

     1.4. Die Einheit der Kirche überwindet Barrieren und Grenzen, einschließlich die der Rassen, der Sprachen, der sozialen Unterschiede. Die Frohe Botschaft der Rettung muß allen Völkern verkündet werden, um sie in den einen Schoß zu führen, sie zu einen in der Kraft des Glaubens, durch die Gnade des Heiligen Geistes (Mt 28,19-20; Mk 16,15; Apg 1,8).

     1.5. In der Kirche sind Feindschaft und Entfremdung überwunden, vollzieht sich in Liebe die Einung der durch die Sünde getrennten Mensch heit nach dem Bild der Wesenseinen Dreifaltigkeit.

     1.6. Die Kirche ist die Einheit des Geistes im Bund des Friedens (Eph 4,3), die Fülle und Beständigkeit des Gnadenlebens und der geistlichen Erfahrung. „Wo die Kirche ist, da ist auch der Geist Gottes, und wo der Geist Gottes ist, dort ist die Kirche und alle Gnade" (hl. Irenäus von Lyon, „Adversus haereses" III, 24). In der Einheit des Gnadenlebens gründet die Einheit und Unveränderlichkeit des kirchlichen Glaubens. Immer und unveränderlich „belehrt der Heilige Geist die Kirche mit Hilfe der heiligen Väter und Lehrer. Die katholische Kirche ist unfehlbar, sie kann nicht irren und lügen, anstatt die Wahrheit zu sagen: denn der Heilige Geist, der immer durch den treuen Dienst der Väter und Lehrer der Kirche am Werk ist, behütet sie vor jeglichem Irrtum" (Schreiben der Östlichen Patriarchen, 1723).

     1.7. Die Kirche besitzt einen universalen Charakter - sie existiert in der Welt in Gestalt verschiedener Lokalkirchen, doch die Einheit der Kirche wird dabei nicht im geringsten beeinträchtigt. „Die vom Licht des Herrn durchströmte Kirche sendet über den ganzen Erdkreis ihre Strahlen aus; dennoch ist es nur ein Licht, das überallhin flutet, ohne daß die Einheit ihres Körpers getrennt wird. Ihre Zweige streckt sie in reicher Fülle aus über die ganze Erde hin, mächtig hervorströmende Bäche läßt sie immer weiter sich ergießen - bei all dem bleibt das Haupt eins, ein Anfang, eine Mutter, die reich ist am Überfluß ihrer Fruchtbarkeit" (hl. Cyprian von Karthago, „Von der Einheit der Kirche").

     1.8. Die kirchliche Einheit ist untrennbar mit dem Sakrament der Eucharistie verbunden, in dem die Gläubigen an dem Einen Leib Christi teilhaben und sich so wahrhaft und wirklich zu dem einen und katholischen Leib verbinden im Sakrament der Liebe Christi, in der verklärenden Kraft des Geistes. „Wenn wir ja ‚alle an dem einen Brot teilhaben‘, dann bilden alle einen Leib (1 Kor 10,17), denn Christus kann nicht geteilt sein. Deshalb wird die Kirche auch Leib Christi genannt, und wir sind, nach Auffassung des Apostels Paulus, die einzelnen Glieder (1 Kor 12,27)" (hl. Kyrill von Alexandrien).

     1.9. Die Eine, Heilige, Katholische Kirche ist die Apostolische Kirche. Durch das von Gott eingesetzte Priestertum werden die Gaben des Heiligen Geistes den Gläubigen mitgeteilt. Die apostolische Sukzession der Hierarchie von den heiligen Aposteln her ist das Fundament der Gemeinsamkeit und der Einheit des Gnadenlebens. Sich von der rechtmäßigen Hierarchie loszusagen, bedeutet, sich vom Heiligen Geist, von Christus Selbst loszusagen. „Alle sollt ihr dem Bischof folgen, wie Christus dem Vater, und folgt den Presbytern wie den Aposteln. Die Diakone aber ehrt wie das Gebot Gottes. Ohne den Bischof soll niemand etwas tun, was sich auf die Kirche bezieht ... Wo der Bischof ist, dort soll auch das Volk sein, ebenso wie dort, wo Christus ist, auch die katholische Kirche ist" (hl. Igna tius von Antiochien an die Smyrnäer, 8).

     1.10. Nur durch die Verbindung mit einer konkreten Gemeinde verwirklicht sich für jedes Glied der Kirche die Gemeinschaft mit der ganzen Kirche. Wenn ein Christ die kanonischen Beziehungen mit seiner Lokalkirche verletzt, schädigt er damit zugleich seine segensreiche Einheit mit dem ganzen Leib der Kirche und reißt sich von ihm los. Jede beliebige Sünde entfernt im einen oder anderen Maße von der Kirche, wenn sie auch nicht völlig von ihrer Fülle ausschließt. Im Verständnis der Alten Kirche war die Exkommunikation ein Ausschluß aus der eucharistischen Versammlung. Doch die Wiederaufnahme eines Ausgeschlossenen in die kirchliche Gemeinschaft vollzog sich niemals durch eine Wiederholung der Taufe. Der Glaube an die Unauslöschlichkeit der Taufe wird im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel bezeugt: „Ich glaube an die eine Taufe zum Nachlaß der Sünden". Der 47. Apostolische Kanon (Apostolische Konstitutionen, Buch VIII) lautet: „Wenn ein Bischof oder Presbyter jemanden von neuem tauft, der in Wahrheit die Taufe besitzt ..., dann sei er ausgeschlossen".

     1.11. Dadurch bezeugte die Kirche, daß ein Ausgeschlossener das ‚Siegel' der Zugehörigkeit zum Volk Gottes bewahrt. Indem die Kirche einen Ausgeschlossenen wieder aufnimmt, bringt sie jemanden zum Leben zurück, der schon durch den Geist in den einen Leib getauft wurde. Indem sie aus ihrer Gemeinschaft ein Glied ausschließt, das am Tag seiner Taufe von ihr besiegelt worden ist, hofft die Kirche auf seine Rückkehr. Sie betrachtet die Exkommunikation selbst als Mittel zur geistlichen Wiedergeburt des Ausgeschlossenen.

     1.12. Im Verlauf der Jahrhunderte ist das Gebot Christi zur Einheit mehrfach verletzt worden. Trotz der von Gott gebotenen katholischen Einmütigkeit und Eintracht sind im Christentum Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen entstanden. Die Kirche hat sich immer streng und grundsätzlich verhalten, sowohl gegenüber demjenigen, der gegen die Reinheit des rettenden Glaubens auftrat, als auch gegenüber demjenigen, der Spaltung und Unruhe in die Kirche hineintrug: „Wozu sind bei euch Streit, Empörung, Uneinigkeit, Spaltung und Zank? Haben wir nicht einen Gott und einen Christus, und einen Geist der Gnade, der über uns ausgegossen ist, und eine Berufung in Christus? Wozu reißen wir die Glieder Christi auseinander und scheiden sie voneinander, erheben wir uns gegen den eigenen Leib und gelangen zu einem solchen Unverstand, daß wir sogar vergessen, daß wir füreinander Glieder sind?" (hl. Klemens von Rom, Schreiben an die Korinther I,46).

     1.13. Im Verlauf der christlichen Geschichte haben sich von der Einheit mit der Orthodoxen Kirche nicht nur einzelne Christen, sondern auch ganze christliche Gemeinschaften abgespalten. Einige von ihnen sind im Laufe der Geschichte verschwunden, andere haben sich über die Jahrhunderte erhalten. Die größten bestehenden Spaltungen des ersten Jahrtausends, die bis heute andauern, vollzogen sich, als ein Teil der christ lichen Gemeinden die Entscheidungen des Dritten und Vierten Ökumenischen Konzils nicht annahm. Als Folge traten die bis heute existierenden Kirchen in ihrem Zustand der Trennung zutage: die Assyrische Kirche des Ostens, die vorchalzedonensischen Kirchen - die Koptische, Armenische, Syrisch-Jakobitische, Äthiopische und Malabarische Kirche. Im zweiten Jahrtausend folgten auf die Abspaltung der Römischen Kirche Spaltungen innerhalb der westlichen Christenheit, die mit der Reformation verbunden waren und zu einem unaufhörlichen Prozeß der Bildung zahlreicher christlicher Denominationen führten, die nicht in Gemeinschaft mit dem Römischen Stuhl stehen. Es entstanden auch Abspaltungen von der Einheit mit den Orthodoxen Lokalkirchen, darunter auch von der Russischen Orthodoxen Kirche.

     1.14. Irrtümer und Häresien sind die Folge egoistischer Selbstbehauptung und Absonderung. Jede Spaltung oder jedes Schisma führt in je verschiedenem Maße zum Abfall von der kirchlichen Fülle. Eine Spaltung, selbst wenn sie nicht aus Gründen der Glaubenslehre erfolgt, verletzt die Lehre über die Kirche und führt im Endergebnis zu Entstellungen des Glaubens.

     1.15. Die Orthodoxe Kirche bekräftigt durch den Mund der heiligen Väter, daß die Rettung nur in der Kirche Christi erlangt werden kann. Gleichzeitig aber betrachtete man die Gemeinden, die aus der Einheit mit der Orthodoxie herausgefallen waren, niemals so, als seien sie vollständig der Gnade Christi beraubt. Der Bruch der kirchlichen Gemeinschaft führt notwendig zur Schädigung des Gnadenlebens, doch nicht immer zu dessen vollständigem Verlust in den abgetrennten Gemeinden. Hier liegt der Grund für die Praxis, diejenigen, die aus andersglaubenden Gemeinschaften in die Orthodoxe Kirche kommen, nicht unbedingt durch das Sakrament der Taufe aufzunehmen. Ungeachtet der zerbrochenen Einheit bleibt eine gewisse unvollständige Gemeinschaft bestehen, die als Unterpfand der Möglichkeit dient, zur Einheit in der Kirche, in die katholische Fülle und Einheit zurückzukehren.

     1.16. Die kirchliche Situation derer, die sich in der Abspaltung befinden, läßt sich nicht eindeutig bestimmen. In der getrennten christlichen Welt gibt es einige Merkmale, die sie zur Einheit gehören lassen: das Wort Gottes, der Glaube an Christus als Gott und Retter, der im Fleisch gekommen ist (1 Joh 1,1-2; 4,2.9), und aufrichtige Frömmigkeit.

     1.17. Die Existenz verschiedener Aufnahmeriten (durch Taufe, Myron salbung, Beichte) zeigt, daß die Orthodoxe Kirche andersglaubende Konfessionen differenziert behandelt. Kriterium ist der Grad, in dem der Glaube, die Kirchenordnung und die Norm des geistlichen christlichen Lebens bewahrt sind. Wenn die Orthodoxe Kirche verschiedene Auf nahmeriten festsetzt, fällt sie jedoch kein Urteil über das Maß der Bewahrung oder Verletzung des Gnadenlebens bei den Andersglaubenden, denn sie betrachtet dies als Geheimnis der Vorsehung und des göttlichen Gerichts.

     1.18. Die Orthodoxe Kirche ist die wahre Kirche, in der die Heilige Überlieferung und die Fülle der rettenden Gnade Gottes unverletzt bewahrt sind. Sie hat das heilige Erbe der Apostel und heiligen Väter in seiner Ganzheit und Reinheit bewahrt. Sie weiß ihre Lehre, gottesdienstliche Struktur und geistliche Praxis in Übereinstimmung mit der apostolischen Frohbotschaft und mit der Überlieferung der Alten Kirche.

     1.19. Die Orthodoxie ist kein ‚national-kultureller Bestandteil' der Ostkirche. Orthodoxie - das ist die innere Qualität der Kirche, die Bewahrung der Wahrheit der Glaubenslehre, der gottesdienstlichen und hierarchischen Ordnung und der Prinzipien des geistlichen Lebens, die seit den Zeiten der Apostel ununterbrochen und unverändert in der Kirche gegenwärtig sind. Man darf nicht der Versuchung erliegen, die Vergangenheit zu idealisieren oder die tragischen Mängel und Mißerfolge zu ignorieren, die es in der Geschichte der Kirche gegeben hat. Ein Vorbild der geistigen Selbstkritik geben uns vor allem die großen Kirchenväter. Die Kirchengeschichte kennt nicht wenige Fälle, in denen ein bedeutender Teil des Kirchenvolks einer Häresie verfiel. Sie kennt aber auch den grundsätzlichen Kampf der Kirche gegen die Häresie, und sie kennt ebenso die Erfahrung der Heilung der ehemals Verirrten von der Häresie, die Erfahrung der Reue und der Rückkehr in den Schoß der Kirche. Gerade die tragische Erfahrung, daß ein unrechtes Denken im Inneren der Kirche selbst auftaucht, und die Erfahrung des Kampfes dagegen hat die Kinder der Orthodoxen Kirche Wachsamkeit gelehrt. Die Orthodoxe Kirche, die demütig bezeugt, daß sie die Wahrheit hütet, erinnert sich gleichzeitig an alle in der Geschichte aufgetretenen Ärgernisse.

     1.20. Weil das Gebot zur Einheit verletzt und so die historische Tragödie des Schismas hervorgerufen wurde, sind die zerspaltenen Christen zu einer Quelle des Ärgernisses geworden, anstatt Beispiel der Einheit in Liebe nach dem Bild der Allerheiligsten Dreifaltigkeit zu sein. Die Gespaltenheit der Christen erwies sich als offene und blutende Wunde am Leib Christi. Die Tragödie der Spaltungen wurde zu einer ernsten sichtbaren Entstellung der christlichen Universalität, zum Hindernis im Werk der Bezeugung Christi vor der Welt. Denn die Wirksamkeit dieses Zeugnisses der Kirche Christi hängt in nicht geringem Maße von der Gestaltwerdung der durch sie verkündeten Wahr heiten im Leben und in der Praxis der christlichen Gemeinden ab.

2. Das Streben nach Wiederherstellung der Einheit

     2.1. Das wichtigste Ziel in den Beziehungen der Orthodoxen Kirche zu Andersglaubenden ist die Wiederherstellung der von Gott gebotenen Einheit der Christen (Joh 17,21), die zum Göttlichen Plan und zum Wesen des Christentums selbst gehört. Diese Aufgabe ist von erstrangiger Bedeutung für die Orthodoxe Kirche auf allen Ebenen ihrer Existenz.

     2.2. Gleichgültigkeit in Bezug auf diese Aufgabe oder deren Ablehnung ist eine Sünde gegen das Gebot Gottes zur Einheit. Nach den Worten des heiligen Bischofs Basilius des Großen „müssen diejenigen, die aufrichtig und wahrhaft für den Herrn arbeiten, ihr Bemühen einzig darauf lenken, die Kirchen, die in so vielfacher Weise untereinander zerspalten sind, wieder zur Einheit zurückzubringen".

     2.3. Doch indem sie die Wiederherstellung der zerstörten christlichen Einheit für notwendig erachtet, bekräftigt die Orthodoxe Kirche, daß die wahre Einheit nur im Schoß der Einen, Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche möglich ist. Alle anderen ‚Modelle' der Einheit sind unannehmbar.

     2.4. Die Orthodoxe Kirche kann die These nicht annehmen, daß ungeachtet der historischen Spaltungen die grundlegende tiefe Einheit der Christen angeblich nicht verletzt worden sei und daß die Kirche so verstanden werden müsse, als falle sie mit der gesamten ‚christlichen Welt' zusammen, daß die christliche Einheit angeblich jenseits der Barrieren der Denominationen existiere und die Zerspaltenheit der Kirchen ausschließlich auf das unvollkommene Niveau menschlicher Beziehungen zurückzuführen sei. Nach dieser Konzeption bleibt die Kirche geeint, diese Einheit tritt jedoch nur unzureichend in sichtbaren Formen in Erscheinung. In einem solchen Einheitsmodell wird die Aufgabe der Christen nicht als Wiederherstellung der verlorenen Einheit verstanden, sondern als Aufdeckung einer Einheit, die unveräußerlich existiert. In diesem Modell wiederholt sich die in der Reformation aufgekommene Lehre von der ‚unsichtbaren Kirche'.

     2.5. Vollkommen unannehmbar und mit der eben dargelegten Konzeption verbunden ist die sogenannte ‚Branchtheorie', die die Normalität und sogar Providentialität eines Christentums behauptet, das in der Gestalt einzelner ‚Zweige' existiert.

     2.6. Für die Orthodoxie unannehmbar ist die Behauptung, die christlichen Spaltungen seien eine unvermeidliche Unvollkommenheit der christlichen Geschichte, sie existierten nur an der geschichtlichen Oberfläche und könnten mit Hilfe von kompromißhaften Übereinkünften der Denominationen untereinander geheilt oder überwunden werden.

     2.7. Die Orthodoxe Kirche kann keine ‚Gleichheit der Denominationen' anerkennen. Die von der Kirche Abgefallenen können nicht in dem Zustand wieder mit ihr vereinigt werden, in dem sie sich jetzt befinden, die vorhandenen dogmatischen Divergenzen müssen überwunden werden, nicht einfach umgangen. Das bedeutet, daß der Weg zur Einheit ein Weg der Buße, der Umkehr und der Erneuerung ist.

     2.8. Unannehmbar ist der Gedanke, alle Spaltungen seien nur tragische Mißverständnisse, die Uneinigkeiten erschienen als unversöhnlich nur aus Mangel an Nächstenliebe, aus fehlendem Willen zum Verstehen, bei aller Unterschiedenheit und Unähnlichkeit bestünde eine hinreichende Einheit und Übereinstimmung ‚im Wesentlichen'. Die Spaltungen können nicht auf menschliche Leidenschaften, Egoismus oder mehr noch auf kulturelle, soziale oder politische Umstände zurückgeführt werden. Ebenso unannehmbar ist die Behauptung, die Orthodoxie unterscheide sich von den christlichen Gemeinschaften, mit denen sie nicht in Communio steht, durch Fragen zweitrangigen Charakters. Man kann nicht alle Spaltungen und Meinungsverschiedenheiten auf verschiedene nicht-theologische Fak toren zurückführen.

     2.9. Die Orthodoxe Kirche weist auch die These zurück, es genüge, die Einheit der christlichen Welt auf dem Weg des gemeinsamen christlichen Dienstes für die Welt wiederherzustellen. Die christliche Einheit kann nicht durch eine Übereinstimmung in weltlichen Fragen wiederhergestellt werden, bei der die Christen sich im Zweitrangigen einig sind und im Grundlegenden weiterhin uneinig bleiben.

     2.10. Unzulässig ist es, die Übereinstimmung im Glauben auf einen engen Kreis unverzichtbarer Wahrheiten einzuschränken und außerhalb dieser Grenzen ‚im Zweifelsfall Freiheit' zulassen. Unannehmbar ist die grundsätzliche Einstellung der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Auffassungen im Glauben. Dabei dürfen jedoch die Einheit des Glaubens und die Formen seines Ausdrucks nicht verwechselt werden.

     2.11. Die Spaltung der christlichen Welt ist eine Spaltung in der Glaubenserfahrung selbst, nicht nur in Lehrformulierungen. Es muß eine volle und aufrichtige Übereinstimmung in der eigentlichen Glaubenserfahrung und nicht nur in ihrem formalen Ausdruck erlangt werden. Die formale Einheit des Glaubensbekenntnisses schöpft die Einheit der Kirche nicht aus, wenngleich sie eine ihrer notwendigen Bedingungen ist.

     2.12. Die Einheit der Kirche ist vor allem Einheit und Gemeinschaft in den Sakramenten. Aber die wahrhafte Gemeinschaft in den Sakramenten hat nichts mit der Praxis der sogenannten ‚Interkommunion' gemein. Einheit kann nur verwirklicht werden in der Übereinstimmung der Gnadenerfahrung und des Lebens, im Glauben der Kirche, in der Fülle des sakramentalen Lebens im Heiligen Geist.

     2.13. Die Wiederherstellung der christlichen Einheit im Glauben und in der Liebe kann nur von oben kommen, als Gabe des Allmächtigen Gottes. Die Quelle der Einheit liegt in Gott, und deshalb werden alle bloß menschlichen Bemühungen zu ihrer Wiederherstellung vergeblich sein, denn wenn nicht der Herr das Haus errichtet, mühen sich vergeblich, die daran bauen (Ps 127 [126],1). Nur unser Herr Jesus Christus, der uns das Gebot zur Einheit gegeben hat, ist es auch, der uns die Kräfte zu dessen Erfüllung schenken kann, denn Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6). Aufgabe der orthodoxen Christen ist es, mit Gott am Werk der Rettung in Christus mitzuarbeiten.

3. Das Orthodoxe Zeugnis für die andersglaubende Welt

     3.1. Die Orthodoxe Kirche ist die Hüterin der Überlieferung und der Gnadengaben der Alten Kirche, und deshalb sieht sie ihre Hauptaufgabe in den Beziehungen zu Andersglaubenden in dem beständigen und nachdrücklichen Zeugnis, das zur Erschließung und Annahme der Wahrheit führt, die in dieser Überlieferung Ausdruck findet. Wie es im Beschluß der Dritten Vorkonziliaren Panorthodoxen Konferenz (1986) heißt: „In der tiefen Überzeugung und in dem kirchlichen Selbstbewußtsein, daß sie Trägerin und Zeugin des Glaubens und der Überlieferung der Einen, Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche ist, glaubt die Orthodoxe Kirche fest, daß sie in der heutigen Welt einen zentralen Platz im Werk der Bewegung auf die Einheit der Christen hin einnimmt ... Sendung und Pflicht der Orthodoxen Kirche ist die Unterweisung in der ganzen Fülle der Wahrheit, die in der Heiligen Schrift und der Heiligen Überlieferung enthalten ist und die der Kirche ihren universalen Charakter verleiht ... Diese Verantwortung der Orthodoxen Kirche, ebenso wie auch ihre ökumenische Sendung in Bezug auf die Einheit der Kirche, sind auf den Ökumenischen Konzilien zum Ausdruck gebracht worden. Diese Konzilien haben insbesondere die untrennbare Verbindung des rechten Glaubens mit der Gemeinschaft in den Sakramenten betont. Die Orthodoxe Kirche hat sich immer bemüht, die verschiedenen christlichen Kirchen und Konfessionen in die gemeinsame Suche nach der verlorenen Einheit der Christen einzubinden, damit alle zur Vereinigung des Glaubens gelangen".

     3.2. Der Auftrag zum orthodoxen Zeugnis ist jedem Glied der Kirche auferlegt. Orthodoxe Christen müssen sich klar bewußt sein, daß der von ihnen bewahrte und bekannte Glaube einen allumfassenden, universalen Charakter besitzt. Die Kirche ist nicht nur berufen, ihre Kinder zu lehren, sondern auch demjenigen, der sie verlassen hat, die Wahrheit zu bezeugen. Doch wie sollen sie Den anrufen, Den sie nicht im Glauben erkannt haben? wie an Den glauben, von Dem sie nicht gehört haben? wie hören, ohne einen, der verkündigt? (Röm 10,14). Pflicht der orthodoxen Christen ist es, von der Wahrheit Zeugnis abzulegen, die für immer der Kirche anvertraut worden ist, denn nach einem Ausdruck des Apostels Paulus sind wir Mitarbeiter Gottes (1 Kor 3,9).

4. Der Dialog mit Andersglaubenden

     4.1. Die Russische Orthodoxe Kirche führt bereits seit mehr als zwei Jahrhunderten einen theologischen Dialog mit Andersglaubenden. Charakteristisch für diesen Dialog ist die Verbindung von dogmatischer Prinzipientreue und geschwisterliche Liebe. Dieses Prinzip wurde formuliert im „Antwortschreiben des Heiligen Synod des Ökumenischen Patriarchats" (1903), bezüglich der Methode des theologischen Dialogs mit Anglikanern und Altkatholiken: In der Beziehung zu Andersglaubenden „müssen vorhanden sein die geschwisterliche Bereitschaft, ihnen durch Erläuterungen zu helfen, die ständige Aufmerksamkeit für ihre besten Bestrebungen, die größtmögliche Nachsicht bei Verständnislosigkeit, die angesichts der jahrhundertelangen Spaltungen natürlich ist, gleichzeitig jedoch das feste Bekenntnis der Wahrheit unserer Allumfassenden Kirche als der einzigen Hüterin des Erbes Christi und des einzigen rettenden Schreins der Göttlichen Gnade ... Unsere Aufgabe in der Beziehung zu ihnen muß darin bestehen, ohne ihnen durch unangebrachte Unduldsamkeit und Mißtrauen überflüssige Hindernisse für die Vereinigung in den Weg zu legen ..., ihnen unseren Glauben und die unabänderliche Überzeugung zu erschließen, daß nur unsere östliche orthodoxe Kirche das ganze Unterpfand Christi unversehrt bewahrt hat und gegenwärtig die allumfassende Kirche ist, und ihnen dadurch wahrhaft zu zeigen, was sie im Blick haben müssen und wozu sie sich zu entscheiden haben, wenn sie wirklich an die rettende Kraft des Lebens in der Kirche glauben und aufrichtig die Einigung mit ihr ersehnen".

     4.2. Eine charakteristische Besonderheit der Dialoge, die von der Russischen Orthodoxen Kirche mit Andersglaubenden geführt werden, ist ihr theologischer Charakter. Aufgabe des theologischen Dialogs ist es, den andersglaubenden Partnern das ekklesiologische Selbstverständnis der Orthodoxen Kirche, die Grundlagen ihrer Glaubenslehre, der kanonischen Ordnung und der geistlichen Tradition zu erklären, Verständnislosigkeit und vorhandene Klischees zu zerstreuen.

     4.3. Die Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche führen die Dialoge mit Andersglaubenden auf der Grundlage der Treue zur apostolischen und patristischen Überlieferung der Orthodoxen Kirche, zur Lehre der Ökumenischen und der Lokalen Konzilien. Dabei sind alle dogmatischen Zugeständnisse und Kompromisse im Glauben ausge schlossen. Keinerlei Dokumente und Materialien der theologischen Dialoge und Gespräche besitzen verbindliche Kraft für die Orthodoxen Kirchen, bevor sie nicht endgültig durch die Orthodoxe Kirche in ihrer ganzen Fülle bestätigt sind.

     4.4. Vom Standpunkt der Orthodoxen aus ist für die Andersglaubenden der Weg zur Wiedervereinigung ein Weg der Heilung und der Umgestaltung des dogmatischen Bewußtseins. Auf diesem Weg müssen von neuem die Themen bedacht werden, die in der Zeit der Ökumenischen Konzilien erörtert wurden. Wichtig im Dialog mit Andersglaubenden ist das Studium des geistlichen und theologischen Erbes der heiligen Väter, der Verkünder des Glaubens.

     4.5. Das Zeugnis kann kein Monolog sein, es setzt Hörer, es setzt gemeinschaftlichen Umgang voraus. Ein Dialog bedeutet zwei Seiten, gegenseitige Offenheit für den Austausch, Bereitschaft zum Verstehen, nicht nur offene Ohren, sondern auch ein weit gewordenes Herz (2 Kor 6,11). Gerade deshalb muß die Frage der theologischen Sprache, des Verstehens und der Interpretation zu einem der wichtigsten Themen im Dialog der orthodoxen Theologie mit Andersglaubenden werden.

     4.6. Überaus erfreulich und inspirierend ist die Tatsache, daß das theologische Denken der Andersglaubenden in Gestalt seiner besten Vertreter ein aufrichtiges und tiefes Interesse am Studium des patristischen Erbes, der Glaubenslehre und der Ordnung der Alten Kirche an den Tag legt. Gleichzeitig ist festzustellen, daß in den gegenseitigen Beziehungen zwischen der orthodoxen und der andersglaubenden Theologie viele ungelöste Probleme und Meinungsverschiedenheiten bestehen bleiben. Überdies bedeutet selbst eine formale Ähnlichkeit in vielen Aspekten des Glaubens noch nicht eine wirkliche Einheit, da die Elemente der Glaubenslehre in der orthodoxen Tradition und in der andersglaubenden Theologie je verschieden interpretiert werden.

     4.7. Der Dialog mit Andersglaubenden hat von neuem Verständnis dafür geweckt, daß die eine katholische Wahrheit und Norm in verschiedenen sprachlich-kulturellen Kontexten in unterschiedlichen Formen ausgedrückt und ausgestaltet werden kann. Im Laufe des Dialogs muß man unbedingt die Eigenart des Kontextes von einer tatsächlichen Ab weichung von der katholischen Fülle unterscheiden können. Die Frage nach den Grenzen der Vielfalt in der einen katholischen Überlieferung muß untersucht werden.

     4.8. Im Rahmen der theologischen Dialoge soll die Schaffung gemeinsamer Forschungszentren, -gruppen und -programme empfohlen werden. Als wichtig sind zu betrachten die regelmäßige Durchführung gemeinsamer theologischer Konferenzen, Seminare und wissenschaftlicher Begegnungen, der Austausch von Delegationen, der Austausch von Publikationen und die gegenseitige Information, die Entwicklung gemeinsamer Publikationsprogramme. Große Bedeutung besitzt auch der Austausch von Spezialisten, Dozenten und Theologen.

     4.9. Hohe Bedeutung hat die Entsendung von Theologen der Russischen Orthodoxen Kirche in die führenden Zentren der andersglaubenden theologischen Wissenschaft. Ebenso notwendig ist es, andersglaubende Theologen in die Geistlichen Schulen und Lehranstalten der Russischen Orthodoxen Kirche zum Studium der orthodoxen Theologie einzuladen. In den Programmen der Geistlichen Schulen der Russischen Orthodoxen Kirche ist der Erforschung des Verlaufs und der Resultate der theologischen Dialoge große Aufmerksamkeit zu widmen, ebenso dem Studium anderer Glaubensrichtungen.

     4.10. Außer über die eigentlich theologischen Themen soll der Dialog auch über das breite Spektrum von Fragen der Wechselwirkung von Kirche und Welt geführt werden. Eine wichtige Tendenz in der Entwicklung der Beziehungen mit den Andersglaubenden ist die gemeinsame Arbeit im Bereich des Dienstes an der Gesellschaft. Dort, wo dies nicht in Widerspruch zur Glaubenslehre und zur geistlichen Praxis gerät, sollen gemeinsame Programme für religiöse Bildung und Katechese entwickelt werden.

     4.11. Eine Besonderheit der bilateralen theologischen Dialoge im Unterschied zu den multilateralen Beziehungen und zur Mitwirkung in interchristlichen Organisationen besteht darin, daß diese Dialoge von der Russischen Orthodoxen Kirche in dem Umfang und in den Formen gestaltet werden, die der Kirche zum jeweiligen Zeitpunkt am geeignetsten erscheinen. Maßstab und Kriterium sind hier die Erfolge des Dialogs selbst, die Bereitschaft der Partner, beim Dialog die Position der Russischen Orthodoxen Kirche innerhalb des umfassenden (nicht nur theolo gischen) Spektrums der kirchlich-gesellschaftlichen Probleme zu berücksichtigen.

5.   Die multilateralen Dialoge und die Teilnahme an der Arbeit interchristlicher Organisationen

     5.1. Die Russische Orthodoxe Kirche führt Dialoge mit Andersglaubenden nicht nur auf bilateraler, sondern auch auf multilateraler Ebene, darunter auch mit panorthodoxer Vertretung, und sie nimmt auch an der Arbeit interchristlicher Organisationen teil.

     5.2. In der Frage der Mitgliedschaft in den verschiedenen christlichen Organisationen sind folgende Kriterien zu berücksichtigen: Die Russische Orthodoxe Kirche kann nicht an internationalen (regionalen/nationalen) christlichen Organisationen mitwirken, in denen a) die Satzung, die Vorschriften oder die Verfahrensweise eine Absage an die Glaubenslehre oder die Tradition der Orthodoxen Kirche erfordern, b) die Orthodoxe Kirche nicht die Möglichkeit hat, sich als die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche zu bezeugen, c) die Weise der Beschlußfassung dem ekklesiologischen Selbstverständnis der Orthodoxen Kirche nicht ent spricht, d) Vorschriften und Verfahrensweise der ‚Mehrheitsmeinung' Verbindlichkeit zusprechen.

     5.3. Grad und Formen der Mitwirkung der Russischen Orthodoxen Kirche in internationalen christlichen Organisationen müssen deren innere Dynamik, die Tagesordnung, die Prioritäten und den Charakter dieser Organisationen im Ganzen berücksichtigen.

     5.4. Umfang und Maß der Mitwirkung der Russischen Orthodoxen Kirche an internationalen christlichen Organisationen werden von der Kirchenleitung bestimmt, ausgehend von Erwägungen des kirchlichen Nutzens.

     5.5. Die Orthodoxe Kirche unterstreicht den Vorrang des theologischen Dialogs, der Erörterung der Normen des Glaubens, der kirchlichen Ordnung und der Prinzipien des geistlichen Lebens; ebenso wie andere Orthodoxe Lokalkirchen hält sie es für möglich und nützlich, an der Arbeit verschiedener internationaler Organisationen im Bereich des Weltdienstes mitzuwirken: in der Diakonie, im sozialen Dienst, im Einsatz für den Frieden. Die Russische Orthodoxe Kirche arbeitet mit verschiedenen christlichen Denominationen und internationalen christlichen Organisationen zusammen in dem Anliegen, angesichts der säkularen Gesellschaft ein gemeinsames Zeugnis abzulegen.

     5.6. Die Russische Orthodoxe Kirche unterhält Arbeitsbeziehungen auf der Ebene von Mitgliedschaft oder Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten internationalen christlichen Organisationen, aber auch mit regionalen und nationalen Kirchenräten und christlichen Organisationen, die sich im Bereich der Diakonie, der Jugendarbeit oder des Einsatzes für den Frieden spezialisieren.

6.  Die Beziehungen der Russischen Orthodoxen Kirche zu Andersglaubenden auf ihrem kanonischen Territorium

     6.1. Die Beziehungen der Russischen Orthodoxen Kirche zu andersglaubenden christlichen Gemeinschaften in den Ländern der GUS und des Baltikums sind zu verwirklichen im Geist geschwisterlicher Zusammenarbeit der Orthodoxen Kirche mit anderen traditionellen Konfessionen bei Zielsetzungen in der Koordination der Tätigkeit im gesellschaftlichen Leben, in der gemeinsamen Verteidigung der christlichen sittlichen Werte, im Dienst an der gesellschaftlichen Eintracht, zur Beendigung des Proselytismus auf dem kanonischen Territorium der Russischen Ortho doxen Kirche.

     6.2. Die Russische Orthodoxe Kirche besteht darauf, daß die Mission der traditionellen Konfessionen nur dann möglich ist, wenn sie ohne Proselytismus erfolgt und nicht auf Kosten einer ‚Abwerbung' von Gläubigen, besonders durch Einsatz materieller Güter. Die christlichen Gemeinden in den Ländern der GUS und des Baltikums sind aufgerufen, ihre Bemühungen im Bereich der Versöhnung und der sittlichen Erneuerung der Gesellschaft zu vereinen, ihre Stimme zum Schutz des menschlichen Lebens und der Menschenwürde zu erheben.

     6.3. Die Orthodoxe Kirche macht einen klaren Unterschied zwischen andersglaubenden Konfessionen, die den Glauben an die Heilige Dreifaltigkeit und die Gottmenschheit Jesu Christi bekennen, und Sekten, die grundlegende christliche Dogmen ablehnen. Die Orthodoxe Kirche gesteht andersglaubenden Christen das Recht zum Zeugnis und zur religiösen Bildung innerhalb der Bevölkerungsgruppen zu, die traditionell zu ihnen gehören, schreitet jedoch gegen jede destruktive missionarische Tätigkeit der Sekten ein.

7.   Die inneren Aufgaben im Rahmen des Dialogs mit Andersglaubenden

     7.1. Die Orthodoxen weisen Ansichten zurück, die unter dem Gesichtspunkt der orthodoxen Glaubenslehre fehlerhaft sind, sie sind jedoch aufgerufen, sich mit christlicher Liebe den Menschen gegenüber zu verhalten, die diese Ansichten vertreten. Im Umgang mit Andersglaubenden legen die Orthodoxen Zeugnis ab von dem Mysterium der Orthodoxie, von der Einheit der Kirche. Wenn sie die Wahrheit bezeugen, sollen die Orthodoxen ihres Zeugnisses würdig sein. Beleidigungen an die Adres se Andersglaubender sind unzulässig.

     7.2. Es ist notwendig, die kirchliche Öffentlichkeit zuverlässig und qualifiziert über den Verlauf, die Aufgaben und Perspektiven der Kontakte und des Dialogs der Russischen Orthodoxen Kirche mit Andersglaubenden zu informieren.

     7.3. Die Kirche verurteilt jene, die unzuverlässige Informationen benutzen und damit vorsätzlich den Auftrag des Zeugnisses der Orthodoxen Kirche für die andersglaubende Welt entstellen und bewußt die Kirchenleitung verleumden, indem sie ihr ‚Verrat an der Orthodoxie' vorwerfen. Gegen solche Menschen, die den Samen des Ärgernisses unter den einfachen Gläubigen säen, müssen kanonische Maßnahmen ergriffen werden. In dieser Hinsicht sind die Beschlüsse der Panorthodoxen Zusammenkunft in Thessalonike (1998) leitend: „Die Delegierten haben einstimmig jene spalterischen Gruppen verurteilt, aber auch bestimmte extremistische Gruppen innerhalb der Orthodoxen Lokalkirchen, Gruppen, die das Thema der Ökumene benutzen, um die Kirchenleitung zu kritisieren und deren Autorität zu untergraben, und die damit versuchen, Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen in der Kirche hervorzurufen. Zur Unterstützung ihrer unberechtigten Kritik benutzen sie nicht der Wahrheit entsprechende Materialien und Fehlinformationen. Die Delegierten hoben auch hervor, daß die orthodoxe Teilnahme an der Ökumenischen Bewegung immer auf der Orthodoxen Überlieferung, auf den Beschlüssen der Heiligen Synoden der Orthodoxen Lokalkirchen und der panorthodoxen Zusammenkünfte gegründet war und ist ... Die Teilnehmer sind einmütig von der Notwendigkeit überzeugt, die Teilnahme an den verschiedenen Formen interchristlicher Tätigkeit fortzusetzen. Wir haben kein Recht, die Sendung aufzugeben, die uns von unserem Herrn Jesus Christus auferlegt wurde - die Sendung, die Wahrheit vor der nicht-orthodoxen Welt zu bezeugen. Wir dürfen die Beziehungen zu den Christen anderer Konfessionen, die bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten, nicht abbrechen ... Während der vielen Jahrzehnte der orthodoxen Teilnahme an der Ökumenischen Bewegung hat keiner der (offiziellen) Vertreter irgendeiner Orthodoxen Lokalkirchen jemals die Orthodoxie verraten. Im Gegenteil, diese Vertreter haben ihren kirchlichen Obrigkeiten immer vollkommene Treue und Gehorsam bewahrt und in voller Übereinstimmung mit den kanonischen Vorschriften, der Lehre der Ökumenischen Konzilien und der Kirchenväter sowie mit der Heiligen Überlieferung der Orthodoxen Kirche gehandelt". Eine Gefahr für die Kirche stellen auch jene dar, die an interchristlichen Kontakten teilnehmen und im Namen der Russischen Orthodoxen Kirche ohne den Segen der orthodoxen Obrigkeit auftreten, und ebenso jene, die ein Ärger nis mitten in die Orthodoxie hineintragen, indem sie in kanonisch unzulässiger Weise in die sakramentale Gemeinschaft mit Andersglaubenden eintreten.

Schluss

Das vergangene Jahrtausend war gezeichnet durch die Tragödie der Spaltung, der Feindschaft und der Entfremdung. Im 20. Jahrhundert haben die getrennten Christen das Bestreben bekundet, die Einheit der Kirche Christi wiederzuerlangen. Die Russische Orthodoxe Kirche hat mit der Bereitschaft geantwortet, einen Dialog der Wahrheit und der Liebe mit den andersglaubenden Christen zu führen, einen Dialog, der vom Ruf Christi und vom gottgebotenen Ziel der christlichen Einheit beseelt ist. Und heute, an der Schwelle des dritten Jahrtausends seit dem Tag der Geburt unseres Herrn und Retters Jesus Christus im Fleisch, ruft die Orthodoxe Kirche von neuem mit Liebe und Nachdruck all jene, für die der gesegnete Name Jesu Christi höher steht als alle Namen unter dem Himmel (Apg 4,12), zur seligen Einheit in der Kirche auf: Unser Mund ist für euch aufgetan ..., unser Herz ist weit geworden (2 Kor 6,11).

Anhang:

Geschichte und Eigenart der theologischen Dialoge mit Andersglaubenden

Die erste Erfahrung der Russischen Orthodoxen Kirche mit dem Eintritt in einen Dialog mit der andersglaubenden Christenheit fällt auf den Beginn des 18. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt ein theologischer Dialog zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und andersglaubenden Christen - Anglikanern, Altkatholiken und Vorchalzedonensern. Die Kontakte mit der Anglikanischen Kirche wurden in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Nordamerika wirksam, wo sich orthodoxe Gemeinden in enger Berührung mit der Episkopalkirche der Vereinigten Staaten befanden. Das nächste Mal wurde die Frage nach einer Annäherung von Anglikanern und Orthodoxen in den Verhandlungen der Jahre 1895-1897 gestellt, dann wieder zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Teilnahme von Metropolit Tichon, dem künftigen Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus'. Wichtig bei der Ausarbeitung der theologischen Grundlagen für den Dialog mit Andersglaubenden waren die Verhandlungen zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und der Altkatholischen Kirche im Rahmen der Kommission von Petersburg und Rotterdam (1892-1914). Der Beginn des Ersten Weltkriegs und die darauf folgende Revolution von 1917 unterbrachen den offiziellen Dialog der Russischen Orthodoxen Kirche mit den Anglikanern und Altkatholiken. In dieser Zeit wurde der Dialog mit den Andersglaubenden mit den Kräften der russischen orthodoxen Diaspora weitergeführt. Die Russische Orthodoxe Kirche konnte die theologischen Dialoge erst in den fünfziger Jahren wieder aufnehmen. So trat die Russische Orthodoxe Kirche auf bilateraler Ebene in Dialoge mit der Kirche Englands (1956), mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (1959), mit der römisch-katholischen Kirche (1967), der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands (1970). Die Russische Orthodoxe Kirche nimmt am theologischen Dialog mit Andersglaubenden auch auf panorthodoxer Ebene teil: mit der Anglikanischen Kirche (1976), der Altkatholischen Kirche (1975), der römisch-katholischen Kirche (1979), mit den Altorientalischen (vorchalze donensischen) Kirchen (1985), dem Lutherischen Weltbund (1981), dem Reformierten Weltbund (1986).

Die Beziehungen zu den Altorientalischen (vorchalzedonensischen) Kirchen

Die Russische Orthodoxe Kirche nimmt auf panorthodoxer Ebene am Dialog mit den vorchalzedonensischen Kirchen seit dem Jahre 1961 teil, anfangs im Rahmen inoffizieller Begegnungen, seit 1985 im offiziellen theologischen Dialog in Gestalt von Vertretern, die der Gemischten Theo logischen Kommission angehören. Ergebnis dieser mehrjährigen Bemühungen um eine Beurteilung von Ursachen und Charakter der Spaltung, die zwischen der Orthodoxen Kirche und den Kirchen besteht, die die Bestimmungen des Vierten Ökumenischen Konzils (von Chalzedon) nicht angenommen haben, ist das Dokument „Zweite gemeinsame Erklärung und Vorschläge an die Kirchen" (Chambésy/Schweiz, 1990).

     Für die Zwischenergebnisse des panorthodoxen Dialogs mit den vorchalzedonensischen Kirchen und das in seinem Verlauf ausgearbeitete Dokument gilt der Beschluß des Bischofskonzils der Russischen Ortho doxen Kirche von 1997: „Wir haben die Information über den Verlauf des Dialogs zwischen der Orthodoxen und den Altorientalischen (vorchalze donensischen) Kirchen aufmerksam zur Kenntnis genommen und begrüßen den Geist der Geschwisterlichkeit, des gegenseitigen Einverständnisses und des gemeinsamen Bestrebens, der apostolischen und patristischen Überlieferung treu zu sein, der von der Gemischten Theologischen Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Orthodoxen Kirche und den Altorientalischen Kirchen in dem Dokument ‚Zweite gemeinsame Erklärung und Vorschläge an die Kirchen' (Chambésy/Schweiz, 1990) zum Ausdruck gebracht wurde. Die ‚Erklärung' darf nicht als abschließendes Dokument betrachtet werden, das genügte, um die volle Gemeinschaft zwischen der Orthodoxen Kirche und den Altorientalischen Kirchen wiederherzustellen, denn sie enthält Unklarheiten in einzelnen christologischen Formulierungen. In diesem Zusammenhang wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß die christologischen Formulierungen noch weiter präzisiert werden im Verlauf der Untersuchung von Fragen liturgischen, seelsorglichen und kanonischen Charakters, aber auch von Fragen, die sich auf die Wiederherstellung der kirchlichen Gemeinschaft zwischen den beiden Familien der Kirchen östlich-orthodoxer Tradition beziehen". Ausgehend von dem zitierten Beschluß des Bischofskonzils traf der Heilige Synod in der Sitzung vom 30. März 1999 die Entscheidung, den theologischen Dialog der Russischen Orthodoxen Kirche mit den vorchalzedonensischen Kirchen auf bilateraler Ebene fortzusetzen.

Die Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche

Der Dialog mit der römisch-katholischen Kirche wurde geführt und wird auch in Zukunft zu führen sein unter Berücksichtigung der wesentlichen Tatsache, daß sie eine Kirche ist, in der die apostolische Sukzession der Handauflegung gewahrt ist. Gleich zeitig ist es unumgänglich, die Eigenart der Entwicklung in den Grundlagen der Glaubenslehre und des Ethos der römisch-katholischen Kirche zu beachten, die nicht selten entgegen der Überlieferung und der geistlichen Erfahrung der Alten Kirche erfolgte.

     Der theologische Dialog mit der römisch-katholischen Kirche muß sich parallel zur Urteilsbildung über die größten Alltagsprobleme der beiderseitigen Beziehungen entfalten. Das wichtigste Thema des Dialogs bleibt heute die Frage der Union und des Proselytismus.

     Gegenwärtig und in nächster Zukunft ist eine der aussichtsreichsten Formen der Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche die Stärkung der bestehenden regionalen Beziehungen mit den Diözesen und Gemeinden der römisch-katholischen Kirche. Eine andere Form der Zusammenarbeit kann die Aufnahme von Beziehungen und die Entwicklung schon bestehender Beziehungen zu den katholischen Bischofskon ferenzen sein.

Die Beziehungen der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Anglikanern

besitzen einen besonderen Charakter, bedingt sowohl durch ihr langes Bestehen wie durch den besonderen Geist des Interesses und der gegenseitigen Achtung und Aufmerksamkeit, in dem sie traditionell geführt wurden. Nachdem der Dialog mit den Anglikanern durch den revolutionären Machtwechsel in Rußland unterbrochen worden war, wurde er im Jahre 1956 in Moskau auf einer theologischen Konferenz wieder aufgenommen, bei der folgende Themen erörtert wurden: „Die gegenseitigen Beziehungen der Russischen Orthodoxen Kirche und der Anglikanischen Kirche", „Die Heilige Schrift und die Heilige Überlieferung", „Die Lehre und ihre Formulierung", „Das Glaubensbekenntnis und die Konzilien", „Die Sakramente, ihr Wesen und ihre Anzahl", „Orthodoxe Bräuche". Seit 1976 nimmt die Russische Orthodoxe Kirche an dem panorthodoxen Dialog mit den Anglikanern teil. Im Jahre 1976 wurde eine einvernehm liche Erklärung zu sieben Teilbereichen verabschiedet: 1) Gotteserkenntnis, 2) Göttliche Inspiriertheit und Autorität der Schrift, 3) Heilige Schrift und Heilige Überlieferung, 4) Die Autorität der Ökumenischen Konzilien, 5) Das filioque, 6) Die Kirche als eucharistische Gemeinschaft, 7) Die Herabrufung des Heiligen Geistes in der Eucharistie. Als Ergebnis des Dialogs wurde von den anglikanischen Teilnehmern der Beschluß gefaßt, das Glaubensbekenntnis ohne filioque zu verwenden. Im weiteren Dialog wurden Themen erörtert wie: das Sakrament der Kirche, die Kennzeichen der Kirche, Gemeinschaft und Interkommunion, die Entfaltung des Amtes in der Kirche, Zeugnis, Evangelisierung, Dienst, Trinitätslehre, Gebet und Heiligkeit, Teilhabe an der Gnade der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, Gebet, Gebet und Überlieferung, Gottesdienst und Weitergabe des Glaubens, Gemeinschaft der Heiligen, Ikonenverehrung.

     Wesentlicher Schaden wurde der erfolgreichen und Fortschritte verzeichnenden Entwicklung des Dialogs zugefügt, als auf anglikanischer Seite die Praxis der Priester- und Bischofsweihe von Frauen aufkam, die der Tradition der Kirche fremd ist. Doch ungeachtet der aufgetretenen Schwie rigkeit, die das Niveau und die kirchliche Bedeutung des Dialogs senkte, muß dieser Dialog mit erhöhter Aufmerksamkeit für die Erschließung der geistlichen Grundlagen der orthodoxen Tradition fortgesetzt werden. Die Dritte Vorkonziliare Panorthodoxe Konferenz hat in ihrer Resolution die „zufriedenstellende Arbeit" konstatiert, „die von der Gemischten Theologischen Kommission für den Dialog zwischen der Ortho doxen Kirche und der Kirche Englands geleistet wurde, ungeachtet der bei den Anglikanern auftretenden Tendenzen, die Bedeutung dieses Dialogs herabzusetzen. Die Kommission hat gemeinsame Texte zu Themen der Trinitätslehre und Ekklesiologie sowie auch über das Leben, den Gottesdienst und die Überlieferung der Kirche verfaßt. Zugleich merkt die Konferenz an, daß die in Moskau (1976) unterschriebene Übereinkunft, das filioque aus dem Glaubensbekenntnis herauszunehmen, noch nicht auf breite Resonanz gestoßen ist. Ebenso haben einige Kirchen der anglikanischen Gemeinschaft, ungeachtet der in Athen (1978) und an anderen Orten erfolgten Stellungnahmen und Erklärungen der Orthodoxen, die sich gegen eine Weihe von Frauen aussprachen, weiterhin solche Weihen vorgenommen. Diese Tendenzen können sich negativ auf den weiteren Verlauf des Dialogs auswirken. Eine ernsthafte Schwierigkeit für die normale Durchführung dieses Dialogs stellen auch die unklaren und dehnbaren ekklesiologischen Voraussetzungen der Anglikaner dar, die den Inhalt der von beiden Seiten unterschriebenen gemeinsamen theologischen Texte ihrer Konkretheit berauben. Eine analoge Schwierigkeit ist als Folge verschiedener extremer Erklärungen zu Glaubensfragen von Seiten einzelner führender Vertreter der Anglikaner entstanden. Im Hinblick auf die Thematik des Dialogs empfiehlt die Konferenz insbesondere, die Übereinstimmung hervorzuheben, die in den dogmatischen Fragen erzielt werden kann, die beide Kirchen miteinander teilen. Ebenso könnten in die Thematik auch Fragen der Spiritualität, der Seelsorge und des Dienstes an den Nöten der gegenwärtigen Welt einbezogen werden".

Der Dialog der Russischen Orthodoxen Kirche mit den Altkatholiken

zeichnet sich ebenfalls durch seine reiche Geschichte und theologische Bedeutung aus, aber auch durch die sehr gewichtigen Ergebnisse, die auf dem Landeskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche 1917/18 gewürdigt wurden. Die Dritte Vorkonziliare Panorthodoxe Konferenz (28.10.-6.11. 1986) hat folgende Resolution zu den Ergebnissen des Dialogs mit den Altkatholiken angenommen: „Bereits verfaßt und gemeinsam angenommen sind zwanzig Texte; so groß ist die Anzahl von theologischen, ekklesiologischen, soteriologischen Themen, einschließlich der Fragen über die Gottesmutter und einige Sakramente. Die Gemischte Theologische Kommission wird auch bei der folgenden Sitzung - nach dem Studium der Fragen - die betreffenden Lehren über die Sakramente, die Eschatologie sowie die Bedingungen und Folgen der kirchlichen Gemeinschaft zu prüfen haben. Die Konferenz ist der Auffassung, daß für eine umfassendere Bewertung der Resultate dieses Dialoges Folgendes im Blick zu behalten ist: a) die seit langem von der Altkatholischen Kirche befolgte Praxis der Sakramentengemeinschaft mit der Kirche Englands sowie die späteren, in Deutschland aufgetauchten Tendenzen zur Sakramentengemeinschaft mit der Evangelischen Kirche, insofern all das die Bedeutung der im Dialog gemeinsam unterzeichneten ekklesiologischen Texte herabsetzt; b) die Schwierigkeiten, die gemeinsam unterzeichneten theologischen Texte im gesamten Leben der Altkatholischen Kirche Gestalt werden zu lassen und zu erschließen. Diese beiden Fragen bedürfen der Beurteilung durch kompetente Theologen der Orthodoxen Kirche unter dem Gesichtspunkt ihrer ekklesiologischen und kirchlichen Folgen, um dadurch schneller die kirchlichen Voraussetzungen zur Wiederherstellung der kirchlichen Gemeinschaft mit den Altkatholiken zu schaffen. Ein erfolgreicher Abschluß dieses theologischen Dialogs wird sich auch günstig auf die Ergebnisse anderer Dialoge auswirken, insofern er das Vertrauen in sie stärkt".

Die Russische Orthodoxe Kirche führt einen Dialog mit den Lutheranern

sowohl auf bilateraler als auch auf panorthodoxer Ebene. Im Dialog mit der Evangelischen Kirche Deutschlands (BRD) wurden als Themen erörtert: Heilige Schrift und Überlieferung, Erlösung, Pneumatologie, der Frieden, die Sakramente der Taufe und der Eucharistie. Im Dialog mit der Lutherischen Kirche Finnlands stehen folgende Themen zur Diskussion: Eucharistie, Erlösung, Rechtfertigung, Vergöttlichung. Die Russische Orthodoxe Kirche führte auch mit den Lutheranern der DDR einen Dialog, in dessen Verlauf Fragen nach dem Verständnis des Reiches Gottes und der heiligenden Wirkung der Göttlichen Gnade in den beiden Traditionen untersucht wurden. Auf panorthodoxer Ebene steht das Thema zur Diskussion: „Die Teilhabe am Sakrament der Kirche".

Die Russische Orthodoxe Kirche nimmt am panorthodoxen Dialog mit den Reformierten teil

Themen dieses Dialogs waren die Heilige Überlieferung, die Eucharistie, geistliche Werte und sozialer Dienst. Ungeachtet aller Schwierigkeit dieses Dialogs muß er ebenfalls mit besonderer Aufmerksamkeit für die ekklesiologische Frage wie auch für das Thema der Überlieferung der Kirche fortgesetzt werden.

Die Teilnahme an internationalen Organisationen und Dialogen mit der sogenannten ‚Ökumenischen Bewegung'

Bereits seit fast einem Jahrhundert führt die Russische Orthodoxe Kirche den Dialog mit der Ökumenischen Bewegung. ‚Ökumenismus' ist ein vielschichtiger Begriff. Während er ursprünglich das Streben nach Annäherung der Christen bezeichnet, wird er heute in höchst verschiedenen Sinnzusammenhängen verwandt. Deshalb muß klar unterschieden werden zwischen den Begriffen ‚Ökumenismus' und ‚Ökumenische Bewegung' einerseits und ‚die ökumenischen Kontakte der Orthodoxen Kirche' oder ‚die Teilnahme der Orthodoxen an der Ökumenischen Bewegung' andererseits. Das wichtigste Ziel der orthodoxen Teilnahme an der Ökumenischen Bewegung hat immer darin bestanden und muß auch in Zukunft darin bestehen, die Glaubenslehre und die katholische Überlieferung der Kirche und in erster Linie die Wahrheit von der Einheit der Kirche zu bezeugen, wie sie im Leben der orthodoxen Lokalkirchen verwirklicht ist.

     Der Dialog der Orthodoxen Kirche mit der Ökumenischen Bewegung bedeutet nicht, daß die übrigen Teilnehmer der Bewegung als gleichwertig oder gleichbedeutend anerkannt werden. Die Mitgliedschaft im Weltrat der Kirchen bedeutet nicht, daß der ÖRK anerkannt wird als eine kirchliche Realität umfassenderer Ordnung als die Orthodoxe Kirche selbst, die ja die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche ist; es bedeutet nicht einmal die Anerkennung, daß der ÖRK und die Ökumenische Bewegung auch nur irgendeine kirchliche Realität in sich selbst besäßen. Der geistliche Wert und die Bedeutung des ÖRK sind abhängig von der Bereitschaft und dem Bestreben der Mitglieder des ÖRK, auf das Zeugnis der katholischen Wahrheit zu hören und zu antworten.

     Die Ökumenische Bewegung entstand im Inneren des Protestantismus am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Das Aufkommen der Ökumenischen Bewegung ist mit dem Erwachen des ‚Willens zur Einheit' in der zerspaltenen Christenheit verbunden. Außerdem waren die Ausgangsmotive und Impulse der Ökumenischen Bewegung das Bedürfnis nach internationaler christlicher Zusammenarbeit und das Bestreben, das zerstörerische Werk der Ausbreitung des Denominationalismus zu überwinden. Ein charakteristisches Zeichen am Ende des 19. Jahrhunderts war das Aufkommen konfessioneller Bünde, Vereinigungen und Allianzen. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war die Ökumenische Bewegung nicht etwas Einheitliches, sie war die Gesamtheit einer Reihe von interprotestantischen Bewegungen. Praktisch gleich seit dem Aufkommen der Ökumenischen Bewegung waren ihre Initiatoren bestrebt, ein einheitliches Organ der Ökumenischen Bewegung zu schaffen, das sich in der Folge im „Weltrat der Kirchen" herausbildete. Außerdem entstanden nationale und regionale Organe der ökumenischen Zusammenarbeit - nationale und regionale ‚Kirchenräte'. Neben der missionarischen Arbeit gehörte in erster Linie die Zusammenarbeit im Bereich der praktischen Angelegenheiten zum Interessenkreis der Ökumenischen Bewegung. Erst später bildete sich die Bewegung für eine Einigung unter den Christen heraus; sie wurde insbesondere von der protestantischen Lehre über die Kirche, über die Ziele und Aufgaben der christlichen Wiedervereinigung inspiriert.

     Eine der Schlüsselideen für den protestantischen Ökumenismus war der Gedanke, keine der existierenden Konfessionen könne beanspruchen, sich im vollen Sinn als die „Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche" zu bezeichnen. Sie alle seien nichts anderes als Denominationen, entstanden als Ergebnis der Spaltung der einstmals geeinten Christenheit aufgrund menschlicher Unzulänglichkeiten. In der Frage nach der Natur der christlichen Einheit und der Bedeutung der Spaltungen hatten die Vertreter der verschiedenen Konfessionen ihre Meinungsverschiedenheiten, doch im Grunde lief die ‚ökumenische Ekklesiologie' darauf hinaus, daß die christ liche Einheit eine Art Faktum sei. Alle Christen, insofern sie alle an Christus glauben, seien auch eins in Christus. Unter der ökumenischen Aufgabe wurde demgemäß die Notwendigkeit verstanden, diese im Laufe der Geschichte verdunkelte und geschwächte ontologische Einheit in sichtbarer Gestalt auszudrücken und hervorzuheben, die gestörten Beziehungen unter den Christen wiederherzustellen. Entsprechend dachte man sich auf praktischer Ebene die Perspektive einer Wiederherstellung der Einheit in Richtung von Übereinkünften unter den Denominationen.

     Insofern die These bestand: „das Dogma trennt, das Leben eint", nahm man sich folgendes vor, um eine Annäherung der Denominationen zu erreichen: a) ein Lehrkonsens ist anzustreben in Fragen, die die Konfessionen trennen (ein solcher Konsens setzt, wie jeder Konsens, gegenseitige Zugeständnisse voraus, die Anerkennung der Unterschiede als etwas Zweitrangiges, besonders auch deshalb, weil all diese Divergenzen in der Lehre Frucht der Unnachgiebigkeit und Anmaßung von Theologen sowie der Herrschsucht kirchlicher Administratoren seien); b) ohne das Erreichen eines Lehrkonsenses abzuwarten, ist die Einheit in der praktischen Arbeit in die Tat umzusetzen - in der Mission, im Dienst an den Entrechteten usw.; c) die Errichtung der kirchlichen Gemeinschaft ist anzustreben, und als Mittel bei der geistlichen Annäherung der Denominationen sind gemeinsame Gebete durchzuführen, Vertreter einer anderen Vereinigung zum Gottesdienst in der eigenen Gemeinde einzuladen usw. Wenig später erhielt diese Idee den Charakter der sogenannten ‚Inter kommunion' oder ‚eucharistischen Gastfreundschaft', indem Vertreter einer anderen Konfession, mit der die volle Gemeinschaft noch nicht wiederhergestellt ist, zur Teilnahme an der Eucharistie eingeladen wurden. Der Weltrat der Kirchen wurde von den Initiatoren seiner Gründung als das sichtbarste Zeichen der christlichen Einheit betrachtet, als Instrument zur Koordination einer Annäherung der Denominationen.

     In der Wahl dieses Ausdrucks ‚ökumenisch' für die Bewegung der Christen zur Einheit spiegelt sich ein spezifisch westliches, äußerliches Verständnis der Prinzipien der Katholizität und Einheit der Kirche. Die ‚Ökumene', der ‚Erdkreis' der ersten Jahrhunderte der Christenheit bezeichnete die bewohnte Erde, die Gesamtheit der Länder griechisch-römischer Kultur, die Länder des Mittelmeerraums, das Territorium des Römischen Reiches. Das Adjektiv oikumenikos wurde zur Bestimmung des byzantinischen Kaiserreichs, des ‚ökumenischen Kaiserreichs'. Da die Grenzen des Reiches zur Zeit Konstantins des Großen mehr oder weniger mit der Ausdehnung der Kirche zusammenfielen, verwandte die Kirche häufig den Ausdruck oikumenikos. Er wurde als Ehrentitel den Bischöfen beider Hauptstädte des Reiches verliehen, den Bischöfen von Rom und später des ‚Neuen Rom', Konstantinopel. Vor allem aber wurden mit diesem Terminus die gesamtkirchlichen Konzilien der Bischöfe des ökumenischen Kaiserreichs bezeichnet. Mit dem Wort ‚ökumenisch' wurde auch benannt, was das kirchliche Territorium im Ganzen betraf, im Gegensatz zu dem, was nur Bedeutung an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Provinz hatte (z.B. eine Lokalsynode oder eine örtliche Ernennung). Deshalb meinte der Ausdruck ‚Ökumenische Bewegung' zugleich die Überwindung denominationalistischer ‚Provinzialität', die Überwindung der Abgrenzung von der gesamten übrigen Welt, die Offenheit für alle übrigen christlichen Gemeinden.

     Die Orthodoxe Kirche unterscheidet die ‚christliche Gesamtheit', die Universalität, die Ökumenizität, von der Katholizität (соборность). Ökumenizität ist eine notwendige Folge aus der Katholizität der Kirche und untrennbar mit der Katholizität der Kirche verbunden, weil sie nichts anderes ist als deren äußerer, materialer Ausdruck. Die Kirche im Ganzen heißt ‚ökume nisch', und diese Bestimmung kann ihren Teilen nicht beigelegt werden; doch jeder Teil der Kirche, selbst der kleinste, sogar ein einzelner Gläubiger kann katholisch (соборной) genannt werden. Die Ökumenizität und universale Verbreitung der Kirche ist Folge ihrer Katholizität. Allumfassend (вселенская) ist die Kirche nicht nur in der Gesamtheit aller ihrer Glieder oder aller Lokalkirchen, sondern überall und immer, in jeder Lokalkirche, in jedem Kirchenraum. Daher weichen das orthodoxe und das andersglaubende Verständnis der ‚Ökumene' erheb lich voneinander ab. Für die Orthodoxen ist Ökumenizität die Folge der inneren Einheit, verbunden mit der Wahrheit sowie der inneren Ganzheit und Ungebrochenheit der geistlichen Erfahrung der Kirche - für Andersglaubende ist Ökumenismus Ausgangspunkt und formale Bedingung der Einheit.

     Zwar besteht kein Zweifel daran, daß das Zeugnis der Orthodoxen Kirche der andersglaubenden Welt gegenüber notwendig ist, doch die Frage nach den konkreten Formen dieses Zeugnisses, insbesondere nach der Zweckmäßigkeit der Teilnahme der Orthodoxen Kirche an der Ökumenischen Bewegung und an den internationalen christlichen Organisationen, war und ist weiterhin Gegenstand eines unaufhörlichen aufmerksamen Studiums. Die Orthodoxen Lokalkirchen erkennen an und erinnern die Andersglaubenden ständig daran, daß das Hauptproblem der Ökumene die Spaltung und nicht die Einheit ist; sie haben die Entscheidung getroffen, an der Ökumenischen Bewegung und den ökumenischen Organisationen sozusagen ‚von innen her' teilzunehmen und auf konstruktive Weise eine kritische Position einzunehmen. Man kann nicht sagen, daß diese Frage für das orthodoxe Gewissen und Bewußtsein unstrittig ist. Die Orthodoxen sehen, daß in der Ökumenischen Bewegung sowohl ein aufrichtiges Streben nach Einheit als auch gleichzeitig ein ganzes Spektrum von Irrtümern und unrichtigem Denken in der Glaubenslehre vorhanden ist, die sich im Verlauf der christlichen Geschichte gezeigt haben. Im Zusammenhang damit ergab und ergibt sich mehrfach die Frage: Sind die Ökumenische Bewegung und ihre institutionalisierten Formen wie auch die Rolle, die Orthodoxe darin spielen, ein geeignetes und wirkungsvolles Mittel für das orthodoxe Zeugnis? Wäre es nicht besser, einfacher und vernünftiger, Distanz zu wahren, von außerhalb zu sprechen und von Anfang an die Unvereinbarkeit der grundlegenden Voraussetzungen sowie auch die wesentlichen Divergenzen in der Formulierung der Aufgaben und letzten Ziele zu betonen? Während sie jedoch an der Ökumenischen Bewegung teilnehmen, erklären die Orthodoxen völlig bestimmt und unzweideutig, daß sie die andersglaubende Sicht der Ökumene nicht teilen. Für Orthodoxe wichtig ist nicht, was die Ökumenische Bewegung gegenwärtig darstellt, sondern was die Ökumenische Bewegung sein und werden könnte, wenn der ‚Sauerteig' des orthodoxen Zeugnisses weise und geduldig in ihr wirkt.

     Über die Prinzipien der Beziehung der Orthodoxen Kirche zur ‚ökumenischen Einheit' und ihren institutionellen Formen äußerte sich der Erzbischof und Märtyrer Hilarion (Troizkij) in seinem Antwortschreiben an Robert Gardiner, einen der Führer der Ökumenischen Bewegung und Initiator der Gründung des Weltrats der Kirchen. Erzbischof Hilarion widmete seine Antwort einer schonungslosen Kritik der ‚ökumenischen Ekklesiologie', die Gardiner offenbar teilte, und schreibt am Schluß seines Briefes folgendes: „Denken Sie nicht, daß meine entschiedene Absage an Ihren Begriff der Einheit der Kirche eine Verurteilung der Idee einer Weltkonferenz des Christentums (nach dem Vorbild des ÖRK) sei. Nein, ich habe schon mein volles, vom Gebet getragenes Wohlwollen für die geplante Konferenz ausgesprochen. Aber ich bin fest überzeugt, daß es ein riesiger Schritt auf dem Weg zur Vereinigung wäre, wenn die Konferenz vor allem die Wahrheit der Einheit der Kirche bekräftigen würde, anstatt alle heutigen christlichen Glaubensbekenntnisse und Sekten zusammengenommen für die Eine Kirche Christi zu halten, die ihre sichtbare Einheit nur verloren habe".

     Das Verhältnis der Russischen Orthodoxen Kirche zum Weltrat der Kirchen war vielschichtig. Neben dem Bestreben, ihre Pflicht zum Zeugnis zu erfüllen, sah die Russische Orthodoxe Kirche auch die Gefahren, die sich darin verbargen, daß der ÖRK durch das protestantische Element dominiert wurde. Die Russische Orthodoxe Kirche hat, gemeinsam mit einer Reihe anderer Orthodoxer Lokalkirchen, die Einladung zum Eintritt in den ÖRK im Jahr 1948 abgelehnt. Als schmerzlichstes Thema für das orthodoxe Selbstverständnis erwies sich die Deutung der Mitgliedschaft im Weltrat der Kirchen. Die Existenz der Orthodoxen Kirchen in der Eigenschaft von Mitgliedskirchen, gleichberechtigt mit anderen ‚Kirchen', rief den ernsten Verdacht hervor, es sei möglich, im ÖRK eine universalere Struktur zu sehen als die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche, als die die Orthodoxe Kirche sich versteht. Ergebnis der konstruktiven und beharrlichen Kritik von Seiten der Orthodoxen war die Annahme der sogenannten „Toronto-Erklärung" durch den Weltrat der Kirchen; sie garantierte für die Orthodoxen das Recht, klar und unzweideutig im ÖRK von ihrer Ekklesiologie und von der Natur der christlichen Spaltung Zeugnis abzulegen, und enthielt die Absage an die Forderung nach ‚Parität' und nach Anerkennung verschiedener Denominationen sowie derer, die eine ekklesiologische Neutralität des ÖRK behaupten, als Kirchen; der ÖRK ist nicht als ‚Überkirche' zu betrachten und strebt in keiner Weise danach, eine solche hervorzubringen. Die Toronto-Erklärung war die Antwort des Weltrates der Kirchen auf die Kritik der Moskauer Konferenz von 1948 an den „Zielsetzungen des ÖRK". Die weitere positive Entwicklung im Weltrat führte zu dessen konstruktiven Anstrengungen, die einseitige pro-westliche Ausrichtung seiner Tätigkeit zu ändern und sich um den Erhalt einer ausgeglicheneren und objektiveren Beziehung zwischen West und Ost zu bemühen. Auf theologischer Ebene begann der Weltrat der Kirchen den Fragen von „Glauben und Kirchenverfassung" mehr Aufmerksamkeit zu widmen, insbesondere der Ausarbeitung einer neuen Basisformel und einer klareren Bestimmung der Einheit der Kirche im Glauben und in den Grund lagen der kanonischen Ordnung. Diese innere Evolution entwickelte sich in einer Richtung, in der die Elemente der Katholizität und der Kirchlichkeit gestärkt wurden.

     Im Juli 1961 faßte das Lokalkonzil der Russischen Orthodoxen Kirche den Beschluß zum Eintritt in den Weltrat der Kirchen. Der Eintritt der Russischen Orthodoxen Kirche in den Weltrat der Kirchen erfolgte im Dezember 1961 auf der dritten Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi. Daß die Änderung der Position der Russischen Orthodoxen Kirche in Bezug auf die Ökumenische Bewegung durch die positiven Veränderungen innerhalb dieser Bewegung hervorgerufen worden war und daß der Eintritt in den ÖRK von Erwägungen über das orthodoxe Zeugnis geleitet war, sprach im Jahre 1961 Seine Heiligkeit Alexij I., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus', aus: „Wir stellen mit Genugtuung fest, daß ... [die Ökumenische Bewegung] in vielem den Weg der Bemühung um eine kirchlichere, geistlichere Ordnung ihrer Tätigkeit beschritten hat ... Und wir haben jetzt unsere Position im Hinblick auf den Weltrat der Kirchen geändert. Allerdings haben wir Orthodoxe uns auch früher den westlichen Christen gegenüber nicht kalt und oder gar geringschätzig verhalten. Im Gegenteil, wir sind ihrem geistlichen Suchen und Verlangen immer gern entgegengekommen in dem Wunsch, alle unter dem Haupt Christus im Schoß Seiner Heiligen Kirche zu vereinen. Jetzt aber, wo diejenigen, die von der Kirche abgefallen sind, selbst die Einheit in ihr suchen, müssen wir ihnen unbedingt entgegengehen, um ihre Suche durch das Zeugnis von der Wahrheit der Orthodoxie zu erleichtern. Die gegenseitigen Beziehungen, die zwischen unserer Kirche und dem Weltrat der Kirchen entstanden sind ..., haben jetzt zu dem bekannten Beschluß unseres Heiligen Synod vom 30. März [1961] geführt, daß die Russische Orthodoxe Kirche in den Weltrat der Kirchen eintritt ... Unter den gegen wärtigen Umständen können wir die Hinweise nicht übersehen, daß es notwendig ist, das Gefühl christlicher Gemeinsamkeit zu unterstützen und die Christen in Ost und West durch die Bande der Liebe und des Friedens zu verbinden. Unsere Sendung unter den gegebenen Bedingungen ist es, den westlichen Christen das Licht der Orthodoxie zu zeigen".

     Der Eintritt der Russischen Orthodoxen Kirche in den Weltrat der Kirchen wurde zeichenhaft bekräftigt in der Annahme der Erklärung der dritten Vollversammlung des ÖRK durch die orthodoxen Teilnehmer; in dieser Erklärung wurde die kritische Haltung der Orthodoxen zu der in der protestantischen Welt vorherrschenden Vorstellung über die Methoden der christlichen Wiedervereinigung sehr bestimmt formuliert, und sie wurde zu einem neuen hervorstechenden Beispiel für das grundsätzliche Zeugnis der Orthodoxie den andersglaubenden Mitgliedern des ÖRK gegenüber: „Die Ökumenische Bewegung, die jetzt im Weltrat der Kirchen Gestalt gewonnen hat, ist von einer protestantischen Initiative ausgegangen, sie war jedoch nicht von Anfang an dazu bestimmt, eine protestantische Angelegenheit zu sein und darf auch nicht als solche betrachtet werden. Das muß besonders jetzt betont werden, wo fast alle Kirchen der orthodoxen Gemeinschaft Mitglieder des ÖRK geworden sind ... Die ökumenische Frage, wie sie in der gegenwärtigen Ökumenischen Bewegung verstanden wird, ist in erster Linie ein Problem der protestantischen Welt. Die Grundfrage in dieser perspektivischen Verkürzung ist die Frage nach dem ‚Denominationalismus'. Deshalb wird die Frage der christlichen Einheit bzw. der christlichen Wiedervereinigung gewöhnlich im Kontext der Übereinstimmung oder Versöhnung zwischen den Denominationen betrachtet. In der protestantischen Welt ist ein solcher Zugang normal. Für die Orthodoxen ist er jedoch nicht geeignet. Für Orthodoxe besteht das grundlegende ökumenische Problem im Schisma. Die Ortho doxen können die Idee der ‚Gleichheit der Denominationen' nicht annehmen, und sie können die christliche Wiedervereinigung nicht einfach als eine Regelung zwischen den Denominationen betrachten. Die Einheit wurde verletzt und muß wieder hergestellt werden.

     Die Orthodoxe Kirche ist nicht eine von vielen Konfessionen - für Orthodoxe ist die Ortho doxe Kirche die Kirche. Die Orthodoxe Kirche identifiziert ihre innere Struktur und ihre Lehre mit der apostolischen Verkündigung (Kerygma) und der Tradition der alten ungeteilten Kirche. Sie befindet sich in einer ununterbrochenen, beständigen Sukzession im sakramentalen Dienst, im sakramentalen Leben und Glauben. Für die Orthodoxen sind die apostolische Sukzession des Episkopats und das Sakrament des priesterlichen Dienstes von wesentlicher und konstitutiver Bedeutung, und deshalb sind sie verbindliche Elemente der Existenz der Kirche selbst. Die Orthodoxe Kirche besitzt ihrer inneren Überzeugung und ihrer Einsicht nach in der gespaltenen christlichen Welt einen beson deren und unvertretbaren Platz als Trägerin und Zeugin für die Traditionen der alten ungeteilten Kirche, aus der alle bestehenden Denominationen auf dem Weg der Verkürzung und Abspaltung hervorgegangen sind. Vom orthodoxen Standpunkt her kann die gegenwärtige ökumenische Bemühung gekennzeichnet werden als ‚Ökumenismus im Raum', der auf ein Übereinkommen zwischen den verschiedenen zur Zeit existierenden Denominationen abzielt. Unter orthodoxem Gesichtspunkt ist diese Bemühung unvollständig und unzu reichend. Man kann gemeinsame Grundlagen in den bestehenden Denominationen in der Vergangenheit finden: in ihrer gemeinsamen Geschichte, in der gemeinsamen alten apostolischen Tradition, aus der sie hervorgegangen sind, und man muß nach diesen Gemeinsamkeiten suchen. Diese Sicht der ökumenischen Bemühung kann man ‚Ökumenismus in der Zeit' nennen ... Nicht eine statische Wiederherstellung alter Formen ist beabsichtigt, sondern eher die dynamische Wiederherstellung des ewigen Wesens, das allein auch das wahre Einvernehmen ‚aller Zeiten' gewährleistet ... Das Ziel der ökumenischen Bemühung besteht nach orthodoxem Verständnis in der Wiederherstellung des christlichen Geistes, der apostolischen Überlieferung, der Fülle der christlichen Anschauung und des christlichen Glaubens im Einvernehmen mit allen Zeiten".

     Die Jahrzehnte, die seit dem Eintritt der Russischen Orthodoxen Kirche in den Weltrat der Kirchen vergangen sind, waren Jahre eines ange spannten Dialogs. Die Mitwirkung im ÖRK erwies sich als schwere Aufgabe, die den Kräfteeinsatz der besten Theologen der Kirche erforderlich machte. Der orthodoxe Optimismus der frühen Periode der Ökumenischen Bewegung, der mit der Hoffnung auf eine rasche und wesentliche Annäherung mit den Andersglaubenden verbunden gewesen war, erwies sich als verfrüht: zu tief waren die Unterschiede, außerordentlich schwierig war die Aufgabe, eine neue Sprache zu schaffen. Doch ungeachtet dieser Schwierigkeiten haben die Jahre mühseliger Arbeit ihre Früchte getragen. So gibt es folgende Resultate des orthodoxen Zeugnisses im ÖRK: eine neue Basisformel des ÖRK; die Erklärung in Neu-Delhi über die Einheit und die Toronto-Erklärung; die Lima-Dokumente des ÖRK über Taufe, Eucharistie und Amt. Ein unbestreitbarer Erfolg für das orthodoxe Zeugnis im ÖRK war die Weltkonferenz von „Glauben und Kirchenverfassung" im Jahre 1993 in Santiago (Spanien) mit ihren Beschlüssen, daß es notwendig sei, sich zu konzentrieren auf Fragen der Ekklesiologie, des Bekenntnisses zum apostolischen Glauben, auf die Verbindlichkeit des Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel (ohne filioque) für alle, auf die Einheit im Verständnis der Apostolischen Überlieferung und der Apostolischen Sukzession, auf die Fragen der Autorität der Kirche, des Vorrangs im Dienst an der Einheit, auf die Notwendigkeit der Verurteilung des Proselytismus.

     Im Verlauf der vielen Jahre des Dialogs mit der Ökumenischen Bewegung haben die Orthodoxen die Priorität der Bemühungen um die Wiederherstellung der Einheit im Glauben, in der Ordnung und in den Prinzipien des geistlichen Lebens der Kirche hervorgehoben und sie der Zusammenarbeit in praktischen Angelegenheiten, dem sogenannten ‚Horizontalismus', übergeordnet. Damit verbunden ist auch die besondere Aufmerksamkeit, die Orthodoxe ihrer Mitwirkung in der Kommission „Glau ben und Kirchenverfassung" des ÖRK entgegenbringen. Die Kommission „Glau ben und Kirchenverfassung" ist im Rahmen des ÖRK die institutionelle und in gewissem Maße autonome Fortsetzung der gleichnamigen Bewegung, die seit dem Jahr 1910 besteht, einer der wichtigsten Richtungen in der Ökumenischen Bewegung neben den Bewegungen für „Praktisches Christentum" und dem Internationalen Missionsrat. Die Tätigkeit der Kommission „Glauben und Kirchenverfassung" war, im Unterschied zu anderen Richtungen der Ökumenischen Bewegung - und darin liegt ihr besonderer Wert und ihre Bedeutung für das orthodoxe Zeugnis -, von Anfang an auf die Verwirklichung eines multilateralen theologischen Dialogs ausgerichtet. Gerade im Rahmen der Richtung „Glauben und Kirchenverfassung" konnten die orthodoxen Teilnehmer ihren Partnern im theologischen Dialog die katholische Sicht der erörterten Themen vermitteln: die Kirche und ihre Einheit, das Verständnis der Sakramente Taufe, Eucharistie und Priesterweihe, Schrift und Überlieferung, Rolle und Bedeutung der Glaubensbekenntnisse, der Einfluß der sogenannten ‚nicht-theologischen' Faktoren auf das Problem der christlichen Spaltung und Einheit. Der theologische Dialog im Rahmen von „Glauben und Kirchenverfassung" erweist sich als breiter und repräsentativer dank der Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche, die nicht Mitglied im ÖRK ist. Kraft der besonderen Bedeutung der Kommission „Glauben und Kirchenverfassung" für das orthodoxe Zeugnis, aber auch aufgrund der historischen und strukturellen Unabhängigkeit der Kommission vom ÖRK, muß eine weitere Mitwirkung der Russischen Orthodoxen Kirche in dieser Kommission auch in dem Falle für möglich gehalten werden, daß sich der Status ihrer Mitwirkung im Weltrat der Kirchen ändern sollte.

     Gleich von Anfang an stießen die orthodoxen Theologen bei ihrer Mitwirkung am Dialog mit der Ökumenischen Bewegung auf die unausweichliche Zweideutigkeit der im Dialog verwendeten Sprache und Terminologie; darin kam das Bestreben der andersglaubenden Teilnehmer zum Ausdruck, einen Kompromiß in der Lehre erreichen zu wollen: „Wie während der Verhandlungen mehrfach betont wurde, ist in der Orthodoxen Kirche in Fragen des Glaubens und des religiösen Bewußtseins keinerlei Kompromiß statthaft, und man darf nicht mit ein und denselben Worten zwei Auffassungen, zwei verschiedene Vorstellungen und Erklärungen der gemeinsam angenommenen Formulierungen begründen. Und die Orthodoxen können nicht hoffen, daß eine Einheit, die auf derartigen zweideutigen Formulierungen beruht, dauerhaft sein wird ... Die Orthodoxe Kirche meint, daß jegliches Bündnis auf dem gemeinsamen Glauben gegründet sein muß ... Z.B. hat eine Übereinstimmung im Hinblick auf die Notwendigkeit der Sakramente in der Kirche keinerlei praktischen Wert, wenn grundsätzliche Widersprüche zwischen den Kirchen in Bezug auf deren Zahl, deren Sinn und überhaupt das Wesen jedes der Sakramente, ihrer Wirksamkeit und Auswirkungen bestehen ... Demzufolge können wir nicht die Idee einer Wiedervereinigung annehmen, die sich nur auf gemeinsame unbedeutende Elemente beschränkt, weil nach der Lehre der Orthodoxen Kirche dort, wo es keine Gemeinsamkeit im Glauben gibt, auch keine Gemeinschaft in den Sakramenten bestehen kann. Wir können hier nicht einmal das in anderen Fällen geltende Prinzip der Oikonomia anwenden, das die Orthodoxe Kirche häufig im Hinblick auf diejenigen angewandt hat, die sich ihr zukehrten" (Erklärung der orthodoxen Teilnehmer auf der Ersten Weltkonferenz von „Glauben und Kirchenverfassung", Lausanne 1927).

     Die Teilnahme der Orthodoxen am Weltrat der Kirchen war niemals leicht. Die Jahrhunderte der christlichen Spaltung, des Lebens der west lichen Christenheit in der Entfremdung von der Fülle der Orthodoxen Kirche, führten zu beklagenswerten Folgen. Vor allem zeigte sich, daß die gemeinsame Sprache, das gemeinsame System der Bedeutung der Begriffe, der gemeinsame Raum des Diskurses verloren gegangen waren. Sogar der Gebrauch der biblischen Sprache erwies sich im ökumenischen Dialog als zweideutig und künstlich. Formal gesehen können die Theologen sich in einer gemeinsamen Sprache verständigen, doch selbst wenn sie ein und dieselben Begriffe verwenden, drücken sie im Grunde genommen die unterschiedliche geistliche Erfahrung ihrer Traditionen aus. Gerade dieser tiefe, wesentliche Unterschied der geistlichen Erfahrung der Ortho doxie macht auch das Zeugnis zu einer außerordentlich komplexen Aufgabe. In den Jahren der Mitwirkung der Orthodoxen in der Ökumenischen Bewegung ist klar geworden, daß das orthodoxe Zeugnis nur auf der Grundlage einer konsequenten, grundlegenden Kritik der Voraussetzungen, des Inhalts, des Ethos, des kulturhistorischen und sozialen Kontextes und der eigentlichen geistlichen Grundlagen der Andersglaubenden erfolgreich sein kann. Dafür aber ist ein klareres Verständnis der Problematik des Protestantismus selbst, ein Studium seiner theologischen und geistlichen Grundlagen erforderlich.

     Klar geworden ist aber auch, daß die ganze Frage des Dialogs mit Andersglaubenden, dessen innere Dynamik, als Antwort nicht fertige und starre Schemata verlangt, sondern eine beständige und schöpferische Auslegung der eigenen Tradition. Es ist klar geworden, daß die Mitwirkung in der Ökumenischen Bewegung die Weiterentwicklung des ortho doxen theologischen Denkens kraftvoll stimuliert, gerade in Antwort auf die Anfrage der Andersglaubenden. Von neuem tauchte mit all seiner Aktualität der Gedanke auf, daß das Evangelium, die Überlieferung der Kirche, die dogmatische Lehre jeweils gleichsam neu in einem neuen kulturhistorischen Kontext Gestalt gewinnen müssen. Die ökumenischen Dialoge haben eine erstaunliche Gesetzmäßigkeit aufgedeckt: der Eintritt in die Diskussion mit Andersglaubenden über die scheinbar weit von den patristischen Fragen entfernten Probleme der Gegenwart und über Themen, die die Andersglaubenden bewegen, verlangt von den orthodoxen Theologen unweigerlich ein größeres Hineinwachsen in die patristische Tradition und das patristische Denken. Die Fähigkeit zum Dialog mit Andersglaubenden ist abhängig vom Maß der schöpferischen Verwurzelung in der eigenen Tradition.

     Die Russische Orthodoxe Kirche nimmt im Verlauf all der Jahre ihrer Mitwirkung im Weltrat der Kirchen die Position konstruktiver Kritik in Bezug auf den ÖRK ein. Das ist mit den historisch bedingten Eigenarten der Struktur des Weltrates der Kirchen verbunden. Gleich von Anfang an dominierte im ÖRK das protestantische Element. Die Orthodoxen, die an der Arbeit des ÖRK teilnahmen, verstanden, daß sie ihr Zeugnis unter komplexen Bedingungen zu geben hatten, weil sogar die Möglichkeit, das eine oder andere Thema zu erörtern, dem Resultat einer Abstimmung unterliegt, bei der sie in der Minderheit sein können. Es geht nicht darum, daß eine solche Verfahrensweise den Orthodoxen etwas aufzwingen könnte - die Beschlüsse, die im ÖRK gefaßt werden, haben keinerlei bindende Kraft für die Mitglieder des ÖRK. Doch die Thematik der Diskussion im Weltrat der Kirchen wurde und wird bis jetzt in bedeutendem Maße gerade von der protestantischen Mehrheit bestimmt. Selbstverständlich haben die Orthodoxen auch unter diesen Bedingungen frei und offen ihre Meinung entsprechend der Überlieferung der Kirche dargestellt. Diese Meinung erschien jedoch häufig als ‚Reaktion', als ‚Sondervotum' in Bezug auf die Meinung der andersglaubenden Mehrheit. Der Weltrat der Kirchen erwies sich als einzigartiges Rednerforum, als wirkliches Weltforum, auf dem die Orthodoxen die Möglichkeit haben, den Andersglaubenden den Glauben der Kirche darzustellen. Und diese Tat sache kann nicht durch all jene Schwierigkeiten entwertet werden, denen Orthodoxe im Weltrat der Kirchen zu begegnen haben.

     Aufgrund der vorhandenen Strukturen des ÖRK sind die Orthodoxen mitunter gezwungen, im Weltrat der Kirchen Probleme zu erörtern, die ihnen zur Erörterung aufgedrängt werden. Gleichzeitig bleiben Fragen, die die Orthodoxen Kirchen tatsächlich beunruhigen, außerhalb des Gesichtskreises des ÖRK. Daraus ergibt sich ein sehr ernsthaftes Hindernis für das Zeugnis, das die Orthodoxen im Rat wahrzunehmen haben. Einfach kraft ihrer strukturellen Minderheit können die Orthodoxen keinen Einfluß auf die Formulierung der Thematik des ÖRK nehmen. Im Rahmen der gegenwärtigen Strukturen sind die Orthodoxen gezwungen, die volle Verantwortung für die Tagesordnung und die Beschlüsse mitzutragen, die im ÖRK angenommen werden und die sich mitunter für die orthodoxe Glaubenslehre und Tradition als unannehmbar erweisen. Dieser Umstand führt dazu, daß die Mitgliedschaft mit einem solchen Grad von Verbindlichkeiten scharfe Kritik von Seiten der Geistlichkeit und der Laien einzelner Orthodoxer Kirchen hervorruft.

     Auf der Tagesordnung des ÖRK begannen mit der Zeit Themen aufzutauchen, die für Orthodoxe ganz unannehmbar waren. Es ist inzwischen völlig gerechtfertigt, von einer wachsenden Krise des ÖRK zu sprechen, die ihrerseits verbunden ist mit der Krise einer beträchtlichen Anzahl von protestantischen Denominationen, die Mitglieder des ÖRK sind, und einer Krise der Ökumenischen Bewegung im Ganzen. Die vom ÖRK erklärten Aufgaben treten heute in einen völligen Widerspruch zur Praxis: immer offenkundiger wird der Bruch zwischen der protestantischen Mehrheit, die sich im Grunde der Liberalisierung genähert hat, und der orthodoxen Minderheit. Letztlich ist in den protestantischen Kirchen und im Weltrat der Kirchen eine Entwicklung möglich, der die Ortho doxen nicht mehr zustimmen können, weder ihren ekklesiologischen, noch ihren dogmatischen, noch ihren sittlichen Vorstellungen nach.

     Die Bischofssynode der Russischen Orthodoxen Kirche im Jahre 1997 hat die Situation der Mitgliedschaft der Russischen Orthodoxen Kirche im Weltrat der Kirchen und die Frage der damit verbundenen Probleme im Zusammenhang mit den verstärkten negativen Tendenzen im Rat aufmerksam geprüft. Um die Frage der Teilnahme oder Nicht-Teilnahme der Russischen Orthodoxen Kirche im ÖRK zu entscheiden, hat das Ehrwürdige Bischofskonzil den Beschluß gefaßt, dieses Problem auf panorthodoxer Ebene zu erörtern. In der Bestimmung des Konzils heißt es: „Gemäß dem Ergebnis der panorthodoxen Entscheidung ist der Beschluß des Bischofskonzils über die Teilnahme oder Nicht-Teilnahme von Vertretern der Russischen Orthodoxen Kirche an bilateralen und multilate ralen interkonfessionellen theologischen Dialogen sowie an der Arbeit des ÖRK und anderen internationalen christlichen Organisationen zu fassen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Teilnahme von Vertretern der Russischen Orthodoxen Kirche an der Arbeit der internationalen christ lichen Organisationen fortzusetzen, da das orthodoxe Zeugnis in der durch die Sünde gespaltenen christlichen Welt im gegenwärtigen Moment besonders wichtig ist".

     Die auf Initiative der Russischen Orthodoxen Kirche und der Serbischen Orthodoxen Kirche in Thessalonike (29.4.-1.5.1998) einberufene Panorthodoxe Konferenz kam zu dem Schluß, daß die jetzige Struktur des ÖRK für die Orthodoxen unannehmbar ist und daß eine weitere Teilnahme im Rat nur möglich ist unter der Bedingung einer „radikalen Reform" des Weltrates der Kirchen. In Verbindung mit dieser Erklärung wurde auf der achten Vollversammlung des ÖRK beschlossen, eine Sonderkommission des Weltrates der Kirchen für die gegenseitigen Beziehungen mit den Orthodoxen zu schaffen. Zum Mandat dieser Kommission gehören die aufmerksame Prüfung des gesamten Fragen- und Problemkomplexes der orthodoxen Mitwirkung im ÖRK und der Vorschlag möglicher Varianten zur Umgestaltung des Rates. Gemäß dem Beschluß des panorthodoxen Treffens in Thessalonike nimmt die Russische Ortho doxe Kirche während der Phase der Arbeit dieser Kommission an der Tätigkeit des ÖRK mit einem eingeschränkten Mandat teil. Auf diese Weise ist die jetzige Periode in den Beziehungen der Russischen Ortho doxen Kirche zum Weltrat der Kirchen, in der ein neues Modell des ÖRK und Weisen seiner Transformation erörtert werden, eine Übergangsphase. In dieser Etappe des Übergangs zu einem neuen Modell des ÖRK sollte die Russische Orthodoxe Kirche alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel der Anwesenheit im ÖRK nutzen, um ihre Position zu den Fragen, die Kritik von Seiten der Orthodoxen hervorrufen, so weit wie möglich zu verbreiten.

     Die Orthodoxen verhalten sich äußerst verantwortungsbewußt zu ihrer Mitwirkung im ÖRK, und gerade deshalb warnen sie: die jetzige Entwicklung des ÖRK geht in eine gefährliche und unangebrachte Richtung. Sie konstatieren eine Krise des Weltrats der Kirchen und rufen dazu auf, das gesamte jetzige Ethos, die Prinzipien des ÖRK, einer Überprüfung zu unterziehen. Daher darf unter der radikalen Reform nicht eine Veränderung der ‚Formen' bei unverändertem Inhalt verstanden werden, keine Re-‚formierung', sondern eine Veränderung im Wesen des ÖRK selbst. Jeder neue Schritt in Richtung einer Verstärkung der protestantischen Ekklesiologie im ÖRK wird ein geistlicher Selbstmord des ÖRK sein. Die Orthodoxen, die eine ‚Reform' des ÖRK fordern, bestehen darauf, daß im ÖRK ein vollgültiges orthodoxes Zeugnis über die Wahrheit der Kirche, über die Prinzipien der Einheit möglich ist. Wenn es keine Möglichkeit zu einem solchen Zeugnis gibt, wenn die Tätigkeit des ÖRK sich immer weiter von den ursprünglichen Zielen der Ökumenischen Bewegung - dem Streben nach Wiederherstellung der christlichen Einheit - entfernt, dann verliert der ÖRK seinen geistlichen Wert. Der ÖRK ist eine dynamische Erscheinung, in der eine ‚Stärkung' und eine ‚Schwächung' der Elemente der Katholizität möglich sind. Im Augenblick ist im ÖRK das Bestreben vorhanden, sich mit einer ‚unvollständigen Koinonia' zufriedenzugeben, die bestehende Spaltung als normales und schwaches Maß an Gemeinschaft zu stabilisieren, den erlangten Status der ‚Gemeinsamkeit' in den Konzeptionen einer ‚unvollständigen (wachsenden) Gemeinschaft', einer ‚beispielhaften Vielfalt' zu fixieren. Die heutige Ökumenische Bewegung befindet sich in einer Krise. Ursache dafür ist die Abschwächung im Streben nach Einheit, die Abschwächung in der Bereitschaft und im Willen zur ‚Umkehr', zur katholischen Erneuerung. Gerade dies veranlaßt in erster Linie die Russische Orthodoxe Kirche dazu, ihr Verhältnis zum Weltrat der Kirchen zu überprüfen. Die negativen Tendenzen im ÖRK führen dazu, daß die Russische Orthodoxe Kirche sich vor die Notwendigkeit gestellt sieht, bereit sein zu müssen, ihren Status in den Beziehungen zum ÖRK zu ändern. Allerdings sollte ein solcher Beschluß erst getroffen werden, wenn alle Mittel zur Wandlung im Charakter des ÖRK voll ausgeschöpft sind.

Aus dem Buch "Freiheit und Verantwortung im Einklang"

Veröffentlicht mit der freundlichen Genehmigung von Prof. Dr. Barbara Hallensleben

Quelle: Портал Богослов.Ru

Nach oben

ZURÜCK

DER ORTHODOXE KALENDER

HEUTE

 

 
 

 

 


"Мысли на каждый день года" свт. Феофана Затворника

<PATRIARCH> <ERZBISCHOF> <PFARRER> <GOTTESDIENSTE> <KIRCHENGEMEINDE> <ANDERE PFARREN> <GEBETE> <BIBLIOTHEK> <PUBLIKATIONEN> <IKONEN> <LINK-KOLLEKTION> <FOTO-KOLLEKTION> <KONTAKT> <LAGEPLAN> <DEM SPENDER> <IMPRESSUM>

Russisch-orthodoxe Kirchengemeinde zu Mariä Schutz in Graz (Moskauer Patriarchat)
Schatzkammerkapelle, Mariahilferplatz 3, 8020 Graz
Telefon des Pfarrers: +43 676 394 73 34
***
Diese Website in beiden Sprachvarianten wird nach dem Segnen von Seiner Hochwürdigsten Eminenz Erzbischof Mark herausgegeben

E-Mail: Bitte hier klicken!

Aktualisiert: 21.07.2010

© Ðóññêèé Ïðàâîñëàâíûé Ïðèõîä Ïîêðîâà Ïðåñâÿòîé Áîãîðîäèöû â Ãðàöå (Ìîñêîâñêèé Ïàòðèàðõàò)

 

Design & Produktion © Andrej Sidenko

gratis Counter by GOWEB